Politische Alternativen aus der Pop-Perspektive
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 3, Herbst 2013, S. 113-129]
Eine Wahlempfehlung nach dem Vorbild angelsächsischer Zeitungen wird hier nicht folgen, auch keine umfangreiche Diskussion einzelner politischer Vorhaben. Die Ansicht, es gebe keine Wahl, soll aber keineswegs vertreten werden. Ein deutsches Nachrichtenmagazin druckte im Mai den Beitrag eines Autors ab, der in seinem letzten vielbeachteten Buch das Wort vom Konsum- und »Wellness-Gulag« prägte. Für ihn gibt es keinen Unterschied zwischen CDU, FDP, SPD, Grünen, Linke, deshalb rief er zur Wahlenthaltung auf. Bei solchen Parteiengegnern lohnt es sich, die Wahl aus einer grundsätzlichen Pop-Perspektive nicht unbeachtet zu lassen (dies ist wenigstens meine Überzeugung, ich spreche nur für mich, nicht für die anderen Herausgeber dieser Zeitschrift).
Denn dass keine Wahlmöglichkeit existiere, alles gleich – gleich schlecht – sei, diese Aussage kennt man hinlänglich aus der kultur- und vor allem popkulturkritischen Tradition. Zuverlässig weisen entsprechende Einlassungen auf die geringe Vertrautheit des Urteilenden mit seinem Gegenstand hin. Eingeräumt sei gerne, dass man aus solchen Erfahrungen kein Gesetz ableiten kann. Manchmal sind tatsächlich alle angebotenen Alternativen schlecht, die Unterschiede zwischen ihnen ohne großen Wert.
Aber auch in solchen Fällen verbietet sich die Überlegung, ob es wirklich vollkommen sinnlos oder kompromittierend ist, zwischen ihnen eine Wahl zu treffen, nicht von vornherein. Zumindest für Leute, denen es wichtiger ist, in einer leicht besseren Gegenwart zu leben als auf eine verheißungsvolle Zukunft zu setzen, dürfte es verlockend sein, unter vorliegenden Alternativen zu wählen. Das bleibt freilich eine zweifelhafte Einstellung, denn die Gegenwartsfixierung kann nicht allein eine utopische, sondern auch eine greifbare bessere Zukunft verstellen.
Im speziellen Fall kommt jedoch hinzu, dass eindrucksvolle historische Erfahrungen mit einer Parteienkritik vorliegen, die im Zeichen der Konsum-, Kultur- und Wachstumskritik erfolgt. Deutschland kann in dieser Hinsicht auf eine über hundert Jahre alte, unrühmliche Tradition zurückschauen. In der deutschen Kulturkritik vom Ende des 19. Jahrhunderts bis über die nationalsozialistische Zeit hinaus verband sich die Kritik an der Kommerzialisierung, Verstädterung, Verweltlichung, an der Vorherrschaft von Vernunft und Routine, an Nützlichkeitsdenken und Pragmatismus, an Materialismus und Mechanisierung, an Liberalismus und Parlamentarismus, an egoistischem Parteiwesen und Mangel an politischer Führung mit der Klage über die gleichmacherischen Tendenzen der Massengesellschaft und über den Verlust völkischer Einheit.
Die »deutsche Geselligkeit« habe sich »veräußerlicht«, bedauerte Julius Langbehn 1890 in dem damaligen Bestseller »Rembrandt als Erzieher«. Teile der Bevölkerung verlangten »materiell« zu viel, leisteten »ideell« zu wenig, »Vergnügungssucht« überwiege. Trotz dieser betrüblichen Diagnose setzte Langbehn unentwegt darauf, dass »dem kosmopolitischen Materialismus, Skeptizismus, Demokratismus« der »deutsche Idealismus, der deutsche Glaube, der deutsche Aristokratismus« erfolgreich entgegenwirken werde.
