»I am impossible« Rezension zu Morrissey, »Autobiography«von Stephan Dietrich22.1.2014

Das Rätsel bleibt gewahrt

Wer die Aktivitäten Morrisseys in den letzten Jahren verfolgt hat, dem konnte bei der Ankündigung der selbstverfassten Lebensgeschichte des Sängers angst und bange werden – kaum ein Interview in den vergangenen Jahren ohne eine ungeheuerliche Peinlichkeit (stellvertretend für viele sei das Lob des britischen politischen Rechtsauslegers Nigel Farage im Interview mit dem Magazin »Loaded« im Februar 2013 genannt), kaum ein Bühnenauftritt ohne schlimme Provokation (etwa die Bemerkung im Juli 2011 bei einem Konzert in Warschau, das Breivik-Massaker in Norwegen sei nichts im Vergleich zu dem Gemetzel, das täglich bei den einschlägigen Fastfood-Herstellern geschehe)…

Seit dem letzten Album »Years of Refusal« (2009) drängte sich zunehmend der Verdacht auf, hier werde ein Musiker im sehr späten Herbst seiner Karriere zum ›grumpy old man‹ (kulturpessimistische Variante), dessen obsessives Beharren auf seinen Fetischen (die britischen Royals sind Mist, die Fleischindustrie dito, die Musikindustrie sowieso immer schon und der Tee hat früher auch irgendwie besser geschmeckt) den kreativen Output bei Weitem überwiegt.

Fast in Vergessenheit geriet dabei, über welch ein außergewöhnliches Talent als Autor Morrissey immer schon verfügt hat. Daran nun erinnert uns die im Oktober 2013 erschienene Autobiographie mit dem, nun ja, punktgenauen Titel »Autobiography« auf eindrucksvolle Weise. Das 480 Seiten starke Taschenbuch beginnt mit der Kindheit des in den 60er Jahren in Manchesters Stadtteil Hulme aufgewachsenen Sängers und endet am 16. Dezember 2011.

Was die Leser hier finden – eine ausgeprägte imaginative Beschreibungskraft, stilistische Gewandtheit, die erwartbare gnadenlose Schärfe, Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit (sich selbst wie anderen gegenüber), aber auch ein erstaunliches Maß an Empathie und Sanftheit –, sind genau jene literarischen Attribute, die Morrisseys Start als Pop-Poet der Post-Punk Generation so einflussreich machten. Als Zeugnis seines Potenzials als Autor ist das Buch eine Rückkehr zur Stärke der frühen Songlyrics.

Die Struktur dieser Lebensgeschichte eines Popstars, der sich über Jahrzehnte hinweg alle Mühe gegeben hat, sein Leben zum Änigma zu stilisieren, ist außergewöhnlich und ambitioniert: der Text weist keinerlei Einteilung in Kapitel auf, das vorherrschende Tempus ist das Präsens, das Denken erfolgt digressiv und die Sprache ist gewollt poetisch überhöht.

Der Verzicht darauf, die Selbstlebensbeschreibung als ordentlich aufgeräumten, zugänglichen und mit pikanten Details gespickten Entwicklungs- und Unterhaltungsroman anzulegen, mag zum einen nur konsequent sein für jemanden, dem sein Leben lediglich als »succession of people saying goodbye« (so ein Songtitel aus dem Jahr 2004) erscheint; zum anderen aber und vor allem bemüht sich der Text bereits von der ersten Zeile an zu signalisieren: ›Ich bin keine beliebige Promi-Biografie. Das hier ist Kunst!‹:

»My childhood is streets upon streets upon streets upon streets. Streets to define you and streets to confine you, with no sign of motorway, freeway or highway. Somewhere beyond the hides the treat of the countryside, for hour-less days when rains and reins lift, permitting us to be amongst people who live surrounded by space and are irked by our faces.« (S. 3)

In dieser Diktion entwirft das beeindruckende erste Drittel des Buchs die präzise kulturelle, soziale und geistige Textur Manchesters in den 1960er Jahren als eines dunklen Gefängnisses für die irischen Einwanderer, für deren Existenz die englische Gesellschaft der Zeit weder Raum noch Blick hat. Morrissey zeichnet ein ›portrait of the artist as a young man‹ in dieser bedrückenden, freudlosen Umgebung, dessen Faszination allem gilt, was auch nur für einen Moment ermöglicht, die Augen von der allumfassenden Trostlosigkeit abzuwenden.

