Im Bann der AuslagenLiteratur und Warenhauskultur um 1900von Uwe Lindemann4.11.2013

Nicht mehr der Mangel soll als Anlass für den Kauf von Waren bestimmend sein

[zuerst abgedruckt in: Monika Schmitz-Emans/Gertrud Lehnert (Hg.): Visual Culture. Synchron: Heidelberg 2008, S. 197-212]

I. Die Performanz des Visuellen

Das Warenhaus ist architektonisch ohne Vorbild. Wie der Bahnhof, wie die Markt- und Ausstellungshalle wird es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus den modernsten Baumaterialien wie Eisen und Eisenbeton errichtet. Dies ermöglicht nicht nur eine großflächige Verglasung der Außenfassade, sondern eröffnet auch für die Gestaltung des Innenraums neue Möglichkeiten. Andererseits steht die Architektur des Warenhauses für ein neues ökonomi­sches Bewusstsein, das den Absatz von Waren untrennbar mit ihrer visuellen Prä­sentation verknüpft. Dies betrifft die Schaufensterauslagen und die Präsentation der Waren im Innenraum ebenso wie die regelmäßige Zeitungs­werbung der Waren­häuser, die auf der Straße oder im Warenhaus verteilten Werbezettel und natürlich das umfassende Kataloggeschäft. Es entste­hen neue Berufe, die sich ausschließlich mit der visuellen Inszenierung von Waren befassen: der Beruf des Dekorateurs, des Reklamefachmanns und – später – der des Mannequins (vgl. Lam­berty 2000, 234ff. und Lehnert 1996, 64ff.).[1]

Weitere visuelle Reize bietet das Warenhaus durch ein Raumerleb­nis, das bislang Sakral- und Repräsentationsbauten vorbehalten schien. Wie dieses Raumerlebnis auf zeitgenössi­sche Besucher gewirkt haben mag, wird schon früh von der Literatur reflektiert. So heißt es beispielsweise in Der Warenhauskönig (1912) von Max Freund: „Was für Hallen! Welche Pracht! Gewaltige Marmorpfeiler schnellen empor“ (Freund 1912, 36) und Erich Köhrer schreibt in Warenhaus Berlin (1909) über den zentralen Lichthof seines fiktiven Kaufhauses: „in sei­ner unermesslichen Höhe [machte er] einen geradezu schwindelerregen­den Eindruck“ (Köhrer 1909, 40f). Die einzelnen Etagen des Warenhauses werden nicht mehr durch mas­sive Pfeiler im Innenraum gestützt, sondern durch ver­gleichsweise filigrane Eisen­säulen und Eisenträger, die zum Teil mit Holz oder Stein verkleidet werden.[2] Dies erlaubt dem Besucher weite Blicke durch den Innenraum und lässt die Grenzen zwischen den einzelnen Warenabtei­lungen verschwimmen. Von Außen und im Innern soll das Waren­haus offen wirken. Dabei geht es nicht allein um „rasche Abfertigung“ oder „Übersichtlichkeit“, wie Sigfried Giedion 1928 in Bauen in Frankreich bemerkt (Giedion 2000, 31 u. 33) oder um eine Förderung der Transparenz des Warenverkehrs zugunsten des Kunden (vgl. Sombart 1928, 85), sondern, so meine These, um eine Entgrenzung des Blicks.[3]

Diese Entgrenzung des Blicks im architektonischen Bereich wird gefördert durch die opulente, möglichst farbenprächtige Präsentation der Waren. Auch dies wird früh literarisch beschrieben. Schon in Émile Zolas Roman Au Bonheur des Dames (1883), dem ‚Urtext‘ der Warenhausliteratur, heißt es:

„So erglänzte […] das ‚Paradies der Damen‘ seit acht Uhr in den Strahlen dieses hellen Son­nenscheins […]. Am Eingang wehten Fahnen, Wollwaren flatterten in der frischen Morgen­luft […], während die Schaufenster […] wahre Symphonien von Auslagen entfalteten, deren leuchtende Farbe noch gesteigert wurden durch die Blankheit der Scheiben. Es war gleich­sam ein Schwelgen in Farben, die hier hervorbrechende Freude der Straße, ein ganzer weit­geöffneter Winkel voll käuflicher Dinge, wo jeder hingehen und sich eine Augenweide ver­schaffen konnte.“ (Zola 2002, IV, 112)[4]

Was Zola als ästhetisches Erlebnis beschreibt, dient einer kaufmännischen Persuasionsstrategie, die das Warenhaus einer Logik visueller Performanz unterwirft, die von haptischen und olfaktorischen Reizen unterstützt wird. Ziel dieser Ökonomie ist es, über die sinnliche Affizierung einen Kontrollverlust bei den Warenhausbesuchern herbeizuführen. Nicht mehr der Mangel soll als Anlass für den Kauf von Waren bestimmend sein, sondern der Warenkauf soll von dem emotionalen Bedürfnis geleitet werden, an dem im Warenhaus zur Schau gestellten Überfluss und Luxus teilzuhaben. Dabei soll der Kaufrausch, nicht zuletzt gestützt durch das Raumerlebnis (vgl. Miller 1981, 167ff.), als ästhetisches Erlebnis überwältigen.[5]

Im Folgenden soll es darum gehen, auf Basis von literarischen und nicht-literarischen Quellen die Parameter und Bedingungen der visuellen Persuasionsstrategien der Warenhauskultur zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt steht dabei die Analyse der Geschlechterökonomie im Warenhaus. Zugleich soll die Frage gestellt werden, welcher diskursiven Logik die literarischen und nicht-literarischen Texte in ihren Warenhausbeschreibungen folgen. Im Zentrum dieser Analysen wird das Verhältnis von Transgression und Reglementierung stehen, das sich auf primärer Ebene über die visuelle Performanz des Warenhaus konstituiert, sich auf der sekundären Ebene aber als wichtigster Motor für die Zirkulation sexueller, ökonomischer und im weitesten Sinne sozialer Energien im Warenhaus erweist.

II. Geschlechterökonomie und Visualität

a) Transgression und Devianz

Im Rahmen der frühen Warenhauskultur werden vor allem Frauen als Zielgruppe der neuen primär visuell konzipierten Persuasionsstrategien betrachtet. Erstens werden Frauen gemäß des zeitgenössi­schen Geschlechterdiskurses[6] als weit verführbarer als Männer angesehen, da sie gewissermaßen von Natur aus ein Bedürfnis nach Luxus haben, insbesondere nach solchem Luxus, der sie selbst visuell besser präsentiert. In Cesare Lombrosos und Guglielmo Ferreros kriminalanthropologischer Studie La donna delinquente, la prostituta e la donna normale (1893)[7] heißt es entsprechend: „Das Kleid ist quasi die Fortsetzung ihres Körpers – und deshalb sehen wir Frauen Morde begehen, um sich in den Besitz eines Halsbandes zu bringen.“ (Lombroso/Ferrero 1894, 154) Physiologisch begründet wird die „Putzsucht“ bei Frauen durch geschlechtsspezifische Anlagen. Besonders anfällig für die Verfüh­rungen der Warenwelt seien Frauen unter dem Einfluss von Menstruation, Menopause und Schwan­gerschaft (vgl. Briesen 2001, 109). Zweitens kommt der visuellen Performanz des Warenhauses die zeitgenössische Rollenverteilung ent­gegen. Zu dieser Zeit sind überwiegend Frauen für den häuslichen Einkauf verant­wortlich: sie besitzen also auch die Muße, um sich für längere Zeit im Warenhaus aufzuhal­ten. Auf einen dritten Aspekt, der die immer wieder betonte besondere Rolle von Frauen im Rahmen der frühen Warenhauskultur geschlechts­spe­zifisch deutet, hat Gertrud Lehnert hingewiesen: „Ist ihnen [den Frauen] in der herrschenden Geschlechterökonomie das aktive Schauen un­tersagt – Frauen werden angeschaut –, so dürfen sie sich hier [im Warenhaus] nach Herzenslust umsehen, denn die Objekte ihrer Blicke sind nicht andere Menschen, sondern leblose Gegenstände.“ (Lehnert 2002, 565f.) Und viertens wird das Warenhaus als willkommene Abwechslung im monotonen häuslichen Alltag angesehen. Besonders deutlich hat diesen seit Zola immer wieder hervorgehobenen Aspekt die deutsche Schriftstellerin Olga Wohlbrück in ihrem Roman Der großen Rachen (1916) herausgestellt. Dort heißt es über eine der weiblichen Hauptfiguren:

