Als wandelbares Konzept setzt Pop seine eigene Freiheit immer wieder neu in Szene. Doch zwischen Pop als schöpferischer Freiheitspraxis und Pop als einem individuellen (Pseudo‑)Recht auf Freiheit tun sich Abgründe auf. Der Skandal um den BBC-Showmaster Jimmy Savile zeigt, wie jemand die Pop-Faszination der 50er, 60er und 70er Jahre in Großbritannien als sein individuelles Mittel benutzte, um das zu bekommen, was er wollte: Zugang zu Minderjährigen. Ausgerechnet »Top of the Pops«, die Traummaschine für Teenager, gab Savile die ›Aura der Macht‹, gegen die sich die von ihm belästigten und vergewaltigten jungen Frauen und minderjährigen Mädchen – ein paar Jungen waren auch darunter – nach eigener Aussage nicht zur Wehr setzen konnten. Ein Armutszeugnis für den Gedanken der Dehierarchisierung, den Pop doch transportiert.
»Woman is the Nigger of the World« sangen John Lennon und Yoko Ono in den 1970er Jahren. Im Hinblick auf Saviles Plantagenbesitzer-Habitus bekommt dieser feministische Pop-Slogan noch mal eine ganz neue Wendung. Die Hippies und die Glamrocker haben zwar auf der einen Seite freie Liebe und Emanzipation durch Pop gepredigt, auf der anderen Seite aber ihren Machismo auf die Spitze getrieben. Schließt eure Töchter weg, jetzt sind wir in der Stadt, rockten AC/DC, und dieses andere ›Klima‹, das jetzt immer wieder von der BBC beschworen wird, ein Klima, in dem Übergriffe als anti-spießig nobilitiert wurden, fand ein krasses Bild in dem 1976er-Cover des Scorpions-Albums »Virgin Killer«, auf dem die minderjährige Nichte des Grafikers nackt posierte. Der Gedanke des ›Da-ist-doch-nichts-dabei‹, der die Siebziger mit ihrem Anti-Spießer-Reflex prägte, ruft ebenfalls Erinnerungen wach an Gerold Becker, den glamourösen Star der Reformpädagogik und Leiter der Odenwaldschule, der immer so tat, als wäre nichts dabei, seine minderjährigen Schüler anzufassen.. Das ist der Abgrund der Freiheit, der krasse Gegensatz zu Pop als Selbstermächtigungsinstrument – Pop und sexuelle Reform als Instrumente, um andere zu erniedrigen und gegen sie die eigene Freiheit durchzusetzen; mit anderen Worten: um sie zu vergewaltigen.
Die eigene Freiheit: Frei zu sein von bürgerlichen und christlichen Moralvorstellungen, ist es nicht das, wofür Pop für viele steht? Keine bessere Eintrittskarte als der Glamour der Stars ist im Pop vorstellbar, um in die ›freie Welt‹ hereinzukommen, eine Welt jenseits der Gesetze: Nein, »Neverland« war nicht der Versuch, an kleine Jungen heranzukommen, sondern nur der Versuch, Kinderträume wahr werden zu lassen; nein, das gemeinsame Duschen in der Odenwaldschule war nicht Missbrauch durch den Oberreformpädagogen, sondern nur anti-autoritäres Verhalten; nein, Jimmy Savile hat den labilen jungen Mädchen aus der Psychiatrie nichts angetan, er wollte nur Träume erfüllen, nicht Alpträume erschaffen. Spin-Doctoren, Netzwerke und PR-Agenten sorgen dafür, dass der Star ins Recht gesetzt wird. In sein Recht. Die ausgelebten Machtgelüste der Stars sind die Kehrseite des Pop-Glamours. Ich glänze, also seid ihr. Der Star, das ist der Potentat im Pop – daher könnte man zynisch festhalten: Es ist nur folgerichtig, dass Savile geadelt wurde.
