Ein Beitrag der Medienklasse
Viele verkaufte Bücher, wenig Anerkennung in der eigenen Peer-Group, in intellektuellen Kreisen – dieser Widerspruch weckte sofort mein Interesse. Nachdem die Auseinandersetzungen um „Deutschland schafft sich ab“ und das nachfolgende Euro-Buch nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks, sondern auch die Gefühle vieler linksalternativer Gesinnungsgenossen verletzt hatten, konnte ich mich außerdem einer gewissen Sensationslust nicht erwehren.
Um die aktuelle Diskussion richtig verstehen zu können, ist es m.E. zuerst unerlässlich, die Debatte um Thilo Sarrazins Äußerungen als öffentliche Person wenigstens in Ansätzen nachzuzeichnen. Der nächste Abschnitt stellt diese Geschichte anhand seiner letzten drei Bücher und ihrer öffentlichen Wahrnehmung dar. In einem weiteren Schritt soll die Argumentation seines dritten Buches zum Tugendterror, welches gleichzeitig eine Meta-Auseinandersetzung Sarrazins mit den Reaktionen auf die beiden ersten Bücher darstellt, genauer vorgestellt werden. In einem dritten Teil versuche ich mich an einer kritischen Auseinandersetzung mit seinem Argumentationsgang, bevor ein abschließendes Fazit Möglichkeiten eines Rückschlusses auf die gesellschaftliche Konstellation ausloten will, die sich aus einer Auseinandersetzung mit Sarrazins Büchern ergeben. Die persönliche Bewertung von Sarrazins Text möchte ich mir hierbei, soweit eben möglich, für die letzten beiden Abschnitte aufheben
Wer ist (und was will) Thilo Sarrazin (mit seinen letzten drei Büchern)?
Es lässt sich wohl mit einiger Sicherheit sagen, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit den Diskussionsbeiträgen Thilo Sarrazins zu den wichtigsten (internen) Kontroversen der deutschsprachigen Öffentlichkeit zählt. Als wesentlicher Indikator kann hierbei einerseits die Beteiligung zahlreicher Journalisten, Publizisten und Wissenschaftler gelten. Dass die Diskussion immer wieder große Aufmerksamkeit auf sich zog, lag zum anderen aber auch an ihren thematischen Schwerpunkten, den Themen der Integrations- und Bevölkerungspolitik sowie des europäischen Währungsraums, die im Blickpunkt der öffentlichen Meinung im Allgemeinen stehen.
Zwar haftete Sarrazin bereits in seinem Amt als Berliner Finanzsenator der Ruf eines Querulanten an. Politisch richtig auffällig wurde er (nachdem er sich mit vorherigen Kürzungs- und Aktivierungsplädoyers noch einigermaßen inkognito im sozialdemokratischen Modernisierungsspektrum bewegen konnte) aber erst, als er im Jahr 2008 Ernährungshinweise für Hartz IV-Empfänger ausgab. Da er zu diesem Zeitpunkt bereits die Veröffentlichung seines Buches geplant haben muss, ist es gut denkbar, dass hierin ein gewisses Kalkül steckte – der Skandal sollte sein wichtigstes Promotion-Tool werden. Im Folgenden stelle ich kurz die drei letzten Monographien Sarrazins als Meilensteine seiner Profilierungsgeschichte vor.
Die Auseinandersetzungen um Sarrazins erstes Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2010) ergaben sich keineswegs aus dem Nichts. Das Genre einer integrationskritischen Berichterstattung gehört schon seit Jahrzehnten zum Kanon der deutschen Medien und Publizistik (Geißler/Pöttker 2005).
Dass entsprechende Darstellungsformen nicht nur in erhöhter Häufigkeit, sondern auch mit einer immer stärker wahrnehmbaren Systematik hervortraten (‚westliche und östliche Kulturen sind inkompatibel; das Zusammenleben ihrer Angehörigen ist per se problematisch‘), verstärkte sich seit dem Karikaturenstreit des Jahres 2005. Eine zunehmende Berichterstattung nicht nur von Seiten der üblichen Verdächtigen (Springer etc.), sondern auch durch vermeintliche Qualitätsveröffentlichungen wie den „Spiegel“ übertrug die von Huntington (2002) unter dem Oberbegriff eines ‚Kampfs der Kulturen‘ bemühte Konfliktlinie in eine alltagsmediale Erscheinung.
Auch im Genre des integrationskritischen Sachbuches steht „Deutschland schafft sich ab“ nicht alleine – siehe etwa die Veröffentlichungen der ehemaligen Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig (2010) oder des Neuköllner Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky (2012). Allgemein gesprochen zeichnen sich die Publikationen aus dieser Literaturgattung durch eine sehr plastische Form der Darstellung der durch sie adressierten Probleme aus. So zitiert etwa Buschkowsky (ebd.: 225) einen Berliner Polizeibeamten, um die Gefahr des abweichenden Verhaltens (post-)migrantischer Jugendlicher zu illustrieren: „Wer zeigen will, dass er ein vollwertiger Mann ist, muss jemanden mit einem Messer verletzt haben.“
Der Bezug auf hegemoniale (westlich-mehrheitsgesellschaftliche) Institutionen wie Polizei oder Schule (siehe z.B. die ebenfalls von Buschkowsky bemühten Morddrohungen gegen eine Kopftuch-kritische Lehrerin) dienen zur Untermauerung der politischen Dringlichkeit einer öffentlichen Auseinandersetzung. Dass Angehörige vermeintlicher Problemgruppen in den Publikationen des Genres nicht zu Wort kommen, wird nicht weiter problematisiert.
Neben der (mehr oder weniger) latenten Darstellung zu integrierender (Post-)Migranten als Problemgruppe zeichnen sich die Texte in aller Regel dadurch aus, dass die Thematisierten selbst nicht zu Wort kommen. Was Jugendrichterin Heisig, Finanzsenator a.D. Sarrazin oder Bezirksbürgermeister Buschkowsky denken, gilt erst mal als gesetzt. Möglicherweise kommt noch eine Schulleiterin zu Wort, die von Morddrohungen gegen ihre Person berichten kann. Insgesamt geht es aber in erster Linie darum, was die Amtsträger über ihre Klienten (bzw. Wähler) denken, nicht umgekehrt.