Anders gesagt, ging es um den Gegensatz von »Händlern und Helden«, wie Werner Sombarts einschlägiger Titel aus dem Jahr 1915 lautet. Sombart stellte seine Antithese in kulturkämpferischer Absicht nicht zufällig zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf. Wo Feind, wo Freund steht, musste man nicht fragen. Sombart verurteilte das »hundsgemeine« Ideal der englischen Händler-Utilitaristen »›vom Glück der größten Anzahl‹«, um die deutschen Helden zu feiern und ins Recht zu setzen.
Die unmilitärische Orientierung an der »Kommerzialisierung« verachtete Sombart an den Engländern. Glück sei für den Engländer »›Comfort‹ mit ›Respectability‹«, hielt Sombart leicht angewidert fest, um den Reigen unheldischer Vorlieben anzuprangern: »›Apple-pie‹ und Sonntagsheiligung, Friedfertigkeit und ›Foot-ball‹, Geldverdienen und Muße für irgendein ›hobby‹«.
Da solch ein bequemes »kleines, bißchen Leben« im Grunde »das Tote« sei, ist der Krieg der deutschen Helden also recht besehen eine lebensspendende Mission, als Feldzug gegen »Materialismus« und »Komfortismus« ein Einsatz für jene »wahre« Kunst und »geistige« Kultur, die den Engländern fehlt. Eine Gefahr stellt dieser Kampf nicht dar, denn gegen das unorganische, individuell differenzierte England könne das nicht nur im Krieg, aber besonders durch den Krieg vereinte deutsche »Volk« nur gewinnen, wusste Sombart sicher.
Nach 1945 konnten diese grauenhaften Reden nicht mehr weitergeführt werden, der Sieg der Alliierten bereitete ihnen ein Ende. Mit der deutschen Niederlage kam der Einsatz gegen die materialistische Einstellung jedoch nicht zum Erliegen. Mit dem Krieg und dem Ruf nach ihm ließ sich der Anti-Materialismus zwar nicht mehr verbinden, er fand aber genügend andere Ansatzpunkte, griff in viele politische Richtungen aus. Nicht nur gegen totalitäre Massengesellschaften wurde er in Stellung gebracht – zur sauberen Distanzierung von der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit und zur Frontbildung wider den neuen kommunistischen Feind eignete er sich sehr gut –, sondern auch zur einigermaßen zurückhaltenden Kritik am neuen US-amerikanischen Hegemon.
Die Zurückhaltung bestand darin, den Angriff nicht aggressiv politisch, sondern auf dem Feld der Kultur zu führen. Hier glaubte man, auf gefahr-, aber keineswegs wirkungslose Weise Widerstände gegen das ungeistige und oberflächliche Amerika mobilisieren zu können. Dies stellte sich jedoch im Verlauf der 1960er Jahre als gravierender Irrtum heraus: Dank der studentischen und feuilletonistischen Begeisterung für Hollywoodfilme, Pop-Art und vor allem für Popmusik gerieten im Gegenteil die konservativen Anschauungen ins Abseits. Verurteilungen von Hedonismus, Bequemlichkeit und materialistischer Einstellung galten rasch als antiquiert und bekamen kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt.
Dadurch ist der traditionelle Ort solcher Vorwürfe heute ebenfalls in Vergessenheit geraten. Das wiederum ist bedauerlich, denn die Erinnerung an den Zusammenhang von Materialismus- und Bequemlichkeitskritik mit martialischen deutschnationalen Projekten sollte doch dazu beitragen, einen vor dem nächsten idealistischen Aufschwung zu bewahren. Zumindest kann ich mir nur schwer vorstellen, dass man nach Lektüre von Langbehn und Sombart noch frohgemut in den Ruf gegen Komfort und Materialismus einstimmt, wenn man nicht ohnehin eine reaktionäre Haltung einnimmt.
Anders pointiert: Der Pop-Anhänger sollte nicht nur wissen, dass seine Lieblinge in erster Linie aus England oder den USA kommen, eine antiwestliche Ausrichtung ihm deshalb kaum möglich sein dürfte. Der historisch informierte Pop-Fan könnte sogar wissen, dass seine Vorlieben schlecht mit Tiraden wider Bequemlichkeit und Sinnengenuss, aber auch mit grundsätzlichen Reden wider Parteieninteressen und Kommerzialismus zusammengehen. Das verschafft dem oberflächlichen, hedonistischen Pop-Anhänger für eine Wahl eine gute erste Orientierung.