„Ganz stumpf lebte sie nun in den Tag hinein, stopfte Strümpfe, nähte Hemdenknöpfe an. Alle Woche ging sie in eine Konditorei, verspeiste genüßlich einen Mohrenkopf mit Schlagsahne und las dazu Romanfortsetzungen in den illustrierten Blättern. Ein andermal stülpte sie plötzlich ihr einfaches Filzhütchen auf und fuhr mit der Elektrischen in ein Warenhaus. Manchmal beschränkte sich ihr Einkauf auf ein Paket Haarnadeln für zehn Pfennig, manchmal kaufte sie auch gar nichts. Sie ging nur immer auf und ab in den breiten, hellen Gängen mit ihren bunten, überladenen Verkaufs­tischen. Dann blieb sieh wohl mal vor einem Tische stehen, betastete den einen oder anderen Gegenstand, wog die Schwere eines Stoffes in der Hand ab, fragte wohl auch nach dem Preis, knüpfte mit der Verkäuferin ein kurzes Gespräch an, berauschte sich an der Einbildung, daß sie wirklich gekommen sei, um Einkäufe zu machen, ließ sich allerlei Ware vorzeigen, beriet sich über die Meterzahl, die zu einer Bluse oder zu einem Gesellschaftskleide erforderlich wäre […]. Verkäuferinnen umstanden sie, der Rayon­chef wurde herangeholt; alles war mit ihr beschäftigt, das ganze Lager wurde ausgeräumt, vor ihr ausgebreitet. […] Dann fuhr sie [ohne etwas zu kaufen] wieder ganz vergnügt mit der Elektrischen nach Hause, und es blieb von all der Unruhe und dem Aufsehen, die sie hervorgerufen, noch lange ein angenehm prickelndes Gefühl, das ihr Spannkraft und Heiterkeit für viele Tage gab.“ (Wohlbrück, 21f.)

Im Warenhaus kann sich die Frau, modern gesprochen, der zeitgenössischen Geschlechterpolitik entziehen. Sie erhält dort jene Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihr im häuslichen Rahmen fehlt. Dabei ist es, zumindest nach Wohlbrück, in psychologischer Hinsicht gleichgültig, ob diese Aufmerksamkeit pro­fessionellen Absichten entspringt oder nicht.[8]

Bereits aus diesen wenigen Bemerkungen zum geschlechterökonomischen Standort von Frauen im Warenhausdiskurs um 1900 wird deutlich, dass die „Frau im Warenhaus“ aus mindestens zwei Perspektiven beurteilt wird. Zum einen aus dem Blickwinkel des männlich dominierten medizinisch-juridischen Dispositivs, für den beispielhaft Lombroso steht: Hier vermag sich die Frau weder auf psychologischer noch auf physiologischer Weise gegen die visuelle Per­formanz des Warenhauses zu wehren, wobei sie bestenfalls zur ‚verführten Un­schuld‘ deklariert wird, wenn sie nicht gleich zur potentiellen Kriminellen avanciert. Zum anderen ist aber auch schon aus zeitgenössischen Stellung­nahmen die ge­genläufige Tendenz beobachtbar: die Frau nutzt den Aufenthalt im Warenhaus, um sich der männlichen Geschlechter­politik zu entziehen. Hier ist sie nicht ‚verführte Unschuld‘, sondern sie gewinnt gerade im Warenhaus eine Freiheit autonomer Selbstbestimmung: Die Frau kann sich, zumindest zeitweilig, dem männlich reglementierenden Blick entziehen, der sie sonst in die engen Schranken des häuslichen Raums verweist.

Es bedarf kaum einer Erwähnung, dass das männliche Dispositiv den zeit­genössischen literarischen und nicht-literarischen Warenhaus­diskurs dominiert. Nicht nur das ausufernde medizinisch-juristische Schrifttum zum Thema Waren­hausdiebinnen[9] bestätigt dies, wobei dessen geschlechterspezifische Definitions­macht durch hehre moralische Absichten verschleiert wird (vgl. Briesen 2001, 114). Auch im literarischen Bereich ist die Dominanz dieses Diskurses feststellbar. Schon in Zolas Roman findet sich jene Ur­szene, die in späteren Texten zum festen topischen Inventar der Warenhauslitera­tur avanciert

„Schon ein Jahr lang stahl Frau de Boves auf diese Weise, verzehrt von einer tollen, unwi­derstehlichen Begierde. Die Anfälle verschlimmerten, wurden immer heftiger, bis sie zu ei­nem wollüstigen Reiz ihres Daseins geworden waren, alle vernünftigen Überlegungen hin­wegschwemmten und mit um so prickelnderem Genuss befriedigt wurde, als sie dadurch unter den Augen zahlloser Menschen ihren Namen, ihren Stolz, die hohe Stellung ihres Mannes aufs Spiel setzte.“ (Zola 2002, XIV, 544; Hervorheb. U.L.)[10]

Bei Zola ist die Warenhausdiebin nicht nur in sozialer Hinsicht deviant, sondern, entsprechend der zeitgenössischen medizinisch-psychologischen Diagnostik, auch in medizinischer Hinsicht. Für sie wird der Diebstahl, folgt man der Semantik der zitierten Passage, zu einem erotisch aufgeladenen Ereignis, in dem sich Voyeu­rismus und Exhibitionismus die Waage halten. Die sexuelle Semantik verweist hierbei ausdrücklich auf die bereits skizzierten physiologischen Erklärungsmodelle für Kleptomanie. Das Warenhaus wirkt, nicht zuletzt über die Logik visueller Per­formanz, auf die Frau als eine Art Aphro­disiakum.

Das Bemerkenswerte an dem Zitat ist, dass die Semantik in eklatanter Weise quer zum herrschenden medi­zinisch-juristischen Diskurs steht, der das Warenhaus dezidiert weiblich besetzt. Wer oder was, so müsste man dann aber fragen, wäre das Aphrodisiakum, das die Frauen im Warenhaus um den Verstand bringt? Die vermeintliche Erotik ästhetisch ansprechend gestalteter, aber letztlich geschlechtsloser Waren? Die visuelle Prä­sentation der Waren, die der weiblichen „Putzsucht“ als sexuelles Stimulans dient? Oder sind es gar die Momente autonomer Selbstbestimmung, die bei Frauen im Wa­renhaus sexuelle Energien freisetzen? Die erzählerische Logik, welcher der Roman Zolas nicht nur in dieser Szene, son­dern über weite Teile der Handlung gehorcht, legt eine andere Vermutung nahe. Der Handlungsverlauf folgt dem bekannten Erzählmuster bürgerlicher Liebesro­mane: es ist ein typischer Eheanbahnungsroman, der allerdings in einem mo­derneren Umfeld als üblich spielt.[11] Octave Mouret, der Besitzer des Zolaschen Warenhauses, wird über weite Strecken des Romans ausdrücklich als Verführer der Frauen ge­schildert (vgl. Zola 2002, III, 100f.; Zola 1980, III, 111; vgl. Becker/Landes 1999, 71). Das Warenhaus ist für ihn der Ort, an dem diese Verführung inszeniert und vollzogen wird; die Waren sind dabei lediglich das Mittel, um Frauen ins Warenhaus zu locken.[12]