Kann man aber den Fall Savile und die Missbrauchsfälle in der Odenwaldschule über einen Kamm scheren? Zumindest geht es bei beiden um Machtpositionen, die ausgenutzt werden, um eine Art Wirklichkeitsverlust, sodass man nicht mehr nur die eigenen Grenzen austestet, sondern auch die der Mitmenschen. Aber welche Rolle spielt der Rock’n’Roll und dessen Liebe zu minderjährigen Mädchen? Die Erfindung der Jugend als marktwirtschaftliches Konzept ging damit einher, dass für die Stars der Szene Jugend zu einem begehrenswerten Faktor wurde. Jerry Lee Lewis hat bekanntlich seine 13-jährige Cousine geheiratet, und auch Priscilla war erst 14, als Elvis sie kennenlernte: Sweet little Sixteen, das Thema so vieler Songs, ist auch deswegen ein Thema, weil damit das »age of consent« erreicht wurde, also das Alter, in dem man Sex haben durfte. Das Besingen von 16-jährigen Mädchen im Rock’n’Roll ist also eigentlich nichts anderes als das Besingen des Wunsches nach Geschlechtsverkehr – verklausuliert. Nur: Der Pop ist alt geworden und damit auch dessen Protagonisten, wie eben Jimmy Savile. Heute muss man sich fragen, warum im Pop die jetzt 60‑ oder 70‑Jährigen noch immer diese Lust auf Körperkontakt mit 16-Jährigen verspüren. Und war es diese Geilheit auf den süßen Vogel Jugend, der in den 1970er Jahren den Sänger der – ausgerechnet – The Mamas and the Papas – dazu brachte, über Jahre mit der eigenen Tochter zu schlafen? Ist das eine Pop-Form eines archaischen Ritus: früher aß man das Herz eines starken Kämpfers, um selbst stark zu sein, heute schlafen Popstars mit ihren Töchtern, um für immer jung zu bleiben? Klingt over the top.
In den 1970er Jahren hob dieses Phänomen durch die sexuelle Befreiung so richtig ab. Zwei Vorstellungen fielen zusammen: Der Rock’n’Roll als ›animalische‹ Kulturform und eine extreme Position innerhalb der Linken, die eine Zeit lang unter anderem in der deutschen Zeitschrift »Konkret« vertreten wurde: Pädophilie sei ebenso ein Zeichen der Emanzipation von bürgerlichen Moralvorstellungen wie Homosexualität, und wer die Rechte der Schwulen und Lesben vertrete, müsse auch für ›Sex‹ mit Kindern sein – nun, das war, bevor ans Licht kam, dass sich der »Konkret«-Herausgeber ebenfalls wegen Kindesmissbrauchs verantworten musste.
Und das alles im Namen der Freiheit? Nein, so viel Freiheit muss nicht sein, das hat man inzwischen auch verstanden und eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Überspitzt ausgedrückt: Der Pop ist in den letzten vierzig Jahren den Weg gegangen, den auch Alex in »Clockwork Orange« gegangen ist: Vom gewaltsamen Einbrecher in die schöne heile Welt des Spießbürgers hat sich der renitente Pop-Held hin zum Muster an Disziplinierung entwickelt. Jeder Popstar, der mehr als ein Bier am Abend trinkt, muss in die Rehab. Pop in der Disziplinargesellschaft oder, wie man seit zehn Jahren wohl eher sagen kann, in der Performancegesellschaft kann sich keine Durchhänger mehr leisten.
Dennoch müssen und dürfen die »Sexkinder« (Mark Greif) immer noch ihren Dienst ableisten in der Popkultur. Teilweise in der medialen Wirklichkeit – Britney Spears oder Tatu –, teilweise im Imaginären. Denn hier lässt sich der Zusammenhang zwischen Pop und Kindesmissbrauch finden: Pop als eine Ästhetik der Oberfläche braucht den perfekten Teenagerkörper wie Dracula das Blut. Natürlich nicht in Wirklichkeit – oder wenn es doch der Fall ist, dann ist das kriminell und muss verfolgt werden –, sondern in der Fantasie. Die Verjüngung der eigenen Körper durch Fitness und Schönheitsoperationen ist die Weiterentwicklung einer radikalen Ästhetik der Oberfläche, die in den 1950er Jahren mit den »Sweet Sixteen« begann. Es scheint sich um fast heidnische Rituale zu handeln, die nur einem Zweck dienen: die eigene Sterblichkeit zu überdecken. Doch diese Freiheit, das müssen auch die Glamrocker einsehen, kann sich kein Mensch nehmen.