Rock-Linke, Pop-Linke
Für die linksalternativen Kritiker ergibt sich aus dem historisch einschlägigen Zusammenhang von Kommerzialismuskritik und Gemeinschaftsstreben mit Nationalismus und Reaktion ein Problem. Einerseits wollen sie, wie schon viele Sozialisten, Anarchisten vor ihnen, weiterhin auf antikapitalistische, gemeinsinnige Entwürfe vertrauen, andererseits muss ihnen natürlich jede Übereinstimmung mit reaktionären Positionen verdächtig vorkommen.
Abgrenzungsversuche erfolgen ja bereits bei schwächeren politischen Unstimmigkeiten: Problematisch ist für linksalternative Kräfte – für jene einstmals Neue Linke genannte Gruppe, die im Gegensatz zur alten Linken an der westlichen Wirtschaft stärker die Entfremdung als die Ausbeutung anprangert – z.B. ebenfalls die seit den 1950er Jahren sichtbare US-amerikanische Jugendkultur, weil sie zwar nicht konservativ, aber auf den ersten Blick auch keineswegs immer systemkritisch erscheint.
Die Lösung fällt jedoch leicht. Indem sie beide Problemfälle aufeinander beziehen, können sie sich der Schwierigkeiten oftmals bestens entledigen. Die angestrebte Verbindung der linksalternativen Kräfte mit bestimmten, subversiv erscheinenden Teilen der Popkultur lässt die konservative Ausrichtung einiger ihrer Vorstellungen über weite Strecken einfach vergessen. Die Modernität und Jugendlichkeit der Popkultur fegt die alten Erinnerungen auf glückliche Weise hinweg.
Freilich ist damit der politisch uneindeutige Zug der Popkultur noch nicht beseitigt, dieses Problem muss immer wieder angegangen werden. Einerseits bereiten den politisch progressiv ausgerichteten Pop-Anhängern die grenzüberschreitenden, sinnlichen, hedonistischen Momente der Popkultur deshalb großes Vergnügen, weil sie mit ihnen – heute gerne unter dem Titel ›queer‹ – konservative Einstellungen wirkungsvoll herausgefordert wissen. Andererseits pflegen sie nur zu gerne selbst die Kritik an bequemer, oberflächlicher Unterhaltung, an kommerziellen Interessen und bürokratischen, kultur- und gemeinschaftsvergessenen Parteien. Folgerichtig bemühen sie sich, ihre affirmativen und kritischen Punkte miteinander zu verbinden. Zumindest wollen sie die Ansicht vertreten, beides sei miteinander verknüpfbar.
Deshalb gilt ihr Lob konsequent den unkommerzielleren Gegenständen, den besonders intensiven Augenblicken, den großen Gemeinschaftserlebnissen, den ihrer Ansicht nach kreativen, künstlerisch wertvollen Werken. Dem Glatten, Harmlosen, Funktionalen, Tanzbaren, leicht Konsumierbaren, Narzisstischen, Künstlichen, Konventionellen sagen sie im Umkehrschluss ab. Derart munitioniert, fällt es ihnen leicht, von den Kunstwerken und ihrem Publikum eine Brücke zur Politik zu schlagen: Auch die soll empathisch, gemeinschaftsinnig, aufrichtig, unegoistisch, übergreifend, engagiert, visionär, kreativ, unbequem sein.
Das geht alles gut auf und bietet eine tragfähige Grundlage, die Gegenwart mit einigem Selbstbewusstsein durchzumustern. Ein Problem dieser Richtung, für die Popkultur ein wichtiger Ausgangspunkt allgemeiner Positionsbestimmung darstellt, ist allerdings, dass der übliche Gebrauch des Pop-Begriffs sich gegen diese engere Bedeutung sperrt. Immer wieder treffen die Parteigänger der progressiven Kultur und Politik auf Artefakte wie z.B. Plastiktüten, Models, Teeniestars, Easy Listening, TV-Serienkomödien mit eingespielten Lachern, Freizeitparks, Shopping Malls, denen man nach durchgesetztem Sprachgebrauch nur schwer absprechen kann, zum Pop-Sektor zu gehören.
