Discounter und Supermarktketten werben mit der WM.
Fernsehzuschauer von Fußballspielen eint das Warten auf die Gelegenheit, ihrem Team aus der Ferne Bestätigung zu signalisieren. Während man sich im Theater oder Konzertsaal aber stets sicher ist, wann man sich der aufgestauten Applauslust entledigen können wird, fordert die Fußballliveübertragung den geduldigen Jubler. Seine Gelegenheiten, Zustimmung zu erweisen, bleiben abhängig vom kaum berechenbaren Torerfolg.
Zu Zeiten internationaler Fußballturniere ist besonders offensichtlich, welchen Massenappeal dieser zufallsgestählte TV-Zuschauer besitzt. So verwundert es nicht, dass von seiner Popularität auch die großen Einzelhandelsketten profitieren möchten und ihre wöchentlichen Angebotsprospekte mit der WM in Brasilien aufwerten. Kaum ein Discounter oder Einzelhändler, der derzeit nicht den Ball durch seine Angebotsprospekte rollen lässt, um im medialen Rückenwind der FIFA-WM an wirtschaftlicher Potenz zu gewinnen. So kann, wer die Prospekte von »Edeka«, »Lidl«, »real,-«, »nahkauf« oder »REWE« der vergangenen Woche durchblättert, beurteilen, ob die Einzelhandelsketten auch in ihren Printveröffentlichungen ihr Kernmetier – Kontextgestaltung für Produkte – bei diesem Anlass beherrschen.
In diesen Tagen auf die Fußball-WM zu sprechen zu kommen ist naheliegend, doch lässt sich so auch ein Merkmal stärker unterstreichen, das Rezensionen von ihrem üblichen Veröffentlichungsort, der Tageszeitung, übernommen haben: eine Verpflichtung auf Aktualität. Was als Beschränkung auf bloßen »Nachrichtenwert« erscheinen könnte, ermöglicht jedoch mit Urteilen über spezifische Gegenstände zugleich auch Stellungsnahmen zur Gegenwartskultur zu verbinden.
Schon deshalb braucht man das Blättern in Angebotsprospekten auch nicht von vornherein als Stöberei in Banalitäten verunglimpfen. Sie sind auch Dokumente dafür, ob und wie Einzelhandelsketten die recht etablierte Konsumentenrolle des sparenden Schnäppchenjägers derzeit weiter ausgestalten. Sie besteht darin, die Preisnachlässe der Supermarktketten, ihre »Aktionspreise«, wie es in den meisten Prospekten heißt, genauso wie die Produkte selbst erwerben zu wollen. Denn es ist der Sonderpreis, der die Genugtuung markiert, für das Gleiche weniger Kaufoptionen in der Zukunft geopfert zu haben als andere Konsumenten.
So sind Preise, Verkaufszahlen und andere Zahlenangaben nicht nur als Elemente der Produktinszenierung beachtet werden zu beachten, wie Daniel Hornuff im April an dieser Stelle zum Vorschlag gemacht hat. Sie haben auch ihre Funktion in unterschiedlichen Gebrauchsformen von Konsumprodukten. Denn ganz ähnlich wie die US-Soziologin Viviana Zelizer in »The Social Meaning of Money« argumentiert, dass Geld seine Bedeutung verändert, abhängig davon, ob es verschenkt, als Arbeitsverdienst eingenommen oder gespendet wird, gehen auch Preise, Verkaufszahlen oder Mengenangaben mit einem bestimmten Umgang mit Konsumprodukten einher. Deshalb läge ein legitimes Ziel von Konsumrezensionen auch darin, unterschiedliche Umgangsformen mit Produkten und deren Wertmaßstäbe explizit zu machen, zu kritisieren oder gar fiktiv zu erproben.