Der Begriff der Integration birgt in diesen Darstellungen „stets eine negative Diagnose“ (Terkessidis 2010: 9): „Es gibt Probleme, und die werden verursacht durch die Defizite von bestimmten Personen, die wiederum bestimmten Gruppen angehören“ (ebd.). Es ist zu vermuten, dass hierin zu einem wesentlichen Teil der Reiz liegt, der für viele Rezipienten von der Lektüre (oder mindestens der Anschaffung) der Bücher ausgeht.
Dass die hier skizzierten Argumentationen nicht so richtig abwechslungsreich sind (Politiker rechts von Sarrazin bringen sie praktisch unablässig vor), kompensiert Sarrazin durch einige scharfe Äußerungen im Vorfeld. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit erzielt er mit dem folgenden Zitat in „Lettre International“: „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.“
Den geringeren Erfolg von Sarrazins folgendem Euro-Buch erklärt zum Teil sicher, dass die Problemanalyse nicht auf eine gleichermaßen klare Abgrenzung zwischen Freund und Feind aufgebaut werden konnte. Ähnlich wie in den anderen beiden Büchern zeichnen sich zwar seine Ausführungen zum Euro durch argumentative und sprachliche Aggressivität aus. Analytische Verfehlungen wie die (vermutlich unbewusste) Adaption eines Kulturbegriffs, der in seinem Holismus an Herder erinnert, bringen Sarrazin zu einer Reihe kulturalistisch-rassistischer Implikationen – er nennt das „Mentalitäten der Völker“. Anders als von verschiedenen Kritikern angemerkt, findet sich ein offener Nationalismus im Buch jedoch nicht und es wird – anders als der Titel das suggeriert und undifferenzierte Rezensionen des Buches dies unterstellten – auch keine Auflösung der Eurozone gefordert (vgl. Höpner 2012).
Sarrazins Argumentationsgang im „Neuen Tugendterror“
Die spezifische Bedeutung des Tugendterror-Buches erschließt sich vor dem Hintergrund der seit kurz vor „Deutschland schafft sich ab“ entbrannten Diskussion um die Person und Äußerungen Sarrazins. Ausgangspunkt seiner Kritik stellt ein Bündel seiner Ansicht nach so weit verbreiteter wie problematischer Auffassungen dar, die er im Rahmen der Kontroverse wahrgenommen hat. In Verbindung mit der allgemeinen Akzeptanz gegenüber gesellschaftlichen Zuständen, die von ihm in vorherigen Veröffentlichungen als inakzeptabel identifiziert worden sind, problematisiert Sarrazin (2014: 15f) einen allgemein verbreiteten Mangel an Bereitschaft, entsprechende Zustände in Frage zu stellen.
Demgegenüber stellt der Autor selbst sich in einen neo-aufklärerischen Zusammenhang, in dem es darum geht, den abendländischen Kulturkreis zu derjenigen „Freiheit des Denkens und Forschens“ zurückzuführen, „die seit der frühen Renaissance auf allen Gebieten um sich griff“ (ebd.: 24). Dass er – der eigenen Behauptung gemäß – selbst zur Zielscheibe rückwärtsgewandter Attacken geworden ist, kommt der Darstellung insofern zugute, als so genügend Anschauungsmaterial zur Illustration seiner Argumente zur Verfügung steht.
Neben der Funktionsweise der Massenmedien analysiert Sarrazin außerdem deren Verbindung zu einer Reihe von Grundwerten, die von Seiten der „Medienklasse“ (und einer nicht näher spezifizierten Lobby von Politikern und anderen) offensiv vertreten werden. Als kleinsten gemeinsamen Nenner der von ihm identifizierten Ausprägungen dieser „politisch korrekten“ Grundwerte beschreibt Sarrazin das Gleichheitspostulat als zentralen Bezugspunkt zur Gestaltung sozialer Ordnung. In seiner Allgemeingültigkeit bedinge die Forderung nach sozialer Gleichheit nicht nur gesellschaftliche Dysfunktionen, sondern sei oftmals schlichtweg ungerecht (und kritisieren könne man sie auch nicht ungestraft).
Medienherrschaft, Denkverbote, Infragestellung der Grundwerte der westlichen Zivilisation und Ideologiekritik – das alles klingt vermutlich erst mal ziemlich spannend. Aber doch auch ziemlich abstrakt oder? Nein keineswegs! In seinem Anliegen beschränkt sich der ehemalige SPD-Politiker nicht auf die sophistische Reflexion, sondern beabsichtigt einen praktischen Beitrag zur Lösung einer festgefahrenen Konstellation. Weil Deutschland (und westliche Gesellschaften im Allgemeinen) viele Probleme hätten, die sie auf Grund verzerrter Wahrnehmungen nicht lösen könnten, möchte Sarrazin einen Denkanstoß geben.
Wie schon Jürgen Habermas (2011: 271) bemerkt, ergibt sich die Legitimität sozialer Ordnung „aus dem Legitimationspotential verfügbarer Ideen und Weltbilder.“ Mit seiner Ausgangsfrage nach der wahrgenommenen Berechtigung politischer Argumente im öffentlichen Diskurs bewegt Sarrazin sich auf dem Terrain des mediensoziologischen Kerngeschäftes. Eine wesentliche Bedeutung medial vermittelter Diskussionen liegt demnach darin, „mittels moralischer Kriterien und Beobachtungsweisen die Gesellschaft (über sich selbst) [zu] alarmieren“ (Ziemann 2012: 72).
Richtig ist hier auch Sarrazins (2014: 27) Beobachtung, nach der unterschiedliche Sprecherpositionen mit unterschiedlichen Beeinflussungspotenzialen gegenüber dem Verlauf dieser Diskussionen versehen sind. In der Nutzung dieser Potenziale erkennt er nun „eine eigene Weltsicht und daraus folgende Agenda, die durchweg deutlich links vom Publikum angesiedelt ist“ (ebd.: 154). Hieraus ergebe sich die Gefahr, „dass die gesellschaftliche Diskussion und insbesondere die veröffentlichte Meinung Fragestellungen verkürzen und einschränken bzw. bestimmte Fragen und mit ihnen verbundene Antworten unter ein Tabu stellen“ (ebd.: 14).
Unter dem semantischen Diktat linker Meinungsmacher erscheine im öffentlichen Diskurs nun nicht das objektiv Richtige, sondern vielmehr das sozial Angemessene als Wahrheit. Dass dies die vernünftige Diskussion sozialer Probleme (inklusive unangenehmer Sachverhalte) verunmögliche, versucht der Autor nun anhand der Reaktionen auf seine Beiträge zu den politischen Debatten der letzten Zeit zu belegen. Aufbauend auf Schilderungen vermeintlich absichtlicher Falschdarstellungen (wie z.B. durch suggestive Schnitte in der ZDF-Sendung „Aspekte“, vgl. ebd.: 105) stilisiert Sarrazin sich zum subversiven Underdog der deutschsprachigen Publizistik.