Als leichte Lösung bietet sich deshalb an, die eigenen, hoffentlich weniger oberflächlichen, glatten, banalen Favoriten davon markant abzusetzen. Begriffe wie ›Underground‹, ›Rock‹, ›Alternative‹, ›Independent‹, ›Singer-Songwriter‹ standen und stehen dafür ein. Pop wird darüber mitunter zum Schimpfwort.
Die kompliziertere Lösung – die Lösung der Pop-Linken – liegt darin, auch aus dem vom Rock abgespaltenen Pop-Teil einiges für die nonkonforme Richtung zu retten. Das besonders Hedonistische und Serielle drängt sich da geradezu auf, alles, das dem Angenehmen, dem Hobby und Komfort entläuft und zuwiderläuft. Es kommt darauf an, die intensiven, entgrenzten, maßlosen Seiten der Pop-Oberflächen und -Konventionen zu suchen und zu finden.
Historisch gesehen, hat die kompliziertere Lösung der Pop-Linken in den letzten dreißig Jahren unter Intellektuellen und Künstlern eine beachtliche Zahl an Verfechtern gewonnen. Die klarere Lösung – die Rock-Lösung – besitzt jedoch seit ihrem Aufkommen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bedeutend mehr Anhänger. Ihr Vorteil zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch die subversiv gestimmte Pop-Linke ihre Favoriten gerne mit Vokabeln und Eigenschaften wie ›gegen den Mainstream gerichtet‹, ›alternativ‹, ›unkommerziell‹ etc. bedenkt.
Aus Sicht des Rock-Anhängers gibt es darum eindeutige Leitlinien, wie eine Wahl ausfallen muss: zur unbequemen, unvermittelten, gemeinschaftlichen Seite hin. Nähme der Pop-Fan jene Trennung zwischen Rock und Pop ernst, die zu Beginn von der Rock-Seite und später, vor allem ab Beginn der 1980er Jahre, auch von selbstbewussten Pop-Fraktionen aufgestellt worden ist, bekäme er folglich ebenfalls einen deutlichen Maßstab an die Hand: selbstverständlich genau den umgekehrten, hin zur wenig intensiven, mitunter auch mal egoistisch interessegeleiteten Seite hin.
Er müsste sich dann freilich von den Subversionsvorstellungen trennen, als Preis bzw. Garant der Eindeutigkeit. Das dürfte aber vielen schwer fallen, selbst wenn (bzw. gerade weil) subversive Wirkungen im Pop-Bereich kaum außerhalb der Wünsche und Vorstellungen von Studenten und Feuilletonisten anzutreffen sind.
Politik des Privaten
Die Rock/Underground/Alternative-Lösung kann sich tatsächlich zugutehalten, mit einem erfolgversprechenden politischen Konzept im Bunde gewesen zu sein. Der Zusammenhang mit den linken und libertären Kräften seit Mitte der 60er Jahre bestärkte beide. Auf längere Sicht konnte freilich das linksalternative Projekt davon nicht in großem Stil profitieren, trotz der kontinuierlichen Durchsetzung der Rockmusik. Auch wenn viele Rockhörer heute nach wie vor das Aufrichtige, Engagierte, Unkommerzielle als Werte bevorzugen, leiten sie daraus kaum noch die Notwendigkeit einer tiefgreifenden und schon gar nicht einer revolutionären Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ab, wie das nicht wenige ihrer Vorläufer Ende der 60er und im Laufe der 70er Jahre taten.
Dies kann sich vielleicht beizeiten wieder ändern, wer will es genau vorhersagen? Prognosen in dem Bereich haben in der Vergangenheit nicht die höchste Treffsicherheit bewiesen; auch Mitte der 1960er Jahre war in der BRD allenthalben die Rede von einer gemäßigten, unpolitischen Studentengeneration. Ohne jeden Zweifel fest steht aber nach der Rockgeschichte, dass Engagement gegen das Bequeme und Materialistische nicht nur unter rechtem Vorzeichen stattfinden muss. Auf Nation und Führer, Krieg und Volksgemeinschaft haben die linken und alternativen Rockfreunde nun wirklich nicht gesetzt.