Auffällig ist die starke Anziehungskraft elektrischen Lichts; das Manchester jener Jahre muss ein düsterer Ort gewesen sein, noch im Rückblick ist die prägende Erfahrung jene der Dunkelheit zu jeder Tages- und Jahreszeit; Rettung verspricht hingegen jeder Ort, an dem elektrisches Licht brennt – »the light! the light! the light! – my heart’s lighthouse« (S. 22).

Wesentlich für diesen ersten Teil ist ferner die Bedeutung, die zuerst das Fernsehen, später die Literatur und schließlich die Popmusik für den Jugendlichen gewinnen. Der 52-jährige Autor erinnert sich an die Entdeckungen dieser Jahre lebhaft und würdigt Autoren wie Robert Herrick, A.E. Housman oder Oscar Wilde, Musiker wie Marc Bolan, Patti Smith oder die New York Dolls mit kleinen, sehr persönlichen und treffsicheren Essays. Im Laufe der Zeit wird die Musik zum Leitmedium, der junge Morrissey beginnt, Konzerte zu besuchen, sich vorher irgendwie in den Soundcheck zu mogeln, bis irgendwann auch das nicht mehr hilft und er einsieht: »no more soundchecks – unless they were my own« (S. 139). Von hier an nimmt der eigene Kindheitstraum Gestalt an: »If I can barely speak (which is true), then I shall surely sing« (S. 64).

Als er schließlich zu singen beginnt, stellt sich die erhoffte Befreiung aus dem Gefängnis sofort und mit überwältigender Wucht ein. Jene fünf Jahre zwischen 1982 und 1987, die Morrissey berühmt und zur britischen Ikone machten, werden allerdings mit großer Distanz und knappem Atem geradezu überflogen, so als wäre die Geschichte der Smiths auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Band noch zu euphorisch und zu schmerzhaft zugleich, als dass der Autor sich wirklich in sie versenken könnte.

Morrisseys Lust an der ätzenden Kritik, die in »Autobiography« bei den Lehrern seiner Schulzeit beginnt und bei Kollegen (besonders hübsch: das Portrait von Siouxsie Sioux als übellaunig-autoritärer Kratzbürste) und Journalisten (jenseits des guten Geschmacks: die Schilderung von Julie Burchill) längst nicht Halt macht, erreicht hier ihren Höhepunkt in der Vielzahl von K.O.-Schlägen, die er gegen die Plattenfirma Rough Trade und deren Chef Geoff Travis landet – aus Perspektive des Autors waren es vor allem dessen Unfähigkeit und Desinteresse, die sicherstellten, dass die Smiths unverdientermaßen nie die Popularität von Bands wie U2 erlangten.

Neben der lustvollen Steinigung von Weggefährten muss allerdings auch erwähnt werden, dass das Buch von jenem großen Humor geprägt ist, der immer schon auch die Songtexte Morrisseys auszeichnete, welche weitaus witziger sind, als die ewige Assoziation mit dem einmalig in einem Songtitel verwendeten Wort »miserable« nahelegt. Von der Geburt (»Naturally my birth almost kills my mother, for my head is too big«, S. 5) über die Reihe von Showbiz-Größen, die durch das Küchenfenster seiner Wohnung ins Spülbecken fallen (weil er sich geweigert hat, ihnen die Tür zu öffnen), bis hin zu Hollywood-Stars, die seine Konzerte besuchen (Tom Hanks: »comes backstage to say hello, but I don’t know who he is«, S. 242; Liz Taylor: »Has she confused me for someone else?«, S. 243) offenbart die humoristische Ebene in diesem Text ein Spezifikum britischer Psychologie, das entscheidend auch für die weniger sympathischen Elemente von »Autobiography« ist: die Hybris im Gewand der Selbsterniedrigung.

