Welchen Beitrag die Kneipe Freak-Show in Steele für die Entwicklung von Punk im Ruhrgebiet geleistet hat, bleibt weitgehend unklar
Um es gleich vorweg zu sagen: Ich habe eine Menge eigener Erfahrungen und Meinungen zum Thema Punk im Ruhrgebiet und wenn ich ein ähnliches Buch wie das hier besprochene geschrieben hätte, wäre es vermutlich ganz anders geworden. Und anders als im Fall einer Auswertung der Bevölkerungsstatistik oder der Organisation eines Versuchs in der Experimentalchemie ist das auch kein Problem. Denn das Buch von Dennis Rebmann und Philip Stratmann ist kein wissenschaftliches Projekt im engeren Sinne. Es ist aber auch kein Fanzine, das sich allein der Huldigung (oder auch dem Verreißen) mehr oder weniger bekannter Medien und KünstlerInnen aus der Punkszene widmen würde.
Bis zur Veröffentlichung im August 2013 haben die beiden Autoren seit November 2011 an dem 270 Seiten starken Text gearbeitet. Auf Basis von 50 Interviews, zahlreichen Gastbeiträgen und einer Menge (meist ausgezeichneter) Fotos und anderem Bildmaterial bewegt sich das Buch an einer Schnittstelle zweier Publikationsstränge, die in den letzten Jahren an Popularität gewonnen haben. Hierbei handelt es sich einerseits um die (kulturwissenschaftlich wie belletristisch inspirierte) Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ruhrgebiets ‚von unten‘ (Springer et al. 2008; Welt 2006; 2009) und andererseits mit dem zunehmend intensiv bestellten Feld der Historie von Punk in Deutschland (Ryser 2012; Meinert/Seeliger 2013).
Der Text ist mehr oder weniger chronologisch gegliedert, allerdings bietet die zeitliche Abfolge keinen ganz einheitlichen roten Faden vom Anfang bis zum Ende des Buches. Stattdessen beginnt man irgendwo zwischen späten 1970ern und frühen 1980er Jahren und rekonstruiert anhand mehr oder weniger kohärent zusammengestellten Materials einen Plot von Punk im Ruhrgebiet. Diese Erzählung ergibt sich aus fragmentarisch zusammengestellten Teilberichterstattungen, die einerseits und zu einem guten Teil auf der Vorstellung unterschiedlicher Musikgruppen beruht.
Weiterhin umfasst der Text aber auch Abschnitte über Fanzines (und mit ‚Punkrockers Radio‘ sogar eine Internetaudiosendung) und Filme sowie zahlreiche halboffene Interviews mit Szenevertretern und eine standardisierte Interviewrubrik. Einen weiteren Teil nimmt eine Reihe von Gastbeiträgen ein, die unterschiedliche Schlaglichter auf das Phänomen werfen. Zum Ende des Buches werden schließlich die Ergebnisse einer Umfrage visualisiert, im Rahmen derer unter anderem nach der wichtigsten Band und der wichtigsten Platte des Ruhrpott-Punkrock gefragt werden.
Schon die oberflächliche Lektüre zeigt: Der Text besitzt einen Doppelcharakter. Gegebenheiten und Entwicklung einer Szene und Subkultur in einem bestimmten regionalen Rahmen werden im Buch beschrieben und verherrlicht. Als vor allem historisch orientierte Darstellung ist der Text einerseits umfangreich, es werden viele Aspekte der zeitlichen Entwicklung von Punk im Ruhrgebiet abgedeckt.
Andererseits bleibt er aber auch, recht oberflächlich beziehungsweise willkürlich in seiner Vertiefung. So werden in einigen Interviews bestimmte Aspekte detailreich beschrieben (im Volksmund des Ruhrgebiet auch: ‚die ollen Dönekes auspacken‘, vgl. z.B. die Geschichte über die verbreiteten Eintrittsform in einen bekannten Veranstaltungsort über das Toilettenfenster). Der Grund, aus dem diesen Aspekten mit größerer Tiefenschärfe nachgegangen wird als anderen, wird allerdings nicht expliziert.
Der Text besteht aus einem Haufen subjektiver Schlaglichter und changiert dabei im Spektrum zwischen der ethnographischer Sensibilität einer ausgezeichneten materialistischen Analyse (die Beschreibung zahlreicher Fahrten im öffentlichen Nahverkehr, dessen Logistik Punk im Ruhrgebiet ermöglicht, oder die anschaulichen Darstellungen von Polizeirepression vor allem in den Anfängen) und dem redundant-aufdringlichen Stil eines schlechten Amsterdam-Reiseführers.