Das verlieh ihrer Position große Überzeugungskraft, ließ es doch weitgehend vergessen, in welch starkem Maße ihre kulturellen Ideen mit reaktionären Überzeugungen verträglich waren. Wie sollte man auch darauf kommen? Zwischen Jimi Hendrix und dem Rembrandt-Deutschen, Nirvana und dem Thomas Mann des Ersten Weltkriegs liegt für Auge und Ohr überhaupt kein sinnlich erfahrbarer Zusammenhang.
Geht man abstrakter an die Sache heran, zeigen sich aber sehr wohl Übereinstimmungen. Wir haben sie bereits benannt: Gemeinsam ist ihnen die Kritik an materialistischer Einstellung und an der Verfolgung von Interessen, die ohne die Berufung aufs Allgemeinwohl und höhere Werte auskommen. Erhöht man den Abstraktionsgrad, erkennt man eine weitere wichtige Gemeinsamkeit zwischen den alternativen Rock- und Pop-Anhängern und den rechten Geistern aus der versunkenen Vergangenheit: Beide setzen auf Kultur anstelle politischer Verfahren. Politik als Geschäft, als Verwaltungsarbeit, als Parteienstreit, als Verlängerung von Lobbyarbeit, als Sphäre hierarchischer und arbeitsteiliger Organisationen misstrauen sie zutiefst, stattdessen setzen sie auf Grundüberzeugungen, auf deutliche Einsicht, auf Gemeinschaft und Ideale, Zusammenhalt und uneigennützige Ehrlichkeit.
Beide setzen folgerichtig auch nicht nur auf den politisch engagierten Bürger als Gegenstück zum berufsmäßigen Politiker. Sie wollen mehr als nur jenen Bürger beeinflussen, der in der Öffentlichkeit agiert. Zumindest ist nicht nur er der Gegenstand ihrer Überlegungen und Hoffnungen. Bei den Konservativen geschieht die Weiterung über die Öffentlichkeit hinaus im Namen der Moral und der Kultur, des in ihrem Sinne Unpolitischen. Bei den Linksalternativen erfolgt es umgekehrt unter der Devise, dass auch das Private politisch sei. Die Unterschiede der angestrebten Lösung fallen ebenfalls beträchtlich aus: Die einen streben autoritär gebundene Lebensformen an, bei den anderen dominieren antiautoritäre Bestrebungen.
Einig sind sie aber darin, dass es wichtig sei, den ganzen Menschen zu erfassen. In dieser Hinsicht spielt es keine Rolle, ob er autoritär oder antiautoritär ausgerichtet sein soll. Es kommt beiden darauf an, die Trennung von Privatem und Öffentlichem zu überwinden. Sie beurteilen nicht nur die politischen Einstellungen und die öffentlichen Handlungen der Einzelnen auf diese oder jene Weise, sie unterziehen auch und gerade die alltäglichen Vorlieben, die Hobbys, die Geschmacksrichtungen, die künstlerischen Aktivitäten einer strengen Bewertung. Sie auf bestimmte Weise ausgeprägt zu wissen bildet für beide gleichermaßen die Grundlage oder wenigstens eine wichtige Säule, auf der eine richtige Kultur oder Gesellschaft ruht.
Solange sie nicht in der von ihnen erwünschten Kultur oder Gesellschaft leben, müssen sie folgerichtig viele ihre Kräfte dafür einsetzen, die gegebenen alltäglichen und kulturellen Dispositionen und Präferenzen zu kritisieren. Diese Kritik besitzt keinen akademischen Charakter, sie geht vielmehr darauf aus, den Alltag umzumodeln. Wichtig ist für sie nicht (oder nicht nur) die Forderung nach vergrößerten oder verringerten Mitbestimmungsmöglichkeiten, verbessertem oder reduziertem Versicherungsschutz, aufgestockten oder kleineren Militärbudgets, verstärkten oder gelockerten Kontrollen exekutiver Abläufe usf. Ihre Absicht, Änderungen herbeizuführen, geht zwingend mit dem Bemühen einher oder sogar manchmal alleine von dem Grundsatz aus, ins Alltagsleben außerhalb von Betrieben und staatlichen Institutionen einzugreifen.
