Männerbilder in Mode- und Lifestylezeitschriften der 1920er Jahre
[zuerst erschienen in: Gregor Schuhen (Hg.): „Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900“. Bielefeld: transcript Verlag, 2014, S. 131-154]
Progressive Weiblichkeit vs. retrospektive Männlichkeit im Rückblick auf die Zwanziger Jahre
Projektionen von Weiblichkeit in der Populärkultur und den Massenmedien der Zwanziger Jahre sind bestens vertraut: Es ist die Neue Frau in verschiedenen Varianten, wie das girl, der flapper oder hin und wieder die garçonne,[1] die zeitgenössisch wie auch in der Forschung immer wieder als Umbruchsphänomen zur Debatte steht:
Die Neue Frau gilt als Zeichen des Aufbruchs im Rahmen eines neuerlichen gesellschaftlichen Modernisierungsschubs,[2] aber auch als fremdbestimmte, klischeebesetzte weibliche wie männliche Wunschphantasie oder Schreckensvision,[3] außerdem als ‚geistig obdachloses‘, konsumorientiertes Opfer der Unterhaltungsindustrie,[4] die sie auf ihrer Oberfläche mit hervorgebracht oder kanalisiert hat.[5]
Gemeinsam ist allen Varianten die Verankerung in den Goldenen Zwanzigern: der Zeit der relativen wirtschaftlichen Stabilisierungsphase, aber auch noch der Weltwirtschaftskrise und deren Nachwehen. Natürlich entsprach die Neue Frau nicht eins zu eins der empirischen Realität und wo sie es tat, trat sie in den Zwanzigern nicht aus dem Nichts auf, aber ausgehend von dem populärkulturellen und massenmedialen Diskurs ist das, was aus heutiger Perspektive ins Auge fällt und in der Forschung immer wieder betont wird, die Neuartigkeit dieser speziellen Weiblichkeitskonzeption in den Zwanziger Jahren – im Licht der Öffentlichkeit.
Aus populärkulturell-massenmedialer Perspektive ist die Neue Frau neu, weil sie nun im großen Rahmen ins Berufsleben tritt und damit als Produzentin und Konsumentin am Wirtschaftsleben teilhat, und weil sie nach Erhalt des Wahlrechts 1918 bei der Wahl zur deutschen Nationalversammlung 1919 erstmals politisch partizipiert. Öffentliche und öffentlich ausgehandelte Weiblichkeitsentwürfe sind in den Zwanziger Jahren geradezu notgedrungen neu und progressiv, also bejahend in die Zukunft gerichtet[6], weil für die Frau in der Öffentlichkeit kaum alte Vorbilder existieren und somit auf breiter Basis kein Rückgriff möglich ist.[7] Schließlich ist die Neue Frau schon deshalb neu, weil sie so heißt, weil es also einer zeitgenössischen Programmatik folgt, neu zu sein, mit Vorbildern und Traditionen zu brechen, um sich in der jungen Weimarer Kultur öffentlich zu positionieren.
Dagegen scheinen sich Männer mit der neuen Zeit schwer zu tun. Kurt Pinthus’ berühmtes Diktum, die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik sei ‚männlich‘,[8] skizziert auf den ersten Blick ein Männlichkeitsbild auf der Höhe der Zeit: Männlichkeit wird in typisch anti-expressionistischer Manier mit einer positiv besetzten Rationalität, Nüchternheit und kühlen Souveränität gleichgesetzt. Aber selbst wenn ohnehin fraglich bleibt, ob dieses Ideal einholbar ist, artikulieren sich in diesem selbst schon Ermächtigungsphantasien, die sich noch am Ersten Weltkrieg abarbeiten.[9]
Während der Krieg mit dem expressionistischen Erbe gleichgesetzt wird und vehement abgeschnitten werden soll, bleibt die Wunde doch auch oder gerade in der Wegbewegung noch deutlich bestimmend für Pinthus; und nicht nur für Pinthus. Wo in der Weimarer Republik von Sachlichkeit die Rede ist, ist nicht selten ein Verlustgestus zu bemerken, der letztlich sogar in Sentimentalität umschlägt, und zumeist den Ersten Weltkrieg im Blick hat:
„Wir leben in einer nüchternen, klareren und ehrlicheren Welt und fühlen uns wohl darin. […] Die lebendigen Menschen der Zeit selbst suchen nach den Stürmen Häuser zu bauen; sie wollen das Maß, die lebendige und klare Ordnung der Dinge.“[10]
Die „klare Ordnung der Dinge“ setzt in männlichen Beschreibungen der eigenen Zeit also „Stürme“ voraus. Und so werden auch in der Forschung zur Weimarer Republik von Klaus Theweleit bis Helmut Lethen vor allem soldatischer Heroismus und verwundete Kreatürlichkeit[11] als das körperlich verankerte Spannungsfeld fokussiert, in dem eine gravierende Destabilisierung von Männlichkeit zum Ausdruck kommt und gleichzeitig um Restabilisierungen gerungen wird.