Auf diese Weise besetzt Zola das Warenhaus nicht nur weiblich, sondern zugleich auch männlich, indem er die erotischen Energien des Warenhauses aus männlicher Sicht ei­nem dezidiert vormodernen Konzept heterosexueller Beziehungen unterwirft. Das Warenhaus wird bei Zola mit einer Zeit iden­tifiziert, die in der bürgerlichen Gegenwart längst überwunden schien. Anders ausgedrückt: Während der Mann die transgressiven Momente des Warenhauses strategisch für sich zu nutzen weiß, hat die Frau niemals ihren vormodernen Status verlassen. Zolas semantische Beset­zungen des Warenhauses erweisen sich im Rahmen seines Er­zählmodells nicht nur als in hohem Maße konventionell, sondern – was entscheidend ist – sie temporalisieren überdies die Geschlechterökonomie des Warenhauses: Im Grunde ist das Warenhaus, zumindest was die Geschlechterverhältnisse angeht, ein anachronistischer Ort. Bei Zola wird das Warenhaus erst an dem Punkt ‚modern‘, wo der Verführer zum Ehemann wird und sich in bürgerliche Normalitätsvorstellungen einschreibt.

Zolas Strategie der semantischen Entschärfung der transgressiven Momente des Warenhauses ist im Rahmen der Warenhausliteratur eher die Ausnahme. In der späteren Warenhaustexten werden versöhnliche Momente weitgehend fehlen und die fingierten Warenhäuser vielfach der materiellen Zerstörung preisge­geben.[13] Auch in diesem Fall erfolgt ein Re-Entry in bürgerliche Normalitätsvor­stellungen – ein Re-Entry, das in den späteren Texten aber offenbar nur noch über eine Eliminierung der Warenhauskultur vollzogen werden kann.[14]

In Bezug auf die weibliche Kleptomanie wird dieses Re-Entry noch auf eine zweite Weise geleistet. So sagt die „Frau Reichsgerichtsrat“ in dem Roman Det stora Varehuset (1926) des schwedischen Schriftstellers Sigfrid Siwertz, als sie beim Stehlen ertappt wird: „Ich kann nichts dafür […]. Ich weiß nicht, was mich über­kommt, aber ich kann es nicht lassen. Der Arzt sagt, das ist Kleptomanie.“ (Siwertz 1928, 247) Die Kleptomanin schreibt sich also von sich aus in männlich do­minierten, medizinisch-juristischen Diskurs ein und akzeptiert damit, nicht zuletzt aus Gründen des Selbstschutzes, einerseits eine pathologische Veranlagung des Weiblichen sowie andererseits die Definitionsmacht des Warenhausdiskurses selbst. Von ähnlichen, diesmal aber ‚realen‘ Fällen berichtet im Übrigen auch die weitläufige zeitgenössische medizinisch-psychiatrische Literatur (vgl. z.B. Laquer 1907, 9 u. 27). Was hier erneut deutlich wird, ist der Versuch des männlich besetzten Warenhausdiskurses, die bei Frauen im Warenhaus offenbar entfesselten transgressiven erotischen Kräfte zu bannen und damit alle geschlechtsökonomische Ambivalenzen auszuschließen, die mit dieser Entfesselung einhergehen.

b) Männlicher Kontrollwunsch, männlicher Kontrollverlust

Doch diese Ambivalenzen lassen sich nirgends vollständig tilgen. Ebenfalls in Siwertz’ Roman gibt es eine Episode, in der geschildert wird, wie sich der Dekora­teur des Warenhauses während einer Modenschau in ein Mannequin verliebt. Das Mannequin erwidert seine Liebe, man heiratet, doch die Ehe scheitert, nicht zuletzt weil sich das Mannequin zunehmend der Kontrolle, und zwar auch und gerade der visuellen Kontrolle durch ihren Mann einzieht (vgl. Siwertz 1928, 106ff. u. 264ff.). Vor der Heirat gilt das Hauptinteresse des Dekorateurs den weiblichen Schaufensterpup­pen, die er wie reale Frauen behandelt.[15] Als er seiner zukünftigen Frau zum ersten Mal nä­her kommt, heißt es über seine Gefühle:

„Sie verwirklichte in so vollendeter Weise grade seinen besonderen Künstlertraum, daß die Wolllust in ihren Armen gewissermaßen das Streben seines ganzen Lebens krönte und in der Seligkeit des Ersterbens war es ihm, dies sei die wunderbare Puppe, an die er gedacht hatte, seitdem er das erstemal in ein Schaufenster gestarrt hatte.“ (Ebd., 127)

Was an diesem Punkt noch metaphorische Rede ist, stellt sich wenig später als Faktum heraus: Seine Frau stand Modell für eine der weiblichen Schaufensterpup­pen, mit denen Dekorateur arbeitet. In diesem Moment verschwimmt für den Deko­rateur endgültig die Grenze zwischen Puppe und Frau. Gertrud Lehnerts Bemer­kung, dass Frauen in der damals „herrschenden Geschlechterökonomie das aktive Schauen untersagt“ ist (Lehnert 2002, 565), gewinnt an diesem Punkt einen geradezu materiellen Ausdruck. Jenseits einer möglichen psychologischen Deutung der Figur des Dekorateurs manifestiert sich in ihm pa­radigmatisch die eingangs skizzierte männliche Geschlechterpolitik, welche eine absolute Kontrolle über das vom Warenhaus evozierte, transgressive Weibliche an­strebt und sich dabei gleichzeitig, was entscheidend ist, das Recht einräumt, dieses Moment ausschließlich für sich zu reservieren.[16] Das Mannequin hat aber gerade die warenhausspezifische Performanz des Visuellen zu seinem Beruf gemacht: es ist Teil der ausgefeilten Reklamestrategien des Warenhauses, die andere Frauen gerade zu einem transgressiven Kaufverhalten ermutigen sollen. Der Konflikt, der bei Si­wertz in der Figur des Dekorateurs ausgetragen wird, ist wiederum der zwischen Kontrollwunsch und Kontrollverlust – mit der entscheidenden Wendung, dass der Dekorateur in dem Moment, wo er sich in das Mannequin verliebt, selbst der transgressiven Performanz des Visuellen erliegt. Der Text fasst die­sen Augenblick so – und bezeichnenderweise endet die Passage mit dem entgrenz­ten Blick des Dekorateurs:

„Und er sah ihr lange nach, als sie mit gepudertem, geschminktem, unbeweglichem Gesicht und den Bewegungen eines sinnreich gebauten mechanischen Spielzeugs auf den vervielfäl­tigenden Spiegelfond der Estrade zu glitt…“ (Siwertz 1928, 124; Hervorheb. U.L.)