Die Eingriffe sollen – das macht den Unterschied zu konkurrierenden politischen Ansätzen überaus deutlich – auf Ebenen und in Bereichen stattfinden, die liberale Kräfte von gesetzgeberischen Direktiven gerade ausnehmen wollen. Dem konservativen Verlangen, im Alltagsleben Moral, Ordnung und Gemeinsinn zur Geltung zu bringen, entspricht das linksalternative Bemühen, politisch bewusste, verantwortungsvolle Lebensformen ebenfalls nicht ausschließlich auf dem Gesetzeswege hervorzubringen.
Darum sind beiden Pop-Phänomene in einer Hinsicht verdächtig: Die unverantwortlichen und oberflächlichen Züge der Popkultur widerstreben ihren Ansätzen und Zielen. Über dieser Frontstellung verkehren sich ältere Anschauungen teilweise oder ganz. Unternahmen die Konservativen des 19. Jahrhunderts noch große Anstrengungen, ihre Kinder vom Staat (von staatlichen Schulen) fernzuhalten, sehen sie ihre Zöglinge nun stärker von privatwirtschaftlichen Sozialisationsagenten der Unterhaltungsindustrie bedroht.
Noch vor den speziellen Ausprägungen ästhetischer Oberflächlichkeit und egoistischer Unverantwortlichkeit stört heutige Konservative der Versuch, sich nach Schule oder Arbeit abzusondern, diesen Einrichtungen rasch zu entfliehen, sich über sie (bei begüterten Konservativen vorzugsweise wieder das Internat) zu amüsieren oder sie zeitweilig zu vergessen. Die Lösung von den täglichen Pflichten missfällt ihnen grundsätzlich, aber auch Linksalternativen gefällt sie nur, wenn diese Abkehr mit einer entschiedenen Wendung gegen jene bestehenden Verhältnisse einhergeht, die sie selber ablehnen. Eine ›Flucht‹ ins komfortable, anspruchslose Privatleben erscheint ihnen gleich als eine Art Verrat.
In einer nach linksalternativen Vorstellungen verwirklichten Gesellschaft wäre selbst ein radikalisierter Hedonismus wohl nicht gerne gesehen. Vorher stellt er aber den wichtigen Ausgangspunkt dar, um sich von neulinker Warte aus – die ebenfalls die Position der Pop-Linken darstellt – dem Pop-Sektor zu nähern. Das Ziel in diesem Fall: Freizeit- und Privatleben müssen mit den momentan herrschenden Verhältnissen unvereinbar werden. Darum ergeht eine ständige Kritik an Versuchen, das Privatleben als Ausgleich, Ruhezone, Schutzbereich zu etablieren.
Die Kritik fällt auch deshalb derart harsch aus, weil die Neuen Linken gar keinen nennenswerten Unterschied zwischen Arbeits- und Privatsphäre erkennen können. Beide sind aus ihrer Sicht durch ähnliche Mechanismen der Standardisierung, kompetitiven Selbstdarstellung, Distinktionslogik, externen Beaufsichtigung oder verinnerlichten Aktivitätsregister geprägt. Den Unterschied, weshalb die Mehrzahl der Menschen lieber in Vergnügungs- als in Arbeitsstätten geht, können sie damit allerdings nicht recht erklären. Umso energischer fällt oftmals ihre Abneigung gegen erstere Orte aus; ob sie nun von Adorno oder Foucault herkommen, spielt oft keinen großen Unterschied.