Ein Einbruch der Männlichkeit, wie sie im Spiegel des Ersten Weltkrieges gesehen wird,[12] sowie Versuche der Bewältigung dieses Traumas durchziehen die kulturellen Selbstbeschreibungen und historischen Verortungen der Weimarer Republik. Wenn es um Projektionen von Männlichkeit geht, erscheint sie fast immer als Nachkriegszeit, also in einem retrospektiven Modus.[13]
Und bleibt vor allem der Erste Weltkrieg die Hintergrundfolie für männliche Identitätsentwürfe, ist es kein Wunder, dass körperliche Vitalität und mentale Kälte den Maßstab für Souveränität und Funktionalität bilden. Damit kann auch der neuen Bedrohung durch die Neue Frau begegnet werden, weil eine klischeehafte, biologistisch verankerte geschlechtliche Grenzziehung zementiert wird.[14] Es ergeben sich in den Zwanziger Jahren aber ganz neue Chancen und Risiken für Männlichkeit, die im Folgenden erörtert werden sollen.
Gegenderte Korpusbildung
Jenseits des Gegenstandes ist dazu auch die Beobachterperspektive unter dem Blickwinkel des Genders zu betrachten. An den eingangs skizzierten Konstruktionen von Männlichkeit sind Frauen kaum beteiligt. Weibliche wie männliche Autoren oder Beobachterinnen arbeiten sich an der Neuen Frau ab, aber es scheinen vorwiegend männliche Blickwinkel zu sein, die Anteil an Projektionen der Männerbilder haben, die heute in der Forschung zur Weimarer Republik beachtet werden und die ihrerseits auf männlichen Selbstzuschreibungen in den Zwanzigern beruhen.
Wenn nun im Folgenden die Konstruktion von Männlichkeit vor allem seitens einer eher weiblichen Perspektive in den Blick genommen wird, geht es aus verschiedenen Gründen nicht um Autorinnen, also Schreibende weiblichen Geschlechts, sondern unabhängig vom biologischen Geschlecht der Textproduzenten und -produzentinnen soll ein weiblich konnotierter Diskursraum in den Blick genommen werden: Es wird auf Beiträge aus den Mode- und Lifestylemagazinen Die Dame und der Uhu aus den Zwanziger Jahren eingegangen werden sowie auf den Feuilletonbeitrag System des Männerfangs[15] von Irmgard Keun aus dem Querschnitt von 1932.
Mit der Dame und dem Uhu soll ein Korpus auf Konzepte von Männlichkeit hin befragt werden, das zwar nicht zwingend von Frauen produziert wird, aber entweder eher an Frauen adressiert ist – Dame – oder in der Forschung immer wieder zu Rate gezogen wird, um Frauenbilder zu extrahieren – Uhu.
Das erscheint vor allem deshalb interessant, weil Verhandlungen von Männlichkeit in diesem eher ‚weiblichen‘ Kontext nicht selbstverständlich implizit mitgeführt werden. Vielmehr stellt Männlichkeit eine deutlicher umgrenzte, fremde Sphäre dar. Ausgehend von diesem Blickwinkel soll abschließend auf Hans Keilsons neusachlichen Roman Das Leben geht weiter eingegangen werden. Dabei ist zu erörtern, wie viel von der von Pinthus als kühl und stark beschworenen Männlichkeit, aber auch den ganz anderen, spezifisch ‚weiblichen‘ Anforderungen an diese, am Ende der Weimarer Republik übrig ist.
Männerbilder in den Magazinen Uhu, Dame und Querschnitt
Im Querschnitt, der nicht in dem im vorliegenden Kontext so bezeichneten ‚weiblichen Diskursraum‘ anzusiedeln ist, scheint häufiger als in Uhu und Dame ein an körperlicher Kraft und Attraktivität orientiertes Männerkonzept verhandelt zu werden.[16] Skizzen und Bilder nackter Männerkörper, die mehr enthüllen, als wir heute gewohnt sind, sind keine Seltenheit. Und diese Körper sind muskulös bzw. athletisch, was von sportlichen Posen unterstrichen wird und im Detail nachvollzogen werden kann.[17]
Im Zuge der Weimarer Sportbegeisterung erscheinen zudem im Querschnitt sehr häufig die ‚kriegerischen‘ Varianten, also Box- oder Stierkämpfe.[18] Natürliche, biologisch-körperlich verankerte Vitalität und Virilität werden vielmals zur Schau gestellt. Aber auch das Spannungsfeld von Natürlichkeit und Kultiviertheit wird anhand männlicher Figuren sogar im Uhu beispielsweise in einer Werbung für ein Verjüngungsmittel aufgegriffen, das vor kultureller Degeneration schützen soll.[19]
Abb. 1 Werbung Lukutate Verjüngungs-Frucht (1927)
Der nackte, muskulöse Mann mit der Keule wird mit dem Anzug- und Aktenträger auf dem Weg zur Büroarbeit sowie dem Herrn in Frack und Hut bei der Tischgesellschaft entgegengestellt. Dabei bildet der übergroße ‚Naturmensch‘ den Maßstab, der den dekadenten und degenerierten Kulturmenschen unter die Lupe nimmt, ihn also erst vergrößern muss, um ihn aus seinem Blickwinkel zu beobachten