Nachdem Sarrazin im Einklang mit dem allgemein bekannten Sinnspruch einer bekannten deutschen Tageszeitung („Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht“) wichtige politische Probleme adressiert hatte, erschien es also nur als eine Frage der Zeit, bis die linksalternative Journalistenzunft sich zur Abwehrformation zusammenfügte – „das Gleichheits-Imperium schlug zurück“ (ebd.: 341).
Zur Illustration seines Außenseiterstatus bemüht Sarrazin eine Reihe historischer Referenzen, vom griechischen Philosophen Sokrates, der vor einem attischen Gericht zum Verzehr eines tödlichen Gifts aus dem sog. ‚Schierlingsbecher‘ verurteilt wurde (ebd.: 32), über subversive Elemente in der Wehrmacht und Regimekritiker in der DDR (ebd.: 50), die Zensur durch die katholische Kirche im Mittelalter (ebd.: 51) bis hin (wenn auch nicht historisch-empirisch, sondern fiktional) zur ersten der beiden Star-Wars-Trilogien (341).
Solcherlei Darstellungen mögen nun überzogen wirken. Völlig aus der Luft gegriffen sind sie – meiner Meinung nach – jedoch nicht. Anhand des Echos auf Sarrazins „Tugendterror“ lässt sich dies beispielsweise durch die Reaktion Jakob Augsteins illustrieren, der hier auch vor aggressiven Psychologisierungen nicht zurückschreckt. Bei der Selbstdarstellung Sarrazins handele es sich demnach um die „Entfaltung einer narzisstischen Persönlichkeit“ (Augstein 2014). Und es lässt sich sicherlich fragen, ob der Verleger und anerkannte Sohn Rudolf Augsteins nicht einer Dämonisierung des Finanzministers a.D. das Wort redet, wenn er ihn in seiner Kritik als „böse[n] Geist der sozialen Kälte“ bezeichnet.
Vor dem Hintergrund derartiger Reaktionen lässt sich nun fragen, inwiefern die polemischen Attacken Sarrazins nicht vor allem als Versuche interpretiert werden sollten, eine öffentliche Kränkung zu kompensieren. Das ist gut möglich (aber möglicherweise auch falsch). Worauf ich mich im Folgenden konzentrieren möchte, ist in erster Linie die unmittelbar politische Dimension von Sarrazins Selbst-Stilisierung. Wenn Berichterstattung im Wege der Massenmedien also, wie Sarrazin unterstellt, einer politischen Schlagseite unterliegt, so lässt sich aus einem demokratietheoretischen Blickwinkel hier ein Elitenproblem (empirisch übrigens bestätigt von Hartmann 2013), feststellen.[1]
Indem sich Sarrazin nun in die – von ihm eigens zu diesem Zweck ins Skript geschriebene – Rolle des unbequemen Kritikers begibt, erweckt er den Eindruck, er verleihe lediglich dem Ausdruck, was ohnehin die meisten dächten. Und diese Einschätzung wird dann auch gleich theoretisch untermauert. „Die Medienklasse glaubt mehrheitlich, sie sei aufgeklärter und politisch reifer als der gemeine Bürger, und der typische Politiker glaubt dies im Grund auch“ (Sarrazin 2014: 28).
Die Meinungsmacher aus Presse und Rundfunk sind demnach nicht nur deutungsmächtig, sondern auch vollkommen entrückt. Abbilden tun sie nur das, was sie selbst für richtig halten. Und weil sie eben so entrückt sind, stimmt dies meist nicht mit dem überein, was der kleine Mann auf der Straße (welcher von Sarrazin übrigens an keiner Stelle so bezeichnet wird; sic!), denkt.[2]
Während auf der einen Seite Vertreter der ‚Medienklasse‘ nun denjenigen Politikern, die brennende gesellschaftliche Probleme lediglich verwalten, anstatt sie zu lösen, einen diskursiven Persilschein ausstellen, sieht Sarrazin nicht tatenlos zu. Gnadenlos legt er deren Schaffen offen und erkennt in seiner pointierten Kritik das „Weltbild der Verharmloser und Schönfärber im harmoniefreudigen Müsli-Milieu“ (ebd.: 99).
Die Konstellation ist also klar benannt. Sarrazin weiß, was die Leute denken, Politiker wissen es nicht (oder wollen ihr demokratisches Mandat zumindest in keine entsprechende politische Praxis überführen). Und da Sarrazin die diskursive Schönfärberei durchschaut und ausspricht, was ohnehin schon fast alle denken, hat er ja auch den ganzen Ärger mit den Journalisten und Politikern, die sich von ihm natürlich nicht entlarven lassen möchten.
Dass die Konfliktlinie hierbei nicht unbedingt entlang etablierter politischer Lager verläuft, zeigt u.a. die Kritik, die Sarrazin etwa an der Berichterstattung des „Spiegel“ (ebd.: 56) über ihn äußert. Mit seinen Titelstories über die „Stille Islamisierung Deutschlands“ (13/2007) oder die „Migration der Gewalt“ (2/2008) hat das Hamburger Blatt in der Vergangenheit ja mehrfach bewiesen, dass es einem integrationskritischen Populismus nicht abgeneigt ist. Dass „Der Spiegel“ als Bündnispartner für Sarrazin nicht in Frage zu kommen scheint, illustriert seinen zwanghaften Abgrenzungsbedarf, der zum Zwecke seiner dichotomen Rahmenerzählung (Wahrheitsfinder vs. verharmlosungsinteressierter Journalisten-Politiker-Klüngel) unbedingt gedeckt werden muss.
Da er sich in seinem Text gegen die sinnstiftende Kraft hegemonialer Deutungsschemata (abstrakt) richtet, welche durch eine Koalition zwischen Angehörigen der „Medienklasse“ (ebd.: 35) und führenden Politikern (konkret) aufrechterhalten würden, lässt sich in Sarrazins Text eine ideologiekritische Absicht identifizieren. Eine besondere Kraft soll diese Ideologiekritik deshalb entfalten, weil sie – laut Sarrazin – werturteilsfrei erdacht und vorgetragen worden sei (vgl. ebd.: 116).
