Diesmal mit einem Special: Jazz populär.
Da der vorgesehene Popmusikexperte krank geworden ist, springe ich diesen Monat ein. Den Rubrikentitel dehne ich zugegeben stark, aber, glaube ich, noch vertretbar: Denn nicht nur in den 1920er bis 1940er Jahren war Jazz die populäre US-amerikanische Musikform, sondern besaß auch bei der Imagebildung Popvorläuferelemente.
Etwas ungewöhnlich ebenfalls: Ich verzichte auf aktuelle Titel. Aus folgendem Grund: Ich bringe allgemeines Verständnis für den Befund auf, dass die Popmusik (vor allem die Rockmusik) ihre Möglichkeiten starker Neuerung erschöpft hat; der Jazz ist ja bereits seit den 80er Jahren in seine postmoderne Phase eingetreten.
Persönlich ist mir das jedoch herzlich egal. Lebenszeit ist nun mal begrenzt, Freizeit leider auch, darum kann bei mir (und ich denke: bei [fast] allen anderen auch) angesichts der heute gerade über das Netz verfügbaren Vielfalt der Stile und Einzelwerke Langeweile nicht aufkommen.
Drei Titel greife ich heraus, die zum Teil schon sehr alt sind, die ich aber in den letzten Wochen zum ersten Mal in meinem Leben gehört habe und für mich mit dem Reiz und dem Glück des Neuen verbunden sind:
Elis Regina – »Águas de março«
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Der Bossa Nova war für zwei Jahre, 1962, 1963, für den vorletzten populären Erfolg des Jazz verantwortlich. So gut wie alle US-amerikanischen Jazzmusiker, die auf Labels mit Marketingabteilung veröffentlichten, mussten nach den Hits von Stan Getz, »Desafinado« und vor allem »Girl from Ipanema«, einen Bossa-Titel aufnehmen, was nicht immer zu ihrem Nachteil war. Mit Elis Regina mal umgekehrt eine vorzügliche jazzige Einspielung eines Bossa-Nova-Klassikers, die aus Brasilien stammt.
Weather Report [mit Gästen] – [Auftrittsprobe, NDR-Jazzworkshop, 1971]
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Der letzte Popularitätsschub des Jazz war dem Jazzrock, der Fusion-Musik zu verdanken. Nach ihrem Hoch Anfang/Mitte der 1970er Jahre lange verpönt, seit einiger Zeit wieder vereinzelt von Electro- und Metalspezialisten rehabilitiert. Hier eine Aufnahme der damals kommerziell erfolgreichsten Band, die von beiden gerade genannten Lagern nicht gemocht werden dürfte, die aber den für mich entscheidenden Zug besitzt, der einige Jazzrock-Gruppen (besonders die Bands von Miles Davis und Tony Williams) gelegentlich auszeichnet: den zum Free Jazz. Aus heutiger Sicht fast unvorstellbar, dass das damals recht populär und Teil von Pop war. Ein immenser Verdienst der Hippies/68er.
Lennie Niehaus mit Big Band – »Time after Time«
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Lennie Niehaus ist den von nicht wenigen eingeschlagenen Weg der West-Coast-Musiker gegangen: nach Hollywood. Nach dem vorübergehenden Erfolg der ausgefeilten Arrangements und harmonisch durchgebildeten Improvisationen Mitte der 1950er Jahre gerade bei einem weißen (Don-Draper-)Publikum (im »Playboy«-Jazz-Poll jener Tage lagen die weißen West-Coast-Musiker oft weit vorne), drängte es sich auf, als Musiker oder Komponist Geld in den Studios zu verdienen. Es ist so viel Geld hängengeblieben, dass Los Angeles heute über ein Jazzinstitut verfügt. Aus seinen Räumen (mit einem Publikum, in dem niemand unter 60 ist) kommt diese über die Maßen gelungene Aufnahme des Seniors, in der er wieder zum Stil der 50er zurückgeht. Populär oder mit Pop-Hipness ausgestattet ist diese Musik bereits seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr – ein schwerer Fehler.