Später, als die Ehe scheitert, zeigt sich, wie sehr der Dekorateur der Entgrenzung der Warenwelt erlegen ist. Er ahnt, dass ihn seine Frau betrügt, er kann sich aber gegen ihre eigentümliche „Macht“ (ebd., 270) nicht zu Wehr set­zen. Ja, er denkt sogar daran, sie zu töten, aber, so seine Überlegung, „[e]ine Puppe kann man nicht töten“ (ebd., 277). Nur konsequent ist es schließlich, dass sich das Mannequin dem ehemaligen Reklamechef des Warenhauses anschließt, der sie zum Film nach Amerika bringen möchte: „Der Reklamemann schaffte sich eine le­bende Dekorationspuppe an: die Verführung des Auges, umgesetzt in klingende Dollars.“ (ebd., 284; Hervorheb. U.L.) Der Reklamemann versteht es, die Logik visueller Transgression auch privat ökonomisch zu nutzen.

c) Weitere Blicke, weitere Ambivalenzen

Geschlechterpolitik und Visualität gehen im Warenhaus, wie ausgeführt, eine in jeder Hinsicht am­bivalente Beziehung ein. Die gleichzeitige Entgrenzung und Reglementierung von Blicken überscheiden sich in einem Raum, der, wie abermals Gertrud Lehnert be­tont hat, „ein durch und durch öffentlicher Ort [ist], aber es vermag[,] zugleich die Illusion des Privaten zu erzeugen.“ (Lehnert 2002, 564) Darüber hinaus ist das Warenhaus ein Ort der versteckten Blicke, insbesondere von Männern. Der of­fene Innenraum der Warenhäuser kennt, wie erwähnt, keine sichtbare Ab­grenzungen zwischen den einzelnen Verkaufsabteilungen. Herren- und Damenbe­kleidung mögen voneinander räumlich separiert sein, doch nirgends gibt es geschlechts­spezifische Zugangsbeschränkungen, wie es für den alten Einzelhandel die Regel war.

Vicki Baum hat in Jape im Warenhaus (1931) die Macht dieser versteckten Blicke auf äußerst drastische Weise be­schrieben. In ihrer Erzählung lässt sich der siebzehnjährige Jape, verführt von den Schaufensterauslagen, über Nacht in ein Warenhaus einschließen, um endlich jene Krawatte zu stehlen, die er sich sonst nicht leisten kann. Allein im Warenhaus erliegt Jape der umfassenden visuellen Performanz der Warenwelt: „Die Dinge bemächtig­ten sich seiner, die ungekannten, unbesessenen, luxuriösen Dinge, von denen ihn sonst eine Spiegelscheibe trennte.“ (Baum 1931, 226) Der Rausch des Besitzens verwan­delt sich jedoch bald in Zerstörungswut:

„Ohne sichtbare Grenze, wie die einzelnen Abteilungen ineinander übergingen, hatte die Damenkonfektion den tobenden Jape schon entlassen, ihn weitergegeben an die Möbel- und Kunstgegenstände. Was Jape neuerdings hinwarf, zertrat und anspuckte, das waren Bilder, Erzeugnisse eines geläufigen Kunsthandwerks. Nicht Kunstwerke geradezu, doch manchmal Nachahmungen von solchen, Kopien weltberühmter Vorbilder, freundliche und erhellende Strahlen aus reineren Bezirken des Lebens. Eines davon – ‚Mensch so ’ne Schweinerei‘ – brachte Jape zu Einhalten. Denn da lag nackt, splitternackt und schlafend, ein Weibsbild und zeigte alles, was sie hatte. […] Einen Augenblick lang schwankte Japes Seele – denn auch Jape hatte eine Seele – zwischen Höhe und Abgrund, einen Blitz lang war sie breit, aufzufliegen und sich gestillt der Schönheit zu ergeben. […] Aber es gelang ihm nicht, er stürzte ab. […] Venus lag zertreten und schmutzig zwischen anderen Scherben und Fetzen; Jape entfloh.“ (Ebd., 233)

Der Text endet mit einem Warenhausbrand, in dem der Protagonist sein Leben verliert. Kurz vor seinem Tod sieht er in den Flammen: „da tanzen auch die Damen [gemeint sind die Schaufensterpuppen], sie sind nun doch lebendig geworden, sie krümmen und biegen sich, sie drehen gespenstisch ihre wächsernen Glieder, sie zerschmelzen; glühend und mit einer weißen Flammenschicht bedeckt fließen sie über den Boden.“ (Ebd., 239)

Sieht man von der kunst- und kulturkritischen Geste[17] ab, die Baums Erzählung wie eine Monstranz vor sich her trägt, so zeigt sich einmal mehr der männlich dominierte, modernekriti­sche Warenhausdiskurs. Was Baums Erzählung, mehr noch als die Episode in Si­wertz’ Roman, deutlich macht: nicht nur auf Frauen wirkt das Warenhaus entgren­zend, sondern, folgt man der erzählerischen Logik bei Baum, auch Männer erliegen der Performanz der Visuellen. Nicht zuletzt dies ist, zumindest in geschlechterpolitischer Hinsicht, der Skandal des Warenhauses, der aus kulturkritischer Perspektive im literarischen wie im nicht-literarischen Bereich so massiv bekämpft wird: das Warenhaus stellt über die Performanz des Visuellen die klare geschlechtsspezifische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau in Frage.[18]

III. Exegese und Mediation: weibliche und männliche Verkäufer im Warenhaus

Mit den willenlosen Käuferinnen und den verwirrten Voyeuren ist bis­lang jedoch nur die Außenseite des literarischen und nicht-literarischen Warenhausdiskurses beschrieben worden. Damit die Performanz des Visuellen tatsächlich in klingende Münze verwandelt werden kann, bedarf es in der frühen Warenhauskultur einer großen Zahl von Verkäuferinnen und Verkäu­fern. Diese Verkäuferinnen und Verkäufer müssen einerseits mit einer diagnosti­schen Gabe ausgestattet sein, um am Auftreten, an der Mimik und nicht zuletzt an den Blicken ihrer weiblichen oder männlichen Kundschaft zu erkennen, ob man etwas kaufen gedenkt. Zum anderen müssen die Verkäuferinnen und Verkäufer, entgegen ihrer Kund­schaft, in hohem Maße immun sein gegen die Verführungskraft der Waren und sich durch ausgefeilte Verkaufsstrategien selbst als Teil der Logik der visuellen, sexuellen und moralischen Transgression im Warenhaus inszenieren.

Auch dieses Thema ist früh literarisch aufgegriffen worden. Schon bei Zola wird von Verkäufern berichtet, die ihre weibliche Kundschaft über eine erotisch aufgeladene Intimkommunikation zum Warenkauf animieren.[19] Im Gegensatz zum Ende von Zolas Roman, wo das vormoderne Verführungsmodell zugunsten des bürgerlichen Liebesmodells aufgegeben wird, müssen die Verkäufer in Zolas Warenhaus virtuos auf der Klaviatur der Verführungs­tech­niken spielen. Vergleichbares gilt, wenn auch entsprechend der zeitgenössischen Geschlechterpolitik asymmetrisch aufgefasst, für die weiblichen Verkäuferinnen: „Wenn man auch nicht verlangte, dass die Mädchen schön waren, so sollten sie im Interesse des Verkaufs doch anziehend wirken.“ (Zola 2002, II, 72; vgl. Zola 1990, 190)[20]

Daneben kommt den Entzifferungs- und Einfühlungspraktiken der Verkäuferinnen und Ver­käufer eine besondere Bedeutung zu – ein Thema, das immer dann in den Blick rückt, wenn die soziale und ökonomische Situation der kleinen Angestellten im Warenhaus literarisch in den Mittelpunkt gestellt wird. Während die Verkäufer und Verkäuferinnen bei den erotisch konnotierten Verkaufsstrategien den Warenwert symbolisch durch ihre Person substituieren, müssen sie im Rahmen der Entzifferungs- und Einfühlungstechniken gerade das Gegenteil tun: Sie müssen als Person gewis­sermaßen unsichtbar werden. In Hans Falladas Klei­ner Mann – was nun? (1932), der bekanntermaßen zu erheblichen Teilen im Waren­hausmilieu spielt, sagt einer der Verkäufer:

„Ich muß immer in die Leute reinkriechen, muß raten, was sie wollen. Darum weiß ich auch so gut, was die eben für ’ne Wut haben werden, daß sie den teuren Anzug gekauft haben. Jeder auf den anderen, und keiner weiß mehr richtig, warum sie ihn gekauft haben.“ (Fal­lada 2004, 170)

Die Verkäuferinnen und Verkäufer müssen also zugleich als Medien und Exegeten der Konsumkultur agieren. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur die Grenze, die zwischen Kaufwunsch und Kaufentscheidung liegt, zu invisibilisieren, sondern, wie das Zitat zeigt, sich selbst unsichtbar zu machen, so als gäbe es für den Kunden keine (monetäre) Transferleistung zwischen dem Be­gehren und dem Besitzen der Ware. Die Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit der Ware und die Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit der Verkäuferinnen und Verkäufer lässt sich somit als chiasti­sches Verhältnis beschreiben: Je mehr sie sichtbar sind, desto unsichtbarer wird die Ware (Verführungstechnik als Verkaufsstrategie) bzw. je unsichtbarer sie selbst sind, desto deutlicher tritt die Ware hervor (Einfühlungstechnik als Verkaufstrategie).

