Halbirren
»Ach, ist das Klaus Kinski auf dem Cover«?, fragt mich die Buchhändlerin freundlich-interessiert. Ich bin drauf und dran zu antworten: »Ein wenig, ja«. Dann aber entscheide ich mich für ein schlichtes »Nein, nein« und ein nettes Lächeln. Beim Verlassen der Buchhandlung schaue ich nochmal genau hin. Ein wenig Kinski steckt schon in diesem Bild. Enzensberger ungekämmt, mit halblangem blondem Wuschelhaar, die Kippe lässig zwischen die Lippen geklemmt, undefinierbarer Blick aus einigen mitteltiefen Gesichtsfurchen, Mantelkragen halb hochgeklappt, die Faust geballt. Dandy, Bohemien, »angry young man«, Maoist, Linksintellektueller, Zyniker, Universalgelehrter. Was wurde ihm nicht alles nachgesagt – zuvor und seither.
Es gibt also allen Grund, sich mit den Lebenserinnerungen des hans magnus enzensberger, wie er sich in konsequenter Kleinschreibung in seinen frühen Jahren auswies, der Jahre 1968 ff. zu beschäftigen. Doch: Was erfährt man wirklich dort über die Rolle Enzensbergers, der Beizeiten als die (!) graue Eminenz hinter den Umtrieben von SDS und APO gehandelt wurde, förmlich als Drahtzieher jenes ›Tumults‹, den er hier zu beschreiben vorhat.
Wie sich der Altmeister durch Norwegen, Russland, Frankreich, Kuba und Deutschland vögelt, hat freilich seine ganz eigene Dramatik und wird auch entsprechend aufgeladen. So ist die Affäre mit seiner späteren zweiten Ehefrau Maria – genannt Mascha – mindestens sein »russischer Roman«, seine Liebesabenteuer mit N., »halb Brasilianerin, halb Französin, ohne Beruf«, wachsen sich aus zum »Zauber einer Frau, die frei ist vom Mundgeruch der Sentimentalität«, aber »in der Liebe tierhaft stark« und ohne die »Lügen (…) die ihr die Zivilisation zumutet« (Emanzipation etc.) auskommt. Freilegungen jenseits der Befriedigung rein voyeuristischer Triebe sind von den Erinnerungen dieser Art freilich kaum zu erwarten.
Beständig fragt man sich auch: Wer spricht eigentlich da? Der Jet-Set-Linksintellektuelle in seinen Midlife-Jahren oder der 85-Jährige mit der Retro-Erektion? Die Sache bleibt (bis zum Ende) unentschieden, denn, so gerne man die unkommentierten Aufzeichnungen aus den Jahren des ›Tumults‹ gelesen hätte, man bekommt über weite Strecken lediglich ein fiktives Interview, dass der alte mit dem jungen Enzensberger führt. »Dialog mit einem Doppelgänger« nennt Enzensberger das selbst und stellenweise nervt dieser Dialog doch sehr durch zwanghaft eingeschobene Nachfragen, Unterstellungen, moralische Wertung(en) und müde Wortwitze.
Rücksichtnahme auf irgendwen (inklusive sich selbst) ist dabei in diesem Erinnerungsprogramm nicht vorgesehen, und muss es ja auch nicht sein! Das Formprinzip der Schrift ist weitgehend schonungslose Offenheit – erfrischend genug im ewig langweilig auf kleiner Flamme dahin siedenden deutschen Medien- und Literaturbetrieb (nur niemanden verbrühen und nichts zu heiß servieren!).
Dennoch hat man das alles schon einmal gehört. Egal ob es um die Kommune I und den Mit-Kommunarden und Enzensberger-Bruder Ulrich (»Wirrköpfe… ein Häuflein von gescheiterten Künstlern… mit ihren karnevalistischen Einfällen. Nur die Medien waren begeistert… Ihre Bildregie war durchaus professionell«), Uwe Johnsons Part im Enzensberger-Spiel jener Jahre (»Johnson war boshaft«) oder um Ulrike Meinhof und ihren Anhang geht, die sich mit Enzensberger in einer konspirativen Wohnung in Hamburg verabreden (»Auch die Pfarrerstochter Gudrun Ensslin, die sich in eine Waffen- und Klamottenfetischistin verwandelt hatte, war anwesend. Unbestrittener Chef dieser Gespensterarmee war der abscheuliche Andreas Baader, ein flüchtiger Ganove, der als Photomodell für ein Schwulenmagazin gearbeitet hatte und außer sich selbst vor allem schnelle Autos liebte. Die Frauen hatten sich ihm bedingungslos unterworfen. Er trat ihnen gegenüber als Zuhälter auf«) – man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man das alles schon einmal gelesen und gehört hat. Bei der RAF-Anekdote frage ich mich beispielsweise: Was oder wer spricht da aus Enzensberger? Seine authentische Erinnerung an die Situation oder Stefan Aust?
