Konsumrezension Augustvon Bettina Dunker17.8.2014

Plural der Produkte

Wenn man über das Format der Konsumrezension spricht, sollte der Faktor des Plurals nicht unerwähnt bleiben. Einzelne Produkte für eine Rezension herauszugreifen bedeutet, sie auf eine Weise zu isolieren, wie es weder in ihrer Präsentation im Geschäft noch in ihrer Wahrnehmung durch den Kunden geschieht. Supermärkte und insbesondere Fachgeschäfte basieren gerade darauf, dem Kunden mehrere Produkte desselben Typs anzubieten – seien es Handys, Haarwaschmittel oder Schuhe – und so eine auf dem Abgleich mehrerer Produkte beruhende Auswahl zu ermöglichen.

Daniell Hornuff argumentierte für Konsumrezensionen als »quantitatives und qualitatives Taxieren« und plädierte dafür, dabei nicht nur ein Urteil über ein oder mehrere Produkte zu treffen, sondern eine »Schule des Schauens, Beobachtens und Wahrnehmens« anzustreben. Gerade in Bezug auf eine Auseinandersetzung mit den Sehgewohnheiten und -möglichkeiten im Konsumbereich lohnt es, sich näher mit dem Plural der Produkte zu beschäftigen. Denn die Wahrnehmung eines Produkts ist immer auch geprägt durch den Kontext, in dem es sich befindet. Die Warenpräsentation in jedem Geschäft beruht zwangsläufig auf dem Prinzip der Vielteiligkeit.

Ein quantitativer Vergleich des Joghurt-Sortiments mit Hilfe des Internetportals supermarktcheck.de schreibt Aldi 87 verschiedene Joghurtsorten zu, Edeka steht mit 209 Sorten an der Spitze. Lidl und Real befinden sich mit 165 bzw. 175 Sorten im oberen Mittelfeld, Rewe liegt bei 120. Die Bio-Supermarktkette Alnatura hingegen bietet nur 42 verschiedene Joghurts an. Ein großes Sortiment gilt im Konsumbereich in der Regel als vorteilhaft, die Supermarktkette Real wirbt beispielsweise mit einem Gesamtsortiment von 80.000 Artikeln. Der Werbeslogan »Einmal hin. Alles drin« beschreibt diese Strategie, eine möglichst große Auswahl zu bieten.

Es gibt jedoch auch Gegenmodelle. Bei Alnatura scheint das kleine Sortiment durch einen strengen Auswahlprozess zu entstehen, der nur Produkte, die nach bestimmten biologischen und ökologischen Grundsätzen produziert wurden, zulässt. Wenige Produkte sind hier ein Zeichen besonderer Qualität und Exklusivität.

Joghurt-Regal bei Alnatura.

Bei dem beschränkten Sortiment von Aldi geht es weniger um Exklusivität, sondern, wie der ehemalige Aldi-Manager Dieter Brandes in einem Interview mit dem Spiegel beschreibt, um die Verringerung von Komplexität: »Bei Aldi-Nord gab es zu meiner Zeit als Geschäftsführer 600 Artikel im Sortiment, bei Aldi-Süd 450. Kam ein neuer hinzu, musste ein alter gehen. Das ist übersichtlich für den Kunden und gut beherrschbar fürs Management.« In diesem Sinn verhält sich der Discounter wie ein Kurator: Er trifft bereits eine Vorauswahl aus der unübersichtlichen Menge von Objekten und setzt dem Konsumenten lediglich eine gut fassbare Menge vor. Im Supermarkt werden so die Kaufentscheidungen erleichtert: statt zwischen zehn verschiedenen Zitronenjoghurts auswählen zu müssen, trifft man  bei Aldi maximal auf zwei verschiedene.

Joghurt-Regal bei Aldi.

Negative Assoziationen von Masse und Plural spielen für kulturkritische Überlegungen eine große Rolle. Die Menge der Bilder in Medien und Konsumwelt wird als »Bilderflut« beklagt, die die Betrachter überfordere und abstumpfe und dazu führe, dass Bilder nur mehr oberflächlich konsumiert würden. Konsum und Masse werden als zwei Seiten einer Medaille präsentiert.

Doch ist der Plural nicht dem Konsumbereich vorbehalten – auch KünstlerInnen arbeiten damit. So umfasste die Venedig Biennale-Installation der Künstler Fischli & Weiss aus dem Jahr 1995 96 Stunden Videomaterial, aufgeteilt auf 12 Monitore. Die Gesamtdauer von 8 Stunden Betrachtungszeit ist für den durchschnittlichen Ausstellungsbesucher kaum vollständig rezipierbar. »In ihren Ausflugsvideos verweigern Fischli und Weiss dem Betrachter sein Recht auf die Übersichtlichkeit, die ihm traditionell zusteht«, schreibt Boris Groys im Katalog der Ausstellung »Peter Fischli David Weiss. Arbeiten im Dunkeln«. Er schlägt vor, die Ausflugvideos wie Fernsehsendungen zu betrachten, auf die man einen Blick wirft und sich nach einigen Momenten wieder abwendet; also die Anwendung einer Strategie aus der Populärkultur im Bereich der Kunst.

So wie der Plural ein Gestaltungsmerkmal für Kunstwerke sein kann, setzen auch Supermärkte und Unternehmen Menge und Anzahl von Produkten gezielt ein. Masse ist in diesem Bereich zudem nicht äquivalent mit Bedeutungsverlust oder Überforderung, sondern steht für die Potenzierung der Möglichkeiten des Konsums. Dennoch wird die Reduzierung der Auswahl zur Vermittlung von Exklusivität (Alnatura) einerseits oder besonders günstiger Produkte andererseits (Aldi) eingesetzt.