Dass dieser Eindruck vor allem zu Anfang der Debatte um „Deutschland schafft sich ab“ entstanden sein mag, hängt sicherlich nicht zuletzt mit einer entsprechenden Berichterstattung zusammen – Magazine wie „Der Spiegel“ stellten Sarrazin hier in der Rolle des leidenschafts-, aber auch schonungslosen Aufklärers dar. Da der Inhalt von Sarrazins Äußerungen nun wenig Anlass zur Bestätigung seiner Neutralität gibt (siehe die ausführlichere Darstellung weiter unten), wendet er zwei verschiedene Strategien an, um den Tatsachen einen gegensätzlichen Anschein zu geben:
Zum einen sind das rhetorische Spielereien, wie das von Arthur Koestler geborgte Bonmot der „Überlegenheit eines schönen Irrtums über eine schäbige Wahrheit“ (ebd.: 189). Seine (subjektiver Eindruck: teilweise sogar ganz gute) Polemik trägt ihn hier über die inhaltlichen Untiefen seiner Argumentation (hierauf möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen). Die zweite Strategie ist die Zuschreibung inhaltlicher Voreingenommenheit an seine Gegner. Sarrazins Hauptargumentation resultiert aus seiner Kritik eines rhetorischen Regulativs, welches er im von ihm identifizierten Komplex der Political Correctness erkennt.
Die Haltung der Political Correctness erwachse, so Sarrazin (ebd.: 36), aus dem „Grundimpuls, Einstellungen und Werthaltungen zu ächten, die man als moralisch verwerflich oder gesellschaftsschädlich empfindet.“ Als umfassende Ideologie (wobei nicht ganz klar wird, wie umfassend sie eigentlich ist, Sarrazin zum Beispiel durchschaut sie ja) regelt sie „mit impliziter oder expliziter Verbindlichkeit den Kreis des Sagbaren und die dabei zu wählende Ausdrucksweise“ (ebd.).
Als wesentliches Problem der Political Correctness gilt Sarrazin – neben ihrer Meinungsfreiheit beschränkenden Wirkung – ein von ihm diagnostizierter Mangel an inhaltlicher Absicherung und eine tendenziöse Kanalisierung öffentlicher Diskussionen. Gradmesser ist hier nicht empirische Wahrheit, sondern eine gesellschaftliche Übereinkunft darüber, welche Äußerungen angemessen sind (und welche eben nicht), laut Sarrazin (ebd.: 35) „ein recht hermetischer Code des Guten, Wahren und Korrekten, der große Teile der Medienklasse dominiert.“
Nun wiese die Haltung der Political Correctness zwar deutliche inhaltliche Konturen auf, wäre aber in der Praxis wohl weniger relevant, wenn sie sich auf eine Ansammlung ideeller Komponenten beschränken würde – da sich ja niemand gern den Mund verbieten lässt, würde die Auffassung allein nicht genügen, um ungeliebte Zeitgeistkritiker wie Sarrazin zum Schweigen zu bringen. Aus seiner Sicht liegen die Dinge daher etwas komplizierter: Es sei nämlich so, dass die „Medienklasse“ ihre Deutungsmacht zur Sanktionierung von Äußerungen nutze, die von der herrschenden, politisch korrekten Meinung abwichen.
Neben einer Einschränkung von Rede- und Gedankenfreiheit beklagt Sarrazin auch die Schwere der entsprechenden Sanktionen. Der manipulative und sanktionierende Einfluss der Medien verdichte sich zu einem Regime des „Meinungsterrors“ (ebd.: 42). Für abweichende Äußerung gälten gleichsam „die emotionalen Gesetze einer vormodernen Stammesgesellschaft“ (ebd.: 31). Diese Sanktionierung spielt er im Verlauf des Textes immer wieder an seinem eigenen Fall durch. Vermeintlich ungerechtfertigte Vorwürfe von Rassismus und Biologismus hätten Kritikern zahlreiche Anlässe zu ungerechtfertigter und personalisierter Kritik gegeben.
Während solche Sanktionen zwar einen Teil des beschriebenen Terrorregimes ausmachen, funktioniert die öffentliche Meinungsmache dem Autoren zufolge subtiler. Zur Veranschaulichung der sinnstiftenden Kraft bemüht Sarrazin die Parallele zu George Orwells Roman „1984“, in dem die handelnden Mitglieder einer totalitären Gesellschaft mit einer neuen Sprache („Newspeak“) gefügig gemacht werden sollen. Entsprechende Tendenzen sieht Sarrazin auch in der Gegenwart: Zigeuner würden heute Sinti und Roma genannt, Schwarze in Kinderbüchern nicht mehr als Neger bezeichnet, und das, was gemeinhin als ‚geschlechtergerechte Sprache‘ bekannt ist, sei auch irgendwie problematisch.
Worin genau diese Problematik besteht, ist mir leider nicht ganz klar geworden. Möglicherweise geht es Sarrazin um eine vermeintliche Verharmlosung der politischen Konsequenzen, die sich seiner Meinung nach aus dem Verhalten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (Migranten, Post-Migranten, Frauen und Schwarze?) ergeben. In diesem Sinne beschreibt jedenfalls Sarrazins Gesinnungs- und Parteigenosse Heinz Buschkowsky (2012: 12) in seinem Buch „Neukölln ist Überall“ die Political Correctness als „meist nur ein Alibi für die professionelle Tatenlosigkeit.“
Im nächsten Abschnitt sollen die Argumente etwas genauer unter die Lupe genommen und mit ähnlichen oder abweichenden Positionen kontrastiert werden.
Beurteilung der Argumentation
Dass sich an Sarrazins Argumentation eine Menge aussetzen lässt, zeigte eine Vielzahl von Repliken, Rezensionen und sonstigen Kommentaren, deren Echo in der Regel negativ ausfiel.[3] Während die Kritik hier zwar stellenweise recht pointiert, allerdings eben meist nur auf einzelne Aspekte hin zugespitzt vorgetragen wurde, lässt sich das verbreitete Unbehagen gegenüber Sarrazins „Tugendterror“ auf einen Komplex von vier grundsätzlichen Problemen in seiner Argumentation zurückführen:
Aufbauend auf einer tendenziösen Ausdrucksweise (1) und der systematischen Verfälschung von Tatsachen (2) etabliert Sarrazin die Kritik der Political Correctness (3) als Kernstück seiner Argumentation, die er schließlich durch eine Reihe verkürzter (oder ausgedachter) theoretischer Analogien aus dem Fundus des Geistes- und Sozialwissenschaften (diesmal keine Biologie) abzusichern versucht (4).