Überhaupt: Das Namensregister am Ende des 287-seitigen Bandes macht Sinn, mag man darüber zunächst auch schmunzeln. Will heißen: Enzensberger kennt sie alle und alle sind sie ihm begegnet. Stil und Ton des Understatements (die sich ewig wiederholende Suada: ›Ich war nur ein – und nicht der wichtigste! – Protagonist des Tumults‹) wenden sich ins ironisch-satirische, wenn der Meister dann aber zufällig mit Salvador Allende und den letzten Überlebenden von Che Guevaras Bolivien-Armee in einem alten Holzhaus abseits des Flughafens Tahiti zusammentrifft und er mit dem künftigen chilenischen Präsidenten, der am Folgetag Taxi zum Flughafen für ihn spielt, die Weltlage klärt. Wenn er Fidel Castro nachts, mit einigen wenigen geladenen kubanischen Politfunktionären, beim Basketballspiel zuschauen darf. Wenn er in Rom, unweit der amerikanischen Botschaft, die im selben Moment mit Steinen angegriffen und von der Polizei mit Tränengas verteidigt wird, mit Ingeborg Bachmann (»die ein glitzerndes Paillettenkleid trug«) tanzt. Wenn er gar Ernst Jüngers Sohn im Flugzeug begegnet (darunter geht es nicht; ein Nicht-Prominenter als Sitznachbar wäre gewiss zu viel verlangt). Man kann das alles dort nachlesen – nach und nach drängt sich der Eindruck auf: »Die Selbstkritik hat viel für sich. Gesetz den Fall, ich tadle mich, so hab ich erstens den Gewinn, dass ich so hübsch bescheiden bin…« (Wilhelm Busch).
Und: Sollten die Umstrukturierungen bei Suhrkamp oder etwa der Respekt vor dem großen E. dort etwa so weit gehen, dass man sich ein kritisches Lektorat erspart hat? Nicht etwa, das Enzensberger nicht schreiben kann! Er schreibt ein wunderbares Deutsch, wie es nicht vielen zu Gebote steht – aber, ein Beispiel: Wer ist der immer wieder erwähnte ›Josef Baumann‹? In Enzensbergers Erinnerung der Attentäter Rudi Dutschkes. Hinweis: In der zweiten Auflage bitte durch ›Bachmann‹ ersetzen, ebenso das Dutschke »neun Jahre später in Dänemark in der Badewanne ertrunken ist«, es waren beinahe zwölf Jahre seit dem Attentat vergangen, als Dutschke an den Spätfolgen dort starb.
Das Beste kommt aber, wie im Sprichwort, zum Schluss und versöhnt mich – als großen Freund des frühen Enzensberger, dies sei nicht verschwiegen – letztlich doch noch halbwegs mit den ›Tumult‹-Memoiren: Das letzte Kapitel trägt den unscheinbaren Titel »Danach (1970 ff.)« und offenbart zum Ende die geistige Schärfe und den wunderbar abstrakten Grad, zu denen Enzensberger in seinen Beobachtungen fähig ist.
Versammelt sind, so lese ich es heraus, spätere Einlassungen, Notizen, Epigramme, Miniaturen zu den Jahren des ›Tumults‹ und einigen Handelnden. Hier lese ich (ab Seite 243) das, was ich zuvor gerne gelesen hätte – darunter sehr treffende Einlassungen zur Neuen Linken und ihrer Politik nach 1968, so zu einigen Kids, die zunächst LSD schlucken und schließlich als unerbittliche Tscheka-Kommunisten einer K-Gruppe enden (»Die Arbeiter haben keinen Grund, vor ihnen zu erschrecken. Das ist erfreulich; denn wenn eine Revolution auf dem Plan stünde, und solche netten Halbirren hätten dabei irgend etwas zu sagen, so bliebe dem Volk nur eines übrig: sich schreiend vor so viel Verblendung in Sicherheit zu bringen«) oder auch zum Milieu der Alternativen jener Jahre (»Der Klatsch gibt genauer über die Berliner Linke Auskunft als jede Imperialismus-Analyse. Auf die Rätselfrage, warum jemand sich freiwillig einer derart zwangsneurotischen Umgebung ausliefert, gibt es keine schlüssige Antwort«).
Am Ende steht auch eine sehr realistisch-materialistische Einschätzung, was den Kern der Jahre der Revolte betrifft: »Die außerparlamentarische Opposition und ihre Ausläufer haben der Sozialdemokratie, die sie bekämpfen wollten, in Deutschland zum Sieg verholfen. Die Marxisten-Leninisten machten mit ihrer Agitation die Gewerkschaften auf ihre gefährlichsten Fehler im Produktionsablauf aufmerksam. Die Roten Zellen trieben die überfällige Strukturreform an den Universitäten voran. Die Kinderläden probierten neue Formen aus, von denen die Pädagogen nichts wissen wollten. Die Systemopposition ist auf diese Weise zum bloßen Relais der Modernisierung geworden. Sie hat den Lernprozeß der kapitalistischen Gesellschaft entschiedener vorangetrieben als ihre Verteidiger. Die militante Linke reagierte darauf, indem sie sich weiter radikalisierte. Auf längere Sicht verhalf sie damit dem Regime, das sie zu bekämpfen glaubte, zu einer immer besseren Anpassung an die Gegebenheiten der Globalisierung«.
Solche Sätze finden sich in den verschriftlichten Erinnerungen der 68er-Generation viel zu selten. »Mit Widerwillen blättere ich in den Memoiren meiner Zeitgenossen« – zu Recht. Auch und gerade deshalb bleibt Enzensberger wichtig. Und der ›Tumult‹ im Grunde lesenswert.
Bibliografischer Nachweis:
Hans Magnus Enzensberger
Tumult
Berlin 2014
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42464-3
287 Seiten
Sven Gringmuth arbeitet als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Germanistischen Seminar der Universität Siegen.