IV. Jenseits der Geschlechterökonomie: Masse und Individuum im Warenhaus

Bereits Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass mit der „Gründung der Warenhäuser […] die Konsumenten sich als Masse“ (Benjamin 1983, 93) zu fühlen begin­nen – ein Aspekt, den literarischen und nicht-literarischen Zeugnisse des Warenhaus­diskurses immer wieder hervorheben und zu großen Teilen den ökonomischen Prinzipien geschuldet ist, nach denen die neuen Waren­häuser Ende des 19. Jahrhunderts geführt und errichtet werden. Die Wirt­schafts­histori­kerin Heidrun Homburg hat diese Prinzipien wie folgt zusammengefasst:

„1. großer Umsatz – kleiner Nutzen, d.h. Gewinne und Rentabilität trotz vergleichweise knapp kalkulierten Gewinnspannen je Artikel durch raschen Umschlag der Waren und hohes Umsatzvolumen;

2. offene Präsentation bzw. für den Kunden gut sichtbare Auslegung der Waren, kein Kaufzwang;

3. deutliche und für jeden lesbare Preisauszeichnung der Waren, Verkauf nur zu den ausgezeichneten, sogenannten festen Preisen;

4. Warenverkauf ausschließlich gegen Barbezahlung;

5. möglichst attraktive, niedrige Preise bei Wahrung einer vom Händler garantierten (Mindest)Qualität der Ware;

6. Umwerbung des Kunden durch besondere Dienstleistungen wie der Zusicherung, der Kunde könne die Ware bei Nichtgefallen gegen andere umtauschen oder erhalte sein Geld zurück; aufmerksame, aber gleiche Bedienung eines jeden Kunden;

7. bei größeren Einkäufen Anlieferung der Waren durch einen geschäftseigenen Zustellungsdienst und dergleichen mehr.“ (Homburg 1992, 185f; vgl. Sombart 1928, 80ff.)

Niedrige und feste Preise, große Auswahl, freier Zugang, kein Kaufzwang usw. füh­ren zu einer ‚Demokratisierung‘ des Warenkonsums. Im Warenhaus treffen sich die unter­schiedlichsten Bevölkerungsschichten. Stellvertretend für viele andere ‚Warenhausschriftsteller‘ sei nochmals Köhrer zitiert:

„Eine seltsame Mischung von Angehörigen aller Bevölkerungsschichten presste sich gegen die Glasfassaden und die schlanken Eisenpfeiler […]. Elegant gekleidete Damen und Herren […] drängten sich durch­einander mit höchst zweifelhaften Elementen […]. Gut gekleidete Angehörige des Mittelstan­des fieberten mit Arbeiterfrauen um die Wette […].“ (Köhrer 1909 47f; vgl. ebd., 85)

Die bei Köhrer geschilderte soziale Transgression im Warenhaus stellt jedoch ein massives markt­strategisches Problem dar. Ist es erst gelungen, mittels günstiger Angebote die Kundschaft ins Warenhaus zu locken, geht es in ei­nem zweiten Schritt darum, mehr als nur die günstigen Ange­bote abzusetzen. Um dies zu erreichen, werden im Rahmen der frühen Warenhauskultur im Wesentlichen zwei Strategien entwickelt. Zum einen werden die teuren Massen­artikel, wie ebenfalls Ben­jamin be­tont hat, mit Hilfe der Kate­go­rie der „Spezialität“ (Benjamin 1983, 93) hervor­ge­hoben, womit sie gleichzeitig an das im 19. Jahrhundert aufkommenden Mode­dispositiv angeschlossen werden.[21] Zum andern muss seitens des Personals in den Warenhäusern versucht werden, der letztlich gesichtslo­sen Masse, die sich im Wa­renhaus um die Sonderverkaufsauslagen drängt, ein Gesicht zu geben.[22]

Hier kommen also erneut die Verkäuferinnen und Verkäufer ins Spiel. So unsichtbar sie selbst häufig sind, so sehr müssen sie darauf bedacht sein, den potentiellen Käufe­rinnen und Käufern besondere Aufmerksamkeitsressour­cen zu reservieren. Das nach Benja­min „circensische und schaustückhafte Element des Handels“ (ebd.), das im Wa­renhaus der Masse eine Welt des Scheins in der Abtrennung des Gebrauchswerts vom ideellen Wert vorgaukelt, ist nur die eine Seite der frühen Wa­renhauskultur. Auf der anderen Seite geht es darum, die einzelne Käuferin bzw. den einzelnen Käufer aus der großen, für die Masse gestalteten Inszenierung des Warenhauses auftauchen zu lassen und – scheinbar – zum Hauptakteur des Spektakels zu machen. Nichts ande­res beschreibt die schon zitierte Passage aus Wohlbrücks Roman (s.o.): Nicht nur die Ware ist einzigartig und neu, auch der potentielle Käufer bzw. die potentielle Käuferin sind es.

So nehmen Kunden bereits in dem Moment, in dem sie ein Warenhaus betreten, am ambivalenten Spiel der Perfor­manz des Visuellen im Warenhaus teil. Ihnen wird ebenso wie den Waren diese Performanz zugeschrieben, und zwar unabhängig von ihrer tatsächli­chen Kaufkraft. Wiederum in Falladas Roman findet sich eine Szene, in der dieses Spiel der Performanzen eindrücklich beschrieben wird. Pinneberg, die Hauptfigur des Romans, ist als Verkäufer in einem Warenhaus tätig. Eines Tages kommt zu ihm der Schauspieler Schlüter. Die Lage ist für Pinneberg prekär, da er kurz vor Monatsende sein Verkaufssoll noch nicht erfüllt hat. Zunächst lässt der Schau­spieler nicht durchblicken, dass er die Situation im Warenhaus ledig­lich dafür be­nutzt, um sich für eine neue Filmrolle vorzubereiten. Das Gespräch endet für Pinneberg desaströs, denn Schlüter kauft nichts:

„‚Herr Schlüter!‘, sagt Pinneberg, und seine Stimme wird lauter. ‚Ich habe Sie im Film gese­hen, Sie haben das gespielt, den armen kleinen Mann. Sie wissen, wie unsereinem zumute ist. Sehen Sie, ich habe Frau und Kind. Das Kind ist noch ganz klein, es ist jetzt noch so fröhlich; wenn ich entlassen werde…!‘“ Und wenig später: „‚Bitte, bitte kaufen Sie was. Sie wissen doch, wie uns zumute ist! Sie haben es doch gespielt!‘“ (Fallada 2004, 378)

Selbst in dem Moment, als der Schau­spieler seine Rolle aufgibt und nichts kauft, hält Pinneberg an dem Rollenspiel fest, denn er unterstellt dem Schauspieler jenes Einfühlungsver­mögen, das von ihm selbst während eines jeden Verkaufsgesprächs erwartet wird. Erst als Pinneberg begreift, dass der Schauspieler den „kleinen Mann“ nur gespielt hat, fällt er endgültig aus seiner Rolle: er ist nicht mehr souveräner Verkäu­fer, der die Wünsche seiner Kunden von den Au­gen abliest, sondern ein um seine Existenz besorgter Angestellter. Der performative Charakter des Rollenspiels im Wa­renhaus wird durch den Schauspieler in jeder Hinsicht unterlaufen. Zurück bleibt eine Fragilität der Rollenzuweisungen, auch und gerade im Spiel der Performanzen.