Die Sprache ist also das wichtigste Werkzeug Sarrazins. Schwungvoll und in deutlichen Worten lässt er keinen Zweifel daran, worum es ihm geht. Schonungslos benennt er Angelegenheiten, die er als Missstände identifiziert, und schreckt dabei auch vor fürchterlichen Witzen nicht zurück (z.B. die Verballhornung „Mensch/innen“ als politisch korrekt ge-genderte Form von „Menschen“; Sarrazin 2014: 44). Die Alliteration im Titel veranschaulicht deutlich, auf welchem Niveau sich das in der Regel abspielt.
Nicht nur gelingt es Sarrazin auf diese Weise, politische Zusammenhänge wesentlich weniger komplex darzustellen, als sie es tatsächlich sind. Gleichzeitig suggeriert er auch eine Form der Bodenständigkeit, die ihm im Vergleich mit den entrückten Politikern ‚da oben‘ glaubwürdig erscheinen lässt. Sarrazin beschäftigen wesentlichere Probleme als geschlechtergerechte Sprache. Das sind idealistische Kopfgeburten. „Tatsache ist, dass man als Deutscher in Neukölln nicht mehr auf die Straße…“, „Wer in Deutschland nur […], ist gleich ein […]“ (usw. usf.).
Eine besondere Note gewinnen Sarrazins Sprachspielereien bei den Exkursionen, die er in sein technokratisches Traumland unternimmt (hier wäre die Welt wieder in Ordnung). Jenseits leidenschaftlicher Verirrungen, die das Tagesgeschäft deutscher Sozialpolitik gegenwärtig bestimmen, werden Entscheidungen hier mit Augenmaß getroffen. Beispiel gefällig? „Der Wirtschaftsflüchtling muss weder idealisiert noch verteufelt werden, er muss aus Sicht deutscher Interessen schlichtweg verhindert werden. Das geht aber nur, wenn man das Phänomen erkennt, benennt und quantifiziert“ (ebd.: 2014: 182). Naja, idealisieren tut er ihn nicht. Verteufeln aber schon eher. Und dass die Holocaust-Analogie unabsichtlich gewählt wurde, glaube ich persönlich auch nicht. Aber aus der Tatsache, dass so etwas eben nicht beweisbar ist, ergibt sich genau die Grauzone, die Sarrazin für seine immergleichen Provokationen nutzt.
Rhetorische Überspitzung ist also ein zentrales Merkmal der Sarrazinʼschen Argumentationsweise. Was dabei mitunter auf der Strecke bleibt, ist die inhaltliche Richtigkeit seiner Aussagen. Zur Veranschaulichung nutzt Sarrazin häufig Analogien. Das Problem ist nur, dass der bezeichnete Sachverhalt von der bildhaften Darstellung nur unzureichend abgebildet wird (vgl. etwa ebd.: 171; 181). Während Sarrazin zwar (wenigstens offenkundig) nichts grundsätzlich Falsches behauptet („Alle Ausländer sind kriminell“), dienen viele kleine Fehldarstellungen einer entsprechenden Suggestion.
Im Interview mit dem Nachrichtensender N-TV behauptet Sarrazin beispielsweise, „die Genderforschung“ streite Unterschiede zwischen den Geschlechtern grundsätzlich ab. Angestrebte Reaktion: ‚Ja, sind die denn bescheuert, die Feministinnen? Klar gibt es Unterschiede, das weiß jeder!‘ Auf diese Weise gelingen Sarrazin nun zwei Dinge: Die mit der Genderforschung assoziierte Position der Geschlechtergerechtigkeit wird ins Lächerliche gezogen und die Vertreter des Wissenschaftszweiges als Sprecher diskreditiert. Ein besonderes Kunststück ist Sarrazin hiermit insofern gelungen, als die Verneinung von Unterschieden zwischen „den Geschlechtern“ keineswegs als einhelliger Befund der Geschlechterforschung gelten kann (Becker/Kortendiek 2010).[4]
Als weiteres wesentliches Werkzeug im Repertoire des Berufsprovokateurs nutzt Sarrazin schließlich die Strategie einer Relativierung der eigenen Aussagen, die er im selben Interview als teilweise „zugespitzt und ironiegesättigt“ bezeichnet (ebenfalls ein Bestandteil der oben vorgestellten Grauzone).
Als Kern seiner Kritik am Tugendterror-Regime setzt Sarrazin sich mit der ‚Haltung‘[5] politischer Korrektheit auseinander. Das ist mir persönlich erst mal sympathisch, denn ich glaube auch an die Existenz rhetorischer Regulative, durch die mitbestimmt wird, welche Angelegenheiten auf welche Weise thematisiert werden (können). Meine Absicht einer wohlwollenden Auseinandersetzung mache ich an dieser Stelle also ganz offiziell und transparent. Und bis hierhin erscheint mir das Ganze auch noch relativ unspektakulär – kein vernünftiger Mensch würde die Existenz solcher Regeln bestreiten. Abstrakt gesprochen würde wohl auch jeder der grundsätzlichen Aussage beipflichten, dass eine Moralisierung sachliche Diskussionen häufig erschwert.
Aber was ergibt sich daraus? Mindestens genau so skeptisch sollte man meiner Meinung nach reagieren, wenn jemand wie Sarrazin vorgibt, sachliche von moralisierenden Diskurselementen trennen zu können. Das ist wahrscheinlich mindestens Quatsch und je nach politischer Salienz des Themas gefährlich. Gegen die Darstellung der Funktionsweise des PC-Komplexes nach Sarrazin lassen sich also eine Reihe verschiedener Einwände formulieren:
In Sarrazins Darstellung ist politische Korrektheit ein externer Handlungszwang. Während er zwar – das muss man ihm zugutehalten – an verschiedenen Stellen auf die manipulative Wirkung medialer Darstellungen eingeht, unterstellt er der Aufrechterhaltung politisch korrekter Sprachregeln in der Öffentlichkeit einen Zwangscharakter,[6] den er unter Verweis auf den Einfluss der US-amerikanischen Frauenbewegung erläutert: „In vielen amerikanischen Sachbüchern wechseln Autoren mittlerweile regelmäßig das Geschlecht des Subjekts, um sich nicht aus der feministischen Ecke angreifbar zu machen“ (ebd. 172).