Nachdem die Smiths begraben sind, brechen sich zwei Tendenzen Bahn, welche die zweite Hälfte des Buchs weitaus schwerer verdaulich machen als die erste: das ist zum einen die schier endlose Klage des chronisch unterschätzten und verratenen Opfers. Medien, Kollegen und vermeintliche Freunde werden immer und immer wieder der mangelnden Wertschätzung bezichtigt, was seinen wenig unterhaltsamen Höhepunkt in einer über 50 Seiten ausgedehnten minutiösen Schilderung der Gerichtsverhandlung wegen vorenthaltener Honoraranteile findet, in die der ehemalige Schlagzeuger der Smiths, Mike Joyce, Morrissey 1996 gezwungen hatte. Als Kontrapunkt dazu präsentieren sich weite Teile dieser zweiten Hälfte von »Autobiography« als Erfolgskatalog: Ticketverkaufsrekord reiht sich an Chartposition reiht sich an Zuschauerzahl – die letzten 70 Seiten des Buchs schließlich sind nurmehr eine Abfolge von tagebuchartigen Konzertdokumentationen. »Life blurs« (S. 390), auch für die Leser …

Doch trotz dieser unzweifelhaften Schwächen bleibt »Autobiography« auch im zweiten Teil punktuell bewegend. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Morrissey bei aller Verachtung für seine Umgebung ein großes Talent für die respekt- und würdevolle Behandlung jener für ihn in irgendeiner Form bedeutsamen Menschen besitzt, die ihm begegnen und ihn immer wieder verlassen – und das meint in der überwältigenden Mehrzahl: sterben.

Es ist eine stupende Anzahl von Todesfällen, die dieser Mann im Umkreis seiner Kollegen, Freunde und Familienmitglieder durchzustehen hatte. Ein Beispiel unter Dutzenden ist die Schilderung der Sängerin Kirsty MacColl, die sein Herz gewinnt, indem sie zur ersten Kooperation im Studio mit einer großen Tasche voller Dosenbier aufkreuzt, die zur engen Freundin wird, auf Morrisseys Rat hin 2000 ihren Urlaub in Mexiko verbringt, dort beim Baden von einem Motorboot überfahren wird und ums Leben kommt. Wochen nach ihrem Tod erreicht Morrissey eine Urlaubspostkarte MacColls aus Mexiko: »You know it’s you. xxx Cursed xxx« (S. 361). Das Buch ist voll von solchen Geschichten.

Nach 480 Seiten ist alles erzählt und wenig offenbart – das Änigma bleibt intakt, die Persona, die dieser Text konstruiert, bleibt einnehmend, distanziert und komplex zugleich; und dies auch trotz oder wegen der größten Enttäuschung, die der Text birgt: der Autor verweigert sich beharrlich der Erwartung, sein wertvollstes Gut zu offenbaren – der kreative Prozess des Schreibens und Singens bleibt vollständig ausgeblendet.

Der Verlag hat in Großbritannien bei Erscheinen des Buchs viel Prügel einstecken müssen, weil dem Wunsch Morrisseys entsprochen wurde, es im Imprint »Penguin Classics« zu publizieren, in dem traditionell eher wenige lebende Autorinnen und Autoren versammelt sind – und schon gar keine Debütanten! 170.000 verkaufte Exemplare und literarische Adelsschläge von u.a. Douglas Coupland (»Morrissey’s Autobiography is brilliant and relentless. Genius, really.«) und Terry Eagleton (»this superb autobiography«) später kann man Penguin für diese Entscheidung nur beglückwünschen.

Es scheint, als hätte man nicht ganz ohne Grund geahnt, dass sich das Buch als jene Krone herausstellen würde, die dem Spätwerk Morrisseys bislang noch fehlte. In seiner Schärfe und großartigen Beobachtungsgabe erinnert und aktualisiert »Autobiography« einen der innovativsten Autoren, die der Pop in den letzten drei Jahrzehnten hatte und ist darin womöglich der beste Smiths-Song, den Morrissey seit 1987 geschrieben hat.

 

Bibliografischer Nachweis:
Morrissey
Autobiography
London 2013
Penguin Classics
ISBN: 978-0-141-39481-7
480 Seiten