V. Im Wirbel der Finanzströme

Indem das Rollenspiel bei Fallada zusammen­bricht, zeigt sich, zumindest literarisch, eine andere Realität des Warenhausalltags. Entgegen der Semanti­sierungen, wie sie in der zeitgenössi­schen Literatur, aber auch in der aktuellen For­schung zu finden sind (vgl. Miller 1981, 167f. oder Lehnert 2002, 567), ist das Warenhaus kein Theater, auch wenn es künstlerische Gestaltungstechniken für seine pompösen Inszenierungen der Warenwelt zu nutzen weiß. Im Gegensatz zu den umworbenen Kunden müs­sen die Verkäuferinnen und Verkäufer nämlich stets ein genaues Bewusstsein für das im Warenhaus inszenierte Spiel der Performanzen haben. Vor al­lem dürfen sie niemals aus den Augen verlieren, zu welchem Zweck sie Teil der Inszenierungen im Warenhaus werden. Das theat­ralisch anmutende Spiel der Performanzen dient einzig und allein dem Erhalt und die Vermeh­rung des Kapitals: visuelle, soziale, mo­ralische, sexuelle und nicht zuletzt ökonomische Energien müssen in letzter Konsequenz stets auf ei­nen verdinglich­ten Kosmos umgelenkt werden.[23]

Wenn Benjamin bemerkt, dass es früher der Mangel war, der Menschen sich als Masse fühlen ließ, jetzt aber, im Zeitalter des Warenhauses, es der Konsum sei (vgl. Benjamin 1983, 93), bleibt er letztlich an der Außenseite des Warenhausdiskurses, da der massenhafte Konsum erst möglich wird durch eine massive Beschleunigung der Finanzströme Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. Sombart 1928, 81). Im Gegensatz zum alten Detailhandel wird im Warenhaus das symbolische Tauschmedium Geld zum einzig akzeptierten Zahlungsmittel. Die allgemeine Praxis der Barzahlung erlaubt es den Warenhäusern, die Geschwindigkeit und Höhe ihres Umsatzes erheblich zu steigern.[24] Nicht nur Zola, auch alle spätere ‚Warenhausschriftsteller‘ thematisieren ausführ­lich, welche Folgen dies für die sozialen, moralischen, sexuellen, geschlechtsspezifi­schen und nicht zuletzt ökonomischen Beziehungen im und um das Warenhaus herum hat. Der Logik der visuellen, sexuellen, moralischen und sozialen Transgres­sion wird, so meine These, überhaupt erst möglich durch transgressive Kraft, welche dem Geld inhärent ist. Schon Karl Marx hat, freilich unter an­derer Perspektive, auf diesen zentralen Aspekt des Kapitalismus hin­gewiesen:

„Sie [die Bourgeoisie] hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und keines anderes Band zwi­schen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. […] Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfrei­heit gesetzt. […] Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.“ (Marx 1978, 72)

Was Marx übersieht – dies haben etwa Deleuze/Guattari in Anti-Œdipe in einer kritischen Analyse marxistischer Positio­nen herausgearbeitet (vgl. Deleuze/Guatta­ri 1977, 286ff.) –, dass die transgressiven Kräfte des Kapitals immer zugleich von massiven Reglementierungen begleitet werden, sei es, dass in Bezug auf die Gegenwart eine ‚bessere‘ Vergangenheit re­konstruiert wird, sei es, dass man sich in der Gegenwart in einen geschützten Kosmos, etwa der Kleinfamilie, zurückzieht, oder sei es, dass man vom Jetzt aus eine ‚bessere‘ Zukunft entwirft, wo die Transgressionen des Gegenwär­tigen wieder zurückgenommen werden.

Im literarischen Bereich lässt sich diese Dynamik an den meisten Texten des literarischen wie nicht-literarischen Warenhausdiskurses verfolgen. Schon Zolas Roman funktioniert nach dem Prinzip, dass jeder Transgression, und zwar sowohl auf der inhaltlichen wie auf der semantischen Ebene, eine Reglementierung entgegengesetzt wird: Dem transgressiven Verführungsmodell wird das reglementierende Liebesmodell entgegengesetzt, der Transgression des Weiblichen die reglemen­tierende Kraft des Männlichen, der Transgression der Konsums die reglementierende Kraft der Lie­besgabe, der angenommenen promiskuitiven Verhältnisse zwischen den weiblichen und männlichen Angestellten im Warenhaus eine harte militärische Disziplin (vgl. Zola 2002, II, 62 u. IV, 115, 119, 123; Zola 1980, II, 78 u. IV, 124, 127, 130)[25] und der transgressiven Kraft des Visuellen die reglementierende Kraft der Überwachung durch die Kaufhausdetektive.[26] Selbst die Semantik wird von dieser reglemen­tierenden Bewegung ergriffen: nicht nur die Theater-Semantik, sondern auch die ebenfalls häufig in den Beschreibungen genutzte religiöse Semantik (Stichwort: Konsumtempel)[27] ist bei Zola ein Versuch, die durch die Zirkulation des Kapitals beschleunigten transgressiven Kräfte des Warenhaus, wenn schon nicht zu bannen, so doch zu entschärfen.[28] Dennoch können die reglementierenden Momente – und dies betrifft insbesondere das Happy End von Zolas Roman – kaum über die massiven transgressiven Kräfte des Warenhauses hinwegtäuschen: Letztlich werden alle Diskurse im Warenhaus vom entfesselten Finanzstrom übercodiert.[29] Dies geht soweit, dass, wie ebenfalls Zola schildert, beim Kampf um die beste Provision selbst die Geschlechterunterschiede nivelliert werden![30

Von hier aus lässt sich nochmals ein Blick auf die eingangs postulierte Performanz des Visuellen im Warenhaus werfen. Das Warenhaus lässt sich insgesamt als eine Maschine visueller Perfor­manzproduktion begreifen, die ihre Energien nicht nur aus seiner architektonischen Gestalt und einer spezifischen Ökonomie bezieht, sondern nicht weniger auch aus seinen sozialen Verhältnissen und Beziehungen. In diesem Sinne stellt sich die Frage, ob das Warenhaus, wie es vielfach in der Forschungsliteratur zu lesen ist, lediglich eine Repräsentation der bürgerlichen Kultur darstellt, oder ob es nicht vielmehr den bürgerlichen Lebensstil über seine visuelle Performanzproduktion allererst erzeugt (vgl. Miller 1981, 178ff.)[31] – einen Lebensstil, dessen Ästhetik und Soziologie ohne Zweifel untrennbar mit der Ökonomie des Hochkapitalismus verbunden ist.