Ob das so richtig ist, ist wenigstens anzuzweifeln (nein, halt, es ist BLÖDSINN!). Möglicherweise sind ja doch keine Verschwörer am Werk, sondern Leute möchten freiwillig auf die Verwendung sprachlicher Elemente verzichten, durch die andere sich – ihrer eigenen Aussage gemäß (vgl. etwa Sow 2009) – angegriffen fühlen. Hier würde Sarrazin nun vermutlich entgegnen, dass es ja wohl eindeutig dem „Moralin-getränkten Diskurs“ (bzw. irgendeine andere typische Sarrazin-Formulierung) zu Lasten ginge, wenn die Leute so dächten. Das kann natürlich durchaus sein, wäre aber dann ein anderes Argument, dass man der logischen Stringenz halber nicht mit dem hier referierten vermischen sollte.
Interessant erscheint weiterhin die Frage, wie jemand, der feindselig von Kopftuchmädchen und Gemüsehändlern schreibt, für sich berechtigterweise nicht nur Absolution von anti-rassistischer Kritik, sondern gleichzeitig auch den Status eines wertfreien Beobachters einfordern kann (die Antwort ist einfach: gar nicht). Die Dichotomisierung moralischer und leidenschaftsloser Diskussion ist darüber hinaus falsch auf mehreren Ebenen: Zwar ist es richtig, dass Moralisierung (mir ist immer noch nicht klar, was das genau sein soll) Diskussionen schwieriger macht. Was ethisch angemessen ist und was nicht, sehen viele Leute unterschiedlich. Eine Entmoralisierung (was ist das nun wieder? Und fordert Sarrazin die eigentlich wirklich?) würde entsprechende Diskussionen jedoch ebenso erschweren, häufig sogar verunmöglichen. Formal-juristisch könnte man z.B. nicht über Abschiebungen diskutieren, weil dies eine pauschale Reifizierung und Entschuldigung bürgerlichen Rechts bedeuten würde.[7]
Ist also alles schlecht an Sarrazins Ausführungen? Ich finde nicht. Dass die Sprache das Haus des Seins ist, gilt in Kulturphilosophie und Wissenssoziologie nicht umsonst als geflügeltes Wort. Dass sprachlichen Bezugssystemen eine Tendenz zum Euphemismus innewohnen (und sogar induziert werden) kann, haben schon andere, klügere Fachvertreter herausgefunden.[8] Auch die Tatsache, dass der Umgang mit von rhetorischen Regeln Abweichenden hart und ungerecht sein kann, ist nicht wirklich neu (obwohl der eine oder andere evtl. hier möglicherweise überrascht reagieren mag). Kritik an Sarrazin ist billig zu haben und kann vor allem im linken Spektrum ein günstiges Identifikationsangebot darstellen. So richtig skandalös finde ich das allerdings nicht.
Kommen wir schließlich zur sozialtheoretischen Einordnung von Sarrazins Argumenten. Verglichen mit den anderen beiden Büchern bedient sich der Autor für seine Kritik des Tugendterrors im Repertoire der Sozial- und Kulturwissenschaft. Das ist erst mal gut, beruht sein Vorhaben doch ganz grundsätzlich auf einer Fragestellung, die man in ähnlicher Form in den Arbeiten zahlreicher Fachvertreter wiederfinden kann. Auch in kulturkritischer Absicht übers Ziel hinaus zu schießen ist schon anderen Kollegen passiert. Seine passionierte Tätigkeit als Hobby-Sozialwissenschaftler kann man also durchaus schätzen. Dass er auf diese Weise mehrere Millionen Bücher verkaufen konnte, muss man zumindest anerkennen.
Besonders erscheint mir aber die Frage nach einem impliziten gesellschaftlichen Konsens und seiner Gestaltung als Objekt machtpolitischer Ambitionen einer Würdigung wert (ähnlich grundsätzliche Auseinandersetzungen finden sich etwa bei Antonio Gramsci). Dass Sarrazin den Rahmen für seine Theorie der Meinungsbildung durch Medien unter Bezug auf Lippmann, Freud, Luhmann, Goethe, de Tocqueville und Machiavelli (um nur mal einige zu nennen) entwickelt, verdeutlicht einmal mehr, dass sich hier jemand nicht scheut, ein ganz großes Fass anzustechen.
Was folgt, ist dann aber bestenfalls abenteuerlich: Eine Irrfahrt durch die Kultur- und Gesellschaftstheorie, auf der hier und da mal angehalten wird (etwa um Freud mit Einsichten der Verhaltensökonomik zu mischen, vgl. ebd. Kapitel 3 und S. 145), ohne dass sich ein kohärenter Ansatz erkennen ließe.[9] Unangenehm sticht z.B. auch Sarrazins Kritik an Luhmann hervor. Dieser übergehe „die Frage, ob die Gesetze der Mediengesellschaft so sind, dass auch die ‚richtigen‘ Themen auf die Tagesordnung kommen und gesellschaftlich verhandelt werden“ (ebd. 2014: 138). Abgesehen von dem Kontrast, in dem die vermeintlich wertfreie Herangehensweise Sarrazins zu diesem Einwand steht, liegt dieser Einschätzung eine eklatante Fehl-Rezeption Luhmanns zu Grunde.
Abgesehen von solchen grundsätzlichen Verfehlungen zeichnet sich Sarrazins Argument insgesamt durch seine Unklarheit aus. Das ist wohl im Konzept so angelegt, denn es ist gerade die begriffliche Unschärfe, die seine Argumentation ermöglicht.[10] Wer genau ist die Medienklasse? Wie genau nimmt sie Einfluss? Wie verlaufen Rezeptionsprozesse im Wechselverhältnis zwischen Adressaten und Sender? Das alles bleibt leider offen.
Insgesamt hat man es bei der Arbeit Sarrazins also nicht mit einer Theorie im wissenschaftlichen Sinne zu tun. Als Genrebezeichnung eignet sich meiner Meinung nach eher etwas zwischen ‚tendenziöse Beschreibung‘ und ‚Kampfschrift‘. Das ist natürlich legitim, entspricht nur eben nicht den Prinzipien des Kritischen Rationalismus, mit dessen Tugenden Sarrazin so gern kokettiert. Auch der Charme liberaler Herrschafts- und Totalitarismus-Kritik, den er sich offenkundig von Poppers „Offener Gesellschaft“ abgeschaut hat, soll wohl den Rückschluss auf Sarrazin als Freigeist nahelegen.[11] Das ist persönlich unangenehm und inhaltlich falsch.