Schnäppchenjäger und Fußballzuschauer stimmen jedenfalls darin überein, sich auf der Seite der Sieger befinden zu wollen, ohne selbst in Wettbewerb zu treten. Während der Fernsehzuschauer die Konkurrenz um Tore und Siege Profi-Fußballern überlässt, gelangt der Schnäppchenjäger zu seinem Sparsieg nur in der Gewissheit, dass es andere ihm gleichtun. Doch trotz dieser Übereinstimmung fragt sich, wie überzeugend Einzelhandelsketten die Siegeslust des geduldstärkeren Fans vor dem Fernsehbildschirm mit dem des sparfreudigen Schnäppchenjägers verbinden.
»Lidl« und »nahkauf« forcieren zunächst ganz ausdrücklich die Nähe der beiden populären Rollenmodelle. So rief mit Beginn der Fußball-WM in der letzten Woche »nahkauf« den »Anpfiff zur Tiefpreis-WM« aus und unterstellte zugleich mit dem Slogan »Jedes Angebot ein Treffer!«, man könne bei jedem seiner Sonderangebote ganz wie bei einem Torerfolg der Nationalmannschaften in Jubel verfallen. »Lidl« sieht hingegen in seinen Angebote sogar Teile einer Mannschaftsaufstellung. Mit Pfeilen verknüpft der Discounter seine Produkte, wie um Passwege zwischen ihnen anzudeuten. So passt bei »Lidl« nicht Bastian Schweinsteiger auf Philipp Lahm, sondern ein Paket »Opticat«-Katzennahrung auf eine Flasche »Multi12«-Karottensaft. Beide Ketten verpassen so die Chance, die WM für eine temporäre Neugestaltung des Konsumentenbildes zu nutzen, das Discounter und Supermärkte seit Jahrzehnten zelebrieren. Den Schnäppchenjäger mit dem Fußballfan am Fernsehbildschirm so offensiv gleichzusetzen, nivelliert die Unterschiede zwischen ihnen, die gerade hätten Ausgangspunkt sein können, um das lange nicht mehr aktualisierte Figur des Schnäppchenjägers neu auszugestalten.
Ähnlich ungeschickt nimmt sich da auch der Entschluss von »netto« und »REWE« aus, Fußballer selbst als Identifikationsfiguren auftreten zu lassen. »netto« wirbt mit dem ehemaligen Stürmer Ailton im brasilianischen Nationaltrikot, während »REWE« den deutschen Nationalspieler Thomas Müller als Testimonial verpflichtet hat. Dass Ailton als schon etwas beleibter Ex-Profi für einzelne Produkte wahlweise Arme oder Daumen hochreißt, ist offenbar eine Empfehlung an den Schnäppchenjäger, sich ähnlich ungelenk über den eigenen Preisgewinn begeistert zu zeigen. Gleiches gilt für Müller: den Münchner Stürmer hinter einem Berg Fruchtsalat mit breitem Grinsen zu zeigen, wirkt ähnlich unbeholfen wie bei dem brasilianischen Stürmer.
So ist es leider eine branchenweite Schwäche, so oder anders nur pauschal auf die WM hinzuweisen, ohne zu versuchen, zu einer Gestaltungslösung zu finden, die eine überzeugende Verknüpfungsleistung darstellt. Ein Beleg dafür sind dabei auch die gesondert zum WM-Turnier produzierten Produkte. »Netto« präsentiert beispielsweise gleich eine ganze Reihe von Produkten, die nur in ein WM-Kleid gezwängt wurden, ohne dass man dazu nähere Überlegungen angestellt hätte. Produkte wie ein Käseaufschnitt als »Fußball-WM Edition«, ein Fertigsalat als »Weltmeister Kartoffelsalat« oder ein Joghurt mit Fangesängen, »Almighurt Olé Olé« spielen im Verpackungsdesign jeweils nur undeutlich auf die WM an, ohne dass sich daraus für das spezifische Produkt ein echter Inszenierungsgewinn abzeichnete.