VI. Ausblick

Die vorherigen dürften deutlich gemacht haben, dass im Rahmen einer historischen Analyse der Visual Culture dem literarisch wie nicht-literarisch vielfach reflektier­ten Phänomen des Warenhauses eine herausragende Bedeutung zugemessen wer­den muss. Alle genannten Texte (und es gibt noch zahlreiche andere, die ich nicht erwähnt habe) sind dabei nicht nur in hohem Maße relevant und signifikant für die Analyse einer Konsumkultur, die bis heute unsere Ökonomie, Politik und sozialen Verhältnisse in wesentlichen Teilen bestimmt, sondern auch für das Selbstverständnis der Moderne. Ja, ich möchte noch weiter gehen und be­haupten, dass die Wa­renhauskultur eine wichtigsten zeitgenössischen Umwelten des Avantgardediskur­ses darstellt, der sich fast zur gleichen Zeit mit den italienischen Futuristen zu konstituieren be­ginnt. Begriffe und Themen wie Entgrenzung bzw. Transgression, Reklame, Performanz des Visuellen, Kunst und Ökonomie, das Neue usw. lassen sich in der einen oder anderen Weise auch dort aufweisen. Diese These auszufüh­ren, muss allerdings einem größeren Forschungsprojekt vorbehalten werden.

 

Anmerkungen


[1] Für viele hilfreiche Hinweise und Anregungen möchte ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bei Christiane Lamberty, Moritz Baßler und Sabine Biebl bedanken.

[2] Vgl. Émile Zolas Beschreibung in den Vorarbeiten zu seinem Roman Au Bonheur des Dames: „Der Anblick dieser aufeinanderfolgenden Hallen [im Warenhaus Bon Marché], mit halbrunden Bögen, mit Galerien, die sich wölben wie Brücken, Treppen, die schwerelos wie ins Leere hinaufsteigen, mit übereinandergestuften Etagen, die Flucht all dieser Weiten, die Auftürmung babylonischer Paläste, doch mit einer außerordentlichen Schwerelosigkeit gebaut.“ (Zola 1990, 159)

[3] Später kommen, nach der Erfindung der elektrischen Glühbirne, im Übrigen noch aufwendige Lichtinstallationen hinzu, die das aufsehenerregende Erlebnis der frühen Warenhäuser weiter verstärken (vgl. Lamberty 2000, 43ff.).

[4] Im Original heißt es: „Aussi, le Bonheur des Dames, dès huit heures, flambait-il aux rayons de ce clair soleil, dans la gloire de sa grande mise en vente des nouveautés d’hiver. Des drapeaux flottaient à la porte, des pièces de lainage battaient l’air frais du matin […]; tandis que, sur les deux rues, les vitrines développaient des symphonies d’étalages, dont la netteté des glaces avivait encore les tons éclatants. C’était comme une débauche de couleurs, une joie de la rue qui crevait là, tout un coin de consommation largement ouvert, et où chacun pouvait aller se réjouir les yeux.“ (Zola 1980 IV, 121)

[5] Vgl. hierzu die Äußerung Werner Sombarts über die Warenpräsentation des ‚alten‘ Detailhandels: „Im allgemeinen lagen die Waren aufgestapelt ohne jeden Anspruch an Schönheit und Geschmack.“ (Sombart 1928, 80)

[6] Dies ist bzgl. der Warenhausproblematik gut erforscht (vgl. z.B. König 2000; dort weiterführende Literaturhinweise).

[7] Der Text wurde schon 1894 ins Deutsche übersetzt (siehe Bibliographie).

[8] Vgl. hierzu auch Leopold Laquers Bemerkung, dass Frauen zum „Zeitvertreib“ Warenhäuser aufsuchen, weil sie sich häufig langweilen würden (vgl. Laquer 1907, 10).

[9] Vgl. Briesen 2001, der diesen Aspekt ins Zentrum seiner Analysen stellt und mehrere hundert Publikationen zu diesem Thema zwischen 1880 und 1930 verzeichnet.

[10] Im Original heißt es: „Depuis un an, Mme de Boves volait ainsi, ravagée d’un besoin furieux, irrésistible. Les crises empiraient, grandissaient, jusqu’à être une volupté nécessaire à son existence, emportant tous des raisonnements de prudence, se satisfaisant avec une jouissance d’autant plus âpre, qu’elle risquait, sous les yeux d’une foule, son nom, son orgueil, la haute situation de son mari.“ (Zola 1980, XIV, 484; Hervorheb. U.L.)

[11] Das heißt, Zolas Roman veranschaulicht ein Erzählmodell, wie man es bereits in zahlreichen Erzähltexten des 18. Jahrhunderts finden kann, etwa in Samuel Richardsons Pamela. Vgl. allgemein zum Thema „Liebesroman als Eheanbahnung“ Werber 2003.

[12] Fast als Parodie auf diesen von Zola stark betonten Aspekt liest sich das melodramatische Theaterstück Purpus (1918) von Wilhelm Stücklen [vgl. Stücklen 1918].

[13] Das in diesem Zusammenhang immer wieder aufgegriffene Motiv ist der Wa­renhausbrand, so bei Köhrer 1909, Siwertz 1928 oder Baum 1931.

[14] Dies steht – nebenbei bemerkt – in dezidiertem Ge­gensatz zur fortgesetzten ökonomischen Etablierung des realen Warenhauses in allen großen Städten Europas und Amerikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Briesen 2001, Miller 1981 oder auch Lancaster 1995)

[15] Der Dekorateur weist seinen Schaufensterpuppen menschliche Attribute zu: er spricht mit ihnen, schminkt sie, wirft ihnen sogar „Kußhände“ (Siwertz 1928, 107) zu. Auf den Pygmalion-Mythos wird in diesem Zusammenhang sogar im Text selbst hingewiesen (vgl. ebd., 266).

[16] Man vgl. hierzu die Szene in Zolas Roman, wo ein gewisser Herr Boutarel sich weigert, seine Frau allein in die Umkleidekabine gehen zu lassen, da er „keineswegs dulden“ werde, „dass sie [seine Frau] sich ausziehe, ohne dass er dabei sei.“ (Zola 2002, XIV, 527) Im Original heißt es: „M. Boutarel, quand il avait compris, s’était fâché carrément, criant qu’il voulait sa femme, qu’il entendait savoir ce qu’on lui faisait, qu’il ne la laisserait certainement pas se déshabiller sans lui .“ (Zola 1980, XIV, 470; Hervorheb. U.L.)

[17] Die Welt des Wa­renhauses wird bei Baum als Welt aus zweiter Hand beschrieben und an ästhetischen Idealen gemessen, die sich mindestens bis zu Winckelmann zurückfolgen lassen.

[18] Die destruktive Geste der Hauptfigur bei Baum lässt sich im Rahmen der Er­zählung nicht nur als Ausdruck einer massiven Modernefeindlichkeit lesen, sondern auch politisch interpretieren. Gerade Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahr­hunderts verschärft sich im Zeichen der Weltwirtschaftskrise sowohl die konserva­tive als auch die nationalistische Kritik an der Konsumkultur (vgl. Briesen 2001, 165ff.).

[19] So gibt zum Beispiel bei Zola der eine Verkäufer dem anderen den sowohl wörtlich als auch meta­phorisch gemeinten Tipp: „Nur zu, nur zu, mein Guter, streichle ihr nur tüchtig die Finger, das wird dich weiterbringen!“ (Zola 2002, IV, 130) Im Original: „Va, va, mon bonhomme, frotte-lui bien les doigts, pour ce que ça t’avance!“ (Zola 1980, IV, 136)

[20] Im Original heißt es: „Sans exiger des filles belles, on les voulait agréables, pour la vente.“ (Zola 1980; II, 87)

[21] Nicht zufällig heißen die frühen Waren­häuser in Frankreich magasins de nouveautés, wobei das „Neue“, wie Ben­jamin zu Recht be­merkt, „eine vom Gebrauchwert der Ware un­abhängige Qualität“ (Benjamin 1983, 55) ist.