Man könnte jetzt noch weiter schreiben und erwähnen, dass Sarrazins Ausgangsannahme, deutsche Medien unterlägen bei der Berichterstattung über Integration von Migranten einem politischen Linksdrall, nicht richtig ist.[12] Auch die These, dass Medienvertreter in der Mehrzahl Germanistik und Politikwissenschaft studiert hätten und daher zur praxisorientierten Bearbeitung sozialer Probleme nicht im Stande wären (ebd.: 26), verdient in der kritischen Auseinandersetzung eigentlich mehr Aufmerksamkeit.[13] Und auch diese Aufzählung hier könnte im Prinzip noch weiter geführt werden. Stattdessen lassen wir es aber gut sein und kommen zum Fazit.
Fazit
Nachdem nun die Argumentation Sarrazins im „Neuen Tugendterror“ im Zusammenhang der Debatte um ihn und seine letzten drei Bücher vorgestellt, im Detail nachvollzogen und auf vier zentrale Punkte hin zugespitzt kritisiert wurde, möchte ich in diesem letzten Abschnitt einige Schlussfolgerungen anstellen.
Zuallererst ist mir wichtig zu betonen, dass der Kommentar zu Sarrazins Buch nicht nur verächtlich gemeint war. Ich denke, es ist deutlich geworden, dass ich weder Sarrazin noch seine Texte besonders schätze. Das heißt aber nicht, dass ich alles, was er schreibt, für Schwachsinn halte. Das Gegenteil ist der Fall. Die Frage, wie Argumente im öffentlichen Diskurs ihre Legitimität gewinnen (oder auch nicht), und welche Themen dabei auf welche Art diskutierbar werden (oder auch nicht), ist für die Sozialwissenschaft (und hierzu zähle ich in diesem Fall auch Ethik und politische Philosophie) von besonderer Bedeutung.
Auch stimme ich mit Sarrazin darin überein, dass es abstrakte Dynamiken (und auch konkret benennbare politische Projekte) gibt, die auch in westlichen Gesellschaften auf eine aggressive (mitunter gewaltförmige) Art und Weise die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen wollen (die Verhinderung von Sarrazins Lesungen wäre hierfür ein Beispiel).
Politisch lässt sich das Ganze nicht so leicht einordnen. Seine Klagen über mangelnde Demokratiefähigkeit der Medienklasse verleihen Sarrazin mitunter den Anschein eines besorgten Liberalen. Und wenn er etwa den Mangel an individueller Meinungsstärke zeitdiagnostisch als Zeichen eines allgemeinen Tugendverfalls deutlich macht (Sarrazin 2014: 15f), ist man sogar geneigt, ihm das abzunehmen. Das wesentliche Problem liegt bei Sarrazin allerdings darin, dass er auf die von ihm aufgeworfenen Fragen keine guten Antworten zu geben weiß.
Was sagt ein Buch wie „Tugendterror“ und der damit verbundene Diskussions- und Publikationskomplex nun über die Gesellschaft, in der sie stattfinden? Um Sarrazins Erfolg richtig zu verstehen, ist neben der interethnischen Konfliktlinie, deren Profil in den vorherigen Jahren durch medial aufbereitete Skandale im Anschluss an die Ereignisse des 11. September 2001 sicherlich wesentlich geschärft worden ist, noch eine weitere Dimension von Bedeutung: Wie eine Reihe von Studien belegt, fällt die Zunahme an Fremdenfeindlichkeit, die auch in der Sarrazin-Debatte zu Tage tritt, zusammen mit einer fortschreitenden Auflösung vormals abgesicherter Lebensarrangements. Eine erste Deutungsmöglichkeit sehe ich also unter Bezug auf die Verschärfung sozialer Verteilungskonflikte, wie sie sich aktuell vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Erosion der Mittelschichten ereignet (Berger/Burzan 2010).
So bezeichnet etwa Stephan Lessenich Hartz IV als „Chiffre für die Abstiegsängste der Deutschen“, und sein Kollege Steffen Mau (2012: 178) resümiert: „Wenn die Verhältnisse unübersichtlich, ja bedrohlich erscheinen, dann werden gesellschaftliche Probleme oft an leicht identifizierbaren und klar abgrenzbaren Gruppen festgemacht: Konflikte brechen auf, Desintegration droht.“ Die Klage über die integrationsunwilligen Einwanderer(nachkommen) lässt aus dieser Perspektive also auch Züge einer Kompensation der Angst vor Statusverlust erkennen.
Abstrakt beschreibt diesen Umstand auch Sighard Neckel (2008: 159): „Moderne Gesellschaften sind notorisch von Konflikten durchzogen und daher in all ihren Bereichen höchst anfällig für die Risiken der Gewinner/Verlierer-Konstellation.“
Eine weitere Interpretationslinie lässt sich knüpfen, wenn man Sarrazins Anliegen unter dem Aspekt einer kritischen Männlichkeitsforschung unter die Lupe nimmt. So erkennt etwa di Blasi (2013: 76) in der Situation weißer Männer, „dass sie von allen Seiten unter Druck stehen, ihre Unmarkiertheit und daraus erwachsende naive Universalitätsansprüche abzustreifen und sich im Chor der Partikularitäten einzureihen; dass aber gleichzeitig Versuche, sich als Gruppe neben anderen zu positionieren, auf Misstrauen, Unverständnis und Widerstand stoßen würden.“
Sarrazins Argumentation für eine leidenschaftslose Analyse drückender gesellschaftlicher Probleme, an deren Ende ‚zufällig‘ die berechtigte Anklage feministisch orientierter Frauen und orientalischer Zuwanderer sowie deren Nachkommen steht, wäre folglich als Reaktion auf den von di Blasi bemerkten Verlust von Hegemonieansprüchen anzusehen.
Vor dem Euro-Buch dachte ich, dass Sarrazins nächste Veröffentlichung Kritik am Patriarchat und Homosexualität zum Thema haben wird (so etwas wie „Homo-Herrschaft“ oder „Bundesrepublik Merkel?! Wie Frauen die Macht übernehmen“ könnte passen). Das hätte auch mit seinem Engagement bei der Leipziger Compact-Konferenz übereingestimmt, auf der er sich gemeinsam mit Eva Herman und Peter Scholl-Latour (beide sagten allerdings kurz vorher ab) zu Demographie und Familienpolitik äußern durfte! Als weiterer geeigneter Themenkomplex würde sich u.U. auch der Nahostkonflikt anbieten. Vielleicht haben wir aber auch Glück, und er äußert sich gar nicht mehr öffentlich.