Auch die Cultural-Studies-Anhänger bleiben als Neue Linke kenntlich. Sie lenken zwar als Pop-Linke gerne den Blick auf die popkulturellen Vergnügungen, aber es muss für sie gleich eine Politik des Vergnügens sein. Dem Bewusstsein, dass im Privaten und in der Freizeit andere Maßstäbe gelten als in der öffentlichen und beruflichen Sphäre, können diese Linksalternativen wenig abgewinnen, solange es nur zur Folge hat, diese anderen Maßstäbe im Privaten aufrechtzuerhalten und so gut es geht gegen systemische Anforderungen zu verteidigen – und nicht die Konsequenz gezogen wird, trotz einigermaßen zufriedenstellender Freiheitsspielräume in Freizeit- und Privatsphäre für eine gesamtgesellschaftliche Änderung einzutreten, um größere Lust- und Intensitätsansprüche auch dort in Anschlag zu bringen.
Wenn Pop als angenehme, reizvolle, bunte, ablenkende, funktionale, harmlose, amüsante, modische, raffinierte oder verspielte Unterhaltung daherkommt oder aufgefasst wird, müssen Linksalternative folgerichtig insgesamt besorgt sein. Aber auch die entgrenzenden, intensiven Ereignisse der Popgeschichte können nicht von vornherein auf ihre Sympathie stoßen, falls sie auf die Freizeit beschränkt bleiben und keine Auswirkungen über das Privatleben hinaus besitzen – falls sich der T-Shirt-Träger mit den satanistischen Symbolen oder dem Guevara-Emblem als gemütlicher Bierchentrinker entpuppt oder der Dauertänzer am Morgen doch zur Arbeits- oder Ausbildungsstätte zurückkehrt.
Seien es nun moralische oder politische Antriebe, in dem einen wie dem andern Fall können Konservative wie Linksalternative jenem Freizeit- und Privatleben, das unter dem Zeichen des unterhaltsamen, oberflächlichen Pop steht, keinen eigenen Wert zusprechen. Aus Sicht einer entpolitisierten konservativen und einer politisierten neulinken Kultur bildet der oberflächliche, aufs private Vergnügen konzentrierte Pop-Sektor einen Bereich, der verkleinert oder überformt werden muss.
Ob man selber den aktuellen Pop-Bereich verengen oder erweitern, ob man die durch Pop geprägte Freizeit verkleinern oder vergrößern möchte – das steht zur Wahl oder kann jederzeit auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. Wenn man diesen Punkt für wichtig hält, gibt einem die Alternative einen guten Anhaltspunkt für die eigene Entscheidung.
Schlechte Zeiten Gute Zeiten
Sind bislang bloß die Positionen der Konservativen und Neuen Linken herausgestellt worden (die beim Reden über Pop-Phänomene eine Vorrangstellung einnehmen), lässt sich der letzte Punkt auch leicht auf jene sozial- und christdemokratischen Parteien beziehen, in denen konservative und neulinke Anliegen kaum mehr heimisch sind oder nie recht Fuß fassen konnten. Beim Lobgesang der Bildung wollen sie sich von den konservativen und linksalternativen Gruppierungen allerdings nicht übertreffen lassen.
Bildung, das zielt bei ihnen jedoch nicht (oder nicht nur) auf traditionelle Ganzheits- oder moderne Kreativitätsvorstellungen, sondern auf staatliche Aufsicht. Die Verlängerung der Schulzeiten in den späten Nachmittag hinein spricht Bände, ebenso der Druck, das Studium (im Rahmen einer Pseudo-Ordnung überwiegend sinnloser Modulanordnungen) zügig zu durchlaufen, um rasch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen.
Die Beschneidung freier Zeit durch solche Bildungsmaßnahmen kommt den konservativen und linksalternativen Bedenken gegenüber dem unverantwortlichen Pop-Vergnügen auf höchst wirkungsvolle Weise entgegen, ohne natürlich ihren inhaltlichen Forderungen, wie ein richtiges Leben auszusehen habe, immer zu entsprechen. Eine gravierende Übereinstimmung gibt es aber, sie schließt die heutigen wirtschaftsliberalen Initiativen ebenfalls vollgültig ein. Wie den früheren kulturkritischen Konservativen missfällt ihnen allen, auch den Christ- und Sozialdemokraten, der »Komfortismus«, um noch einmal das alte Wort von Werner Sombart zu bemühen.