Vor allem aber, wenn dem Schnäppchenjäger Nationalfolklore nahegelegt wird, als ob die Globalisierung nie existiert hätte, wünscht man sich für zukünftige sportliche Großereignisse ein etwas überdachteres Vorgehen. »Penny« lässt Teile seines Sortiments nach grobschlächtig zugeordneter Nationalzugehörigkeit gegeneinander antreten: »Le Rustique Weichkäse« und »Chez Pierre«-Tarte vertreten Frankreich, »Chio Tortillas« und »Sierra Tequila« angeblich die USA. Damit empfiehlt »Penny«, sich beim Sparen gleich auch noch auf die Seite einer nationalen Zugehörigkeit zu schlagen. Dass man sich bei solchen Nationalzuordnungen zumeist sehr schnell in Widersprüchen verheddert, beweist aber besonders »real,-«. Die Handelskette möchte seine Kunden wie Weltmeister kochen lassen und lässt für seine Lebensmittel die Nationalflaggen bisheriger Fußballweltmeister wehen. Man schoss dabei aber weit über das Ziel hinaus, wie die Beschreibungen der Produkte beweisen. So beschwichtigt »real,-« seine Kunden, dass »irisches Entrecôte« auch in Frankreich schmecke, selbst Engländer Schafskäse, die »griechische Spezialität«, liebten, spanische Oliven »sich auch in Frankreich genießen« ließen, ja man sogar in Neuseeland »Lamm auf die englische Art« esse.
Nur »Alnatura« hält wenig davon, sein Angebotssortiment mit der WM aufzuwerten und begegnet der saisonalen Konjunktur des Sportereignisses mit deutlicher Zurückhaltung. Die Biosupermarktkette, selbsternannter Sinnstifter (man ist laut eigener Aussage »sinnvoll für Mensch und Erde«), begnügt sich damit, ein paar vegetarische Bratwürstchen vor einer unscharfen Stockfotografie anzupreisen, die einen Ball und einen Spieler ins Bild setzt. »Alnatura« setzt so auf einen Distanzgewinn gegenüber seinen Konkurrenten und ist offenbar der Meinung, dass Schnäppchenjäger und Fußballfan auch zu WM-Zeiten ihre eigenen Wege gehen sollen. Während die meisten Konkurrenten allzu pauschal auf die WM verweisen, verzichtet »Alnatura« umgekehrt vielleicht zu bereitwillig darauf, auf sie mit einer eigenständigen Inszenierung zu reagieren.
Die geringe Bedachtheit, die die Angebotsprospekte aufweisen, gründet sicherlich vor allem auf einem voreiligen Vertrauen in die Eigenstrahlkraft der WM, sodass man meint, allzu nachlässig mit den eigenen Inszenierungsentscheidungen umgehen zu können. Trotzdem verwundert es, warum man nicht wenigstens versucht hat, etwas gezielter auf die WM zu reagieren. Schließlich wurden der Rolle des Schnäppchenjägers seit Jahrzehnten kaum neue Aspekte hinzugefügt, sodass jede Gelegenheit genutzt werden sollte, sich nicht mehr allzu sehr auf dessen Konservierung zu konzentrieren.
Gegenstände früherer Konsumrezensionen:
Tee: Pukka und Yogi (Mai 2014)
Grundsätzliche Überlegungen: Welches Vorgehen ist sinnvoll, wenn man Konsumprodukte rezensiert? (April 2014)
Zwei Schokoladenprodukte (März 2014)
Die Smartphones Lumia 1020 und Galaxy 4 (Februar 2014)
Der feministische Bechdel-Test, umformuliert fürs Marketing, ausprobiert an AXE Deodorant Bodyspray (Januar 2014)
Mr Muscle Aktiv-Kapseln Allzweck-Reiniger (Dezember 2013)
Schwarzkopfs Gliss Kur Million Gloss Kristall Öl (November 2013)
Simon Bieling ist akademischer Mitarbeiter an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und promoviert im Forschungsverbundprojekt »Konsumästhetik. Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen«.