Diese quantitative Annäherung an die Bedeutung des Plurals für den Konsumbereich bleibt für sich genommen unbefriedigend. Welche Erkenntnisse lassen sich auf einer qualitativen Ebene gewinnen? In Bezug auf die Präsentation des Plurals können verschiedene Prinzipien ausgemacht werden. Zunächst einmal folgt die Anordnung im Supermarkt verschiedenen thematischen Kategorien wie »Hygieneprodukte«, »Milchprodukte«, »Getränke« etc. Diese Anordnung ist häufig sogar in jedem Markt gleich und ermöglicht es den Kunden, Produkte schnell zu finden, und führt sie dabei zusätzlich an weiteren Produkten vorbei.

Im einzelnen Regal befinden sich die teuersten Produkte auf Augenhöhe, die Billigprodukte – häufig Eigenmarken – befinden sich ganz unten. Eine eher lockere Präsentation mit größeren Abständen und weniger Produkten pro Fläche signalisiert einen höheren Wert, große Stapel scheinen für den Schnäppchencharakter der Waren zu sprechen. Diese Prinzipien finden sich fast universell angewendet. Einmal durchschaut, bietet die Präsentation durch ihren konventionellen Charakter wenig Überraschendes. Dennoch hat sie einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung der Produkte.

Denn der Kontext eines Produkts ist ausschlaggebend für seine Rezeption. Simon Bieling hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Produkte immer in Differenz zu anderen Produkten gestaltet werden. Dies kann in dem Sinn ausgeweitet werden, dass Produkte auch immer in Differenz zu anderen rezipiert werden. Die Wahrnehmung etwa eines Joghurts hängt davon ab, ob er zwischen Bioprodukten oder Eigenmarkenartikeln steht, ob er zwischen 10 oder 70 Joghurts derselben Sorte steht.

Tatsächlich scheint die Platzierung eines Produkts ausschlaggebender für die Einordnung als der tatsächliche Preis, der durch abweichende Mengen erst im detaillierten Vergleich entschlüsselt werden muss. So könnte derselbe Joghurt allein durch seine Platzierung mit unterschiedlichen Assoziationen aufgeladen werden, zunächst einmal unabhängig vom Verpackungsdesign.

Joghurt-Regal bei REWE.

Auch die Kaufentscheidung für ein Produkt basiert immer auf einem Plural, das heißt dem Vergleich zwischen Produkten oder zumindest einer Entscheidung im Bewusstsein anderer Alternativen. Das vergleichende Sehen kann als dominante Form der Rezeption gelten, wo verschiedene Eigenschaften (Preis, Zutaten, Bio- oder Lightprodukte) und das Design abgeglichen werden. Im Interesse der Hersteller liegt es, diese Rezeption möglichst durch die Verpackung, aber auch die Positionierung zu Konkurrenzprodukten zu steuern.

Während es im Bereich der Kunst häufig gerade das Ziel ist, Betrachtungskonventionen durch experimentelle oder originelle Anordnungen sichtbar zu machen, ist beispielsweise beim Discounter Aldi die komplette Warenanordnung in jeder Filiale identisch. Die Konventionalität der Anordnung ermöglicht es dem Betrachter/Käufer, sich in jeder Filiale sofort zu orientieren, sie rückt dadurch jedoch in der Aufmerksamkeit in den Hintergrund. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Präsentation der Produkte nicht bewusst gewählt wurde oder dass sie keine entscheidende Bedeutung für die Wahrnehmung des einzelnen Produkts hätte.

Die idealtypische Situation der Konsumrezension, bei der ein oder auch zwei Produkte auf ihre gesellschaftlichen und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge untersucht werden, ist somit eine, die künstlich geschaffen wird. Dies bedeutet nicht, dass eine sich auf wenige Produkte beschränkende Rezension keinen Erkenntnisgewinn erzielen könnte, es scheint sich hier viel mehr um eine notwendige Reduktion bzw. Konzentration zu handeln, um überhaupt zu einer Aussage zu gelangen. Dennoch ist es wünschenswert, dass der plurale Kontext, der sich schließlich von der Gestaltung über die Präsentation im Geschäft bis zur Wahrnehmung durch den potentiellen Käufer erstreckt, in die Überlegungen mit einbezogen wird.

Teil einer »Schule des Schauens« sollte es darum sein, Konsumprodukte in Bezug zu ihrer Präsentation im Geschäft und den verschiedenen Medien wie Werbeanzeigen, Werbeclips und Onlinepräsenzen wahrzunehmen. Gerade die Konsumsphäre und die kapitalistische Marktwirtschaft orientieren sich am Prinzip des Plurals – die freie Auswahl zwischen Produkten steht hier nicht selten für Freiheit schlechthin.

 

Gegenstände früherer Konsumrezensionen:
Rasenmäher und Kinderbuggy (Juli 2014)
Discounter und Supermarktketten werben mit der WM (Juni 2014)
Tee: Pukka und Yogi (Mai 2014)
Grundsätzliche Überlegungen: Welches Vorgehen ist sinnvoll, wenn man Konsumprodukte rezensiert? (April 2014)
Zwei Schokoladenprodukte (März 2014)
Die Smartphones Lumia 1020 und Galaxy 4 (Februar 2014)
Der feministische Bechdel-Test, umformuliert fürs Marketing, ausprobiert an AXE Deodorant Bodyspray (Januar 2014)
Mr Muscle Aktiv-Kapseln Allzweck-Reiniger (Dezember 2013)
Schwarzkopfs Gliss Kur Million Gloss Kristall Öl (November 2013)

 

Bettina Dunker promoviert an der HfG Karlsruhe zu pluralen Bildformen in der zeitgenössischen Fotografie.