In starkem Gegensatz zu ihren Vorläufern verbinden sie damit freilich keinen Widerspruch zum Händlertum mehr. Einen martialischen Unterschied zu den Sitten und Lebensweisen anderer Völker und Nationen entdecken sie ebenfalls nur noch selten. Stattdessen malen sie in ständig erneuerten Krisenpanoramen aus, in welch schlechtem Zustand sich die eigene Nation befindet. Die Bequemlichkeit hier drohe wegen der Konkurrenz entsagungsvoller, aufstrebender oder grundsätzlich leistungsbereiter Wirtschaftsnationen in den Untergang zu führen. Äußerst kritische Prognosen zur fernen Zukunft ergeben zumindest für die Gegenwart ein präzises Bild: Renten, Löhne, Leistungen im Krankheitsfall, das alles sei viel zu hoch angesetzt und bedrohe deshalb nicht nur minimal das Vermögen der Besitzenden, sondern das Leben der Nation insgesamt.
Deshalb verlangen sie den abhängig Beschäftigten stets aufs Neue Zurückhaltung bei Gehalt und Sozialleistungen ab. Ob Japan, China, Polen, USA, England, Indien – so unterschiedlich sie auch sein mögen, sie alle konnten in der zurückliegenden Zeit jeweils für ein paar Jahre als Drohbeispiel fungieren, als Musterexempel für eine wagemutigere, darum angeblich erfolgreichere, wettbewerbsfähiger zugerichtete Bevölkerung.
In fast schon komischem Kontrast zu den ständig beschworenen Menetekeln ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt zwar in den letzten drei Dekaden mit kleinen Unterbrechungen Jahr für Jahr jeweils langsam angestiegen, dennoch kann man sicher vorhersagen, dass sich davon auch in Zukunft niemand der unerschrockenen Denker von Mahnungen und Warnungen tiefster und nachhaltigster Art abhalten lassen wird.
Kein Argument ist diesen Ertüchtigungsreden zu trivial, Hauptsache, der Einsatz beim Spiel ›Schlechte Zeiten Gute Zeiten‹ bleibt hoch. Selbst das abgegriffene Wort, nach dem Geld einen nicht glücklich mache, wird in den letzten Jahren wieder vermehrt angebracht – dies nicht etwa mit Blick auf Leute, die wenigstens Hunderttausend Euro im Jahr zur Verfügung haben, sondern als gutgemeinter Rat an ›uns alle‹, doch nicht so viel und gar immer mehr von Unternehmern und Staat zu verlangen. Da können ›wir‹ selbstverständlich nur zustimmen, voller Freude über derart ›unbequeme Wahrheiten‹.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Geschichte, dass die wirkungsvollsten Vollstrecker dieses Programms in Deutschland Grüne und Sozialdemokraten waren und erst die Beschäftigung mit dem eindrucksvollsten Effekt dieses Reformwerks – die große Finanzkrise 2008ff. – wieder hauptsächlich den Christ- und Liberaldemokraten zukam. Soll also keiner sagen, mit der Popkultur ließe sich kein verantwortungsbewusster, überparteilicher und zugleich dynamischer Staat machen; Turnschuhrebell Fischer und RTL-»Gute-Zeiten-Schlechte-Zeiten«-Darsteller Schröder haben es eindrücklich unter Beweis gestellt, anerkennende Worte der jetzigen Regierungskoalition sind ihnen deshalb heutzutage sicher.
Zu den Pflichten der öffentlich-rechtlichen Ausgewogenheit zählt es aber, auch auf die (noch) unverantwortlichere Seite der Popkultur hinzuweisen, bei der Liberalisierung und Reform nicht in einer Ausweitung der Arbeitszeit und verringerten Bezügen aufgehen. Das Fazit fällt darum leicht: Selbst unter den Beschränkungen einer weitgehend unpolitischen Pop-Perspektive besitzt man hinreichend Möglichkeiten zur Wahl.
Der Aufsatz ist in diesem Heft der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik« erschienen.