Dass die Geschichte von Punk im Ruhrgebiet gewissermaßen als Fortschreibung gängiger Regionalfolklore anmutet (Punker im Ruhrgebiet erscheinen streckenweise als Pendants zur Sozialfigur des ‚groben Malochers mit Herz‘), wirkt gleichermaßen wahr und undifferenziert, wie es dem Leser ähnlich kitschig und herzerwärmend erscheinen mag. Die mangelnde methodische Stringenz ist hierbei vollkommen unproblematisch (darf man sie überhaupt monieren?), denn es handelt sich bei dem Text ja nicht um eine wissenschaftliche Studie, sondern um ein Liebhaberprojekt.[1]
Bevor ich mich weiter unten in einigen Kritteleien ergehen werde, die man mir nicht übel nehmen darf, weil ich das Projekt nicht nur lobenswert und sondern im Ergebnis äußert gelungen finde, möchte ich ganz deutlich machen, dass das Buch zur Schließung einer Lücke beiträgt: Es gibt bisher keine systematische Zusammenstellung zu Punk im Ruhrgebiet, und eine solche legen die beiden Autoren vor. Wohlbemerkt: „beiträgt“. Denn vollständig geschlossen wird die Lücke natürlich nicht (welches einzelne Buch schließt eine Lücke vollständig?). Nun aber zu einigen kritischen Anmerkungen:
Geschichte von Punk im Ruhrgebiet wird von Rebmann und Stratmann im Wesentlichen als Geschichte weißer deutscher Männer geschrieben. Während das im Hinblick auf die ethnische Zusammensetzung der Szene auch weitgehend den Tatsachen entspricht (es gibt praktisch nur sehr, sehr wenige ausländisch-stämmige Punker im Ruhrgebiet), wäre eine stärkere Berücksichtigung von Frauencharakteren und ihren symbolischen Repräsentationen auch numerisch gerechtfertigt gewesen (sollte also jemand über Frauen und Post-Migranten in der Geschichte von Punkrock im Ruhrgebiet forschen wollen, unterstütze ich das!!).
Weitere Ungereimtheiten ergeben sich meiner Ansicht nach – und das ist vermutlich keine Überraschung, denn irgendwen/irgendwas vergisst man immer – in der Auswahl von Bands und Konzertlocations, die (angeblich) für die Entwicklung der Szene eine Rolle gespielt haben. Der Verfasser der oben genannten Rezension verweist z.B. zu Recht darauf, dass Cotzraiz vom Niederrhein stammen und eigentlich keinen unmittelbaren Ruhrgebietsbezug aufweisen. Welchen Beitrag die Kneipe Freak-Show in Steele für die Entwicklung von Punk im Ruhrgebiet geleistet hat, bleibt auch weitgehend unklar (vielleicht gehen die Autoren dort selbst gern ein paar Bier trinken?).
Das im selben Stadtteil angesiedelte Julius-Leber-Haus, das unter der engagierten Leitung von Jürgen Zips-Zimmermann als städtische Einrichtung Generationen regionaler Punker im ihrem Punker-Werden geprägt hat, bleibt stattdessen völlig unerwähnt. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau, schließlich kommt dieser Begründungsmangel in den besten akademischen Fach-Familien vor (am Türschild der Wohnsitze steht in der Regel der Nachname „Kulturwissenschaft“). Auf Grund seiner fragmentierten, teilweise unbegründet wirkenden Zusammensetzung mag man dem Buch als einen Mangel an Kohärenz unterstellen. Etwas pointiert könnte man sich das Vorgehen der Autoren möglicherweise als dem Sinnspruch folgend vorstellen „Lass mal überlegen, wen wir noch fragen können? Wäre der oder der nicht cool?“.
Auch die am Ende des Buches visualisierten Umfrageergebnisse zeigen: Das Buch ist eine Amateurveröffentlichung. Die farbenfroh illustrierten Diagramme am Ende sind in ihrer Unübersichtlichkeit die Karikatur einer bildhaften Darstellung statistischer Daten. Und wenn die Frage danach, welches die beste Punkband aus dem Ruhrgebiet ist, sich zwischen Eisenpimmel und den Kassierern entscheidet, ist das natürlich eine schöne Ironisierung der Aufbereitung demoskopischer oder volkswirtschaftlicher Datenbestände interpretierbar.[2]
Wie bereits oben angemerkt, verzichten die Autoren in ihrem Text nicht auf die Bewertung des Beschriebenen. Man gewinnt beim Lesen sogar den Eindruck, dass der Glorifikationsanteil im Verlauf des Buches immer weiter zunimmt. Ich tippe darauf, dass das daran liegt, dass die Autoren, je näher man der Gegenwart kommt, entsprechend hohe persönliche Identifikation mit dem Beschriebenen an den Tag legen.
Es handelt sich also gleichermaßen um Deskription und Hommage und aus meiner Sicht lässt sich hier völlig problemlos ein „und das ist auch gut so“ hinzusetzen. Das liegt aber, wie eingangs beschrieben, dass ich mich nicht nur abstrakt für Punk im Ruhrgebiet, sondern auch konkret für seine distanzlose Verherrlichung interessiere. Empfohlen sei das Buch daher nicht allen, sondern nur denen, die ein genuines Interesse an subjektiver Regionalgeschichtsschreibung oder Punk im Ruhrgebiet mitbringen. Denen allen aber dringend!!
Literatur
Ryser, Daniel (2012): Slime: Deutschland muss sterben. München: Heine.
Meinert, Philipp; Seeliger, Martin (Hg.) (2013): Punk in Deutschland. Sozial- und Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Transcript: Bielefeld.
Springer, Johannes et al. (Hg.) (2008): Echt! Pop-Protokolle aus dem Ruhrgebiet. Duisburg: Salon Alter Hammer.
Welt, Wolfgang (2006): Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Wolfgang Welt (2009): Doris Hilft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bibliografischer Nachweis:
Dennis Rebmann/Philip Stratmann
Mit Schmackes! Punk im Ruhrgebiet
Bottrop 2013
Verlag Henselowsky Boschmann
ISBK 978-3-942094-33-7
271 Seiten
Martin Seeliger ist Doktorand am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln.
[1] In einer anderen Rezension des Buches im Fanzine ‚Plastic Bomb‘ beschreibt der Autor ‚Micha‘ die Methode, nach der der Text geplant und verfasst wurde, als „learning by doing“.
[2] Wenn das als Witz gemeint war, finde ich ihn gut. Ich bin mir allerdings nicht sicher, bitte also um Aufklärung!