[22] Vgl. Werner Sombarts Feststellung über den früh kapitalistischen Detailhandel: „Man war [dort als Kunde] bekannt und wurde als bekannter beim Eintritt begrüßt“ (Sombart 1928, 79) – diese Qualität des Handels geht mit dem Aufkommen des Warenhauses weitgehend verloren. Wenig später fügt er allerdings hinzu: „Neuerdings bemerken wir, namentlich in den Vereinigten Staaten, wieder das Bemühen, die Verkäufertätigkeit zu einer persönlichen Angelegenheit zu machen: das ist die Entpersönlichung des Verkäufer-Käufer-Verhältnisses, wie sie vor allem die Warenhäuser gefördert hatten“ (Ebd.). Zu den verschiedenen Formen der „Entpersönlichung“ im Warenhaus vgl. auch ebd. 84ff.

[23] Ein Ver­käufer in Zolas Roman drückt dies so aus: „Wenn sie [die Kundin] hierher kommt, werde ich sie einwickeln, ich brauche hundert Sous!“ (Zola 2002, IV, 131) Im Original: „Si elle vient ici, je l’entortille, il me faut cent sous!“ (Zola 1980, IV, 137)

[24] Was ange­sichts ihrer niedrigen Preise mit kleinen Gewinnspannen der einzige Weg ist, renta­bel zu agieren. Dabei werden vielfach die Verkäuferinnen und Verkäufer selbst am Umsatz beteiligt. Man versucht also, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu verkaufen, um die eigene Provision zu er­höhen. Zu diesem Themenkomplex vgl. Zola 1990, 198 u. Miller 1981, 54ff. sowie das Zitat in Anm.30.

[25] Zur realen Situation in den Warenhäusern vor 1900, die nicht weit von dem entfernt ist, was Zola beschreibt, der bekanntermaßen selbst dort recherchiert hat vgl. Miller 1981, 80ff. Vgl. auch die zeitgenössische Studie von Käthe Lux, darin § 5 „Disziplin“ (Lux 1910, 33ff.).

[26] Vgl. die Figur von Inspektor Jouve in Zolas Roman, ein ehemaliger Soldat!

[27] Vgl. auch folgendes Zitat: „Er [Mouret] errichtet ihr [der Frau] einen Tempel, ließ ihr von einer Le­gion Kommis Weihrauch streuen, schuf den Ritus eines neuen Kults. Er dachte nur an sie, war unab­lässig bemüht, stärkere Verführungskünste zu ersinnen“ (Zola 2002, III, 100). Im Original: „il lui élevait un temple, la faisait encenser par une légion de commis, créait le rite d’un culte nouveau; il ne pensait qu’à elle, cherchait sans relâche à imaginer des séductions plus grandes“ (Zola 1980, III, 111).

[28] Die beiden wichtigsten anderen, allerdings eher im Sinne der Transgression zu bewertenden Semanti­ken in Zolas Roman sollen nicht verschwiegen werden: es sind einmal die Kriegssemantik und zum anderen eine biologistische Semantik, die eindeutig am Darwinismus orientiert ist. Wie beide Semantiken sogar miteinander kombiniert werden können, zeigt folgendes Zitat: „Er [Mouret] beteiligte fortan seine Verkäufer am Absatz aller Waren […], ein Verfahren, das den ganzen Modewarenhandel umge­wälzt hatte und zwischen den Kommis eine Existenzkampf hervorrief, aus dem die Inhaber Nut­zen zogen. Dieser Kampf wurde übrigens in seinen Händen zum Lieblingsrezept, zu einem organisato­rischen Grundsatz […]. Er entfesselte die Leidenschaften, sorgte dafür, dass die Kräfte einander kampfbereit gegenüberstan­den, ließ die Kleinen von den Großen verschlingen und wurde fett durch diese Schlacht der Interessen.“ (Zola 2002, II, 47) Im Original: „Il intéressait désormais ses vendeurs à la vente de toutes les marchandises, il leur accordait un tant pour cent sur le moindre bout d’étoffe, le moindre objet vendu par eux: mécanisme qui avait bouleversé les nouveautés, qui créait entre les commis une lutte pour l’existence, dont les patrons bénéficiaient. Cette lutte devenait du reste entre ses mains la formule favorite, le principe d’organisation qu’il appliquait constamment. Il lâchait les passions, mettait les forces en présence, laissait les gros manger les petits, et s’engraissait de cette bataille des intérêts.“ (Zola 1980, II, 65f)

[29] Werner Sombart drückt dies so aus: „Das Streben [des Warenhauses] ist auf möglichste Ausweitung des Absatzes gerichtet; ist expansiv, dynamisch. Alles, was dieser Ausweitung des Absatzes dient, ist willkommen.“ (Sombart 1928, 81; Hervorheb. U.L.)

[30] Es heißt bei Zola: „Hätte der fortgesetzte Kampf um das Geld nicht die Geschlechterunterschiede verwischt, so würde die unausgesetzte Hetzjagd, die den Kampf völlig beanspruchte und die Glieder wie zerschlagen machte, dazu genügt haben, jedes Begehren zu töten. Bei den Feindseligkeiten und den Cliquenbildungen unter Mann und Frau, den ewigen Reibereien von Rayon zu Rayon konnte man kaum einige wenige Liebesverhältnisse aufzählen. Alle waren nichts weiter als Räder im Getriebe, wurden mitgerissen vom Schwung der Maschine, gaben in der dieser alltäglichen und mächtigen Gesamtheit einer Phalanstére ihre Persönlichkeit auf und vereinigten einfach ihre Kraft.“ (Zola 2002, V, 174f.) Im Original: „Si la bataille continuelle de l’argent n’avait effacé les sexes, il aurait suffi, pour tuer le désir, de la bousculade de chaque minute, qui occupait la tête et rompait les membres. À peine pouvait-on citer quelques rares liaisons d’amour, parmi les hostilités et les camaraderies d’homme à femme, les coudoiements sans fin de rayon à rayon. Tous n’étaient plus que des rouages se trouvaient emportés par le branle de la machine abdiquant leur personnalité, additionnant simplement leurs forces, dans ce total banal et puissant de phalanstère.“ (Zola 1980, V, 173; vgl. auch Zola 1990, 172f.)

[31] Man denke nur an das millionenfache Versenden von Warenhauskatalogen an potentielle Käuferinnen und Käufer (siehe Wertheim 1903).

 

Literatur

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Briesen, Detlef: Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20 Jahrhundert. Frankfurt, New York 2001 [Briesen 2001]

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt/Main 1977. [Deleuze/Guattari 1977]

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König, Gudrun M.: Zum Warenhausdiebstahl um 1900. Überjuristische Definitionen, medizinische Interpretamente und die Geschlechterforschung. In: Mentges, Gabriele (Hg.): Geschlecht und materielle Kultur. Frauen-Sachen, Männer-Sachen, Sach-Kulturen. Münster, New York 2000, S.49-66 [König 2000]

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Wohlbrück, Olga: Der große Rachen. Berlin o.J. [Wohlbrück]

Zola, Émile: Au Bonheur des Dames [1883]. Préface de Jeanne Gaillard. Édition établie et annotée par Henri Mitterand. Paris 1980 (Gallimard: folio classique) [Zola 1980]

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Zola, Émile: Frankreich. Mosaik einer Gesellschaft. Unveröffentlichte Skizze und Studien. Hg. u. komm. v. Henri Mitterand. Aus d. Frz. v. Brigitte Pätzold. Wien, Darmstadt 1990 (Orig.: Carnets d’Enquêtes. Paris 1986) [Zola 1990]

 

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Synchron Verlags.

 

Dr. Uwe Lindemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter mit den Aufgaben eines Studienrates im Hochschuldienst am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.