Anmerkungen
[1] Ob die politische Tendenz hier tatsächlich der Diagnose Sarrazins entspricht, darf bezweifelt werden (s.u.). Basisdemokratische Impulse wie die Kommentarfunktion auf den Online-Portalen deutscher Nachrichtenanbieter lassen jedoch häufig eine – wie auch immer geartete – Diskrepanz sichtbar werden: Der Inhalt des Artikels stellt oft nicht die Sichtweise dar, die man kennenlernt, wenn man weiter herunterscrollt (vgl. http://www.bild.de/news/ausland/tierquaelerei/chinesische-touristen-quaelen-sterbenden-delphin-30895904.bild.html ).
[2] So ein Vorgehen muss natürlich nicht unbedingt negativ sein, natürlich können solche Impulse auch deliberativ und fortschrittlich gewendet werden. Man stelle sich z.B. vor, Organe wie „Die Zeit“ oder die „Süddeutsche“ hätten im Anschluss an den Steuerbetrug von Uli Hoeneß öffentliche Enteignungsforderungen stark gemacht. Da hätten sicher viele inspiriert zugestimmt! Dass das nicht geschehen ist, hängt sicherlich mit einem bestimmten ethischen Meinungskodex zusammen, der unter Vertretern der journalistischen Profession gegeben ist. Insofern beschreibt Sarrazin hier wohl etwas Richtiges.
[3] Für einen ersten Überblick siehe den folgenden, subjektiv-willkürlich zusammengestellten Querschnitt an Reaktionen auf das Tugendterror-Buch:
http://www.zeit.de/kultur/literatur/2014-02/thilo-sarrazin-tugendterror-meinungsfreiheit
http://www.n-tv.de/politik/Dafuer-muss-ich-nicht-die-Emma-lesen-article12375666.html
[4] Ein weiterer heikler Punkt liegt in der Tatsache, dass der beteiligte N-TV-Journalist hierauf nicht anders zu reagieren weiß, als den Hinweis anzubringen, die Geschlechterforschung erreiche „eher nicht die Menschen auf der Straße“. Auch Medienvertretern mangelt es scheinbar mitunter an Medienkompetenz. http://www.n-tv.de/politik/Dafuer-muss-ich-nicht-die-Emma-lesen-article12375666.html
[5] Haltung steht in Anführungsstrichen, weil ich den Ausdruck nicht ganz zutreffend finde. Jenseits individueller Beschaffenheit stellt politische Korrektheit laut Sarrazin auch eine Verhaltensnorm dar (Abweichungen werden sanktioniert). Sie ist außerdem ein ‚Regime‘, wobei auch hier unklar bleibt, was genau damit gemeint sein soll. Am zutreffendsten erschiene mir die Bezeichnung Bezugssystem, weil sie recht allgemein das abbildet, worüber auch Sarrazin spricht. Sieht man von den durch Sarrazin transportierten Ressentiments ab, ist sie außerdem ähnlich nichtssagend.
[6] „Soweit sprachliche Regeln politischer Korrektheit Geltung finden, ist dies Ausdruck eines angewandten Gruppenzwangs“ (Sarrazin 2014: 156).
[7] Nähme man die Menschenrechte und irgendein Postulat nach nationalstaatlicher Souveränität hinzu, hätte man wenigstens zwei möglicherweise konkurrierende ethische Strukturprinzipien. Aber das wäre dann nicht mehr Moral-frei.
[8] In Bezug auf eine Ausdrucksweise, die Verwerfungen und Probleme europäischer Integration im Sinne der europäischen Institutionen rationalisiere, tat dies beispielsweise Richard Hyman (2011) mit dem Begriff des „Eurospeak“, interessanterweise übrigens sowohl thematisch als auch in Bezug auf die gewählte Orwell-Analogie ähnlich wie Sarrazin.
[9] Hierin spiegelt sich die bereits von Klaus Bade und anderen in Bezug auf die Empirie aus „Deutschland schafft sich ab“ geäußerte Kritik des Eklektizismus – Theorien werden konsultiert, wenn sie gerade passen. Ansonsten eben nicht.
[10] Was passiert, wenn man seine Argumentation z.B. an dem empirischen Material misst, das er verwendet, hat Klaus Bade für „Deutschland schafft sich ab“ gezeigt – sie fällt in sich zusammen.
[11] Er kann froh sein, dass Karl Popper und Ralf Dahrendorf nicht mehr leben, mit beider Einschätzungen dem eigenen Schaffen gegenüber wäre er sicher nicht zufrieden.
[12] Zur Falsifikation siehe etwa die diskursanalytischen Arbeiten des Duisburger Instituts für Sozialforschung, siehe http://www.diss-duisburg.de/.
[13] Besonders interessant erscheint dies vor dem Hintergrund, dass Sarrazin als Volkswirt derjenigen Profession angehört, die gerade die schwerste Finanzkrise der letzten knapp hundert Jahre verpennt hat.
Literatur
Augstein, Jakob (2014): S.P.O.N. – Im Zweifel links: Böser Geist der sozialen Kälte. Spiegel-Online; Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jakob-augstein-zum-neuen-buch-von-thilo-sarrazin-a-955247.html
Becker, Ruth; Kortendiek, Beate (Hg.) (2010): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: VS
Berger, Peter; Burzan, Nicole (Hg.) (2010): Dynamiken (in) der gesellschaftlichen Mitte.. Wiesbaden: VS
Buschkowsky, Heinz (2012): Neukölln ist Überall. Berlin: Ullstein Buchverlage
Butler, Judith (1990): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Di Blasi, Luca (2013): Der weiße Mann. Ein Anti-Manifest. Bielefeld: Transcript
Geißler, Rainer; Pöttker, Horst (Hg.) (2005): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland: Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie. Bielefeld: Transcript
Habermas, Jürgen (2011): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1. Berlin: SuhrkampHartmann, Michael (2013): Soziale Ungleichheit. Kein Thema für die Eliten? Frankfurt a.M.: Campus
Heisig, Kirsten (2010): Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter. Freiburg: Herder
Höpner, Martin (2012): Rezension zu Thilo Sarrazin, Europa bracht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat. München: DVA. In: Politischer Vierteljahreszeitschrift 4/2012, 729-731
Huntington, Samuel (2002): Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Goldmann
Hyman, Richard (2011): Trade Unions, Lisbon and Europe 2020: From Dream to Nightmare. Quelle: http://www.globallabour.info/en/2011/11/trade_unions_lisbon_and_europe.html
Mau, Steffen (2012): Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? Berlin: Suhrkamp
Müller, Andreas (2013): Schluss mit der Sozialromantik! Ein Jugendrichter zieht Bilanz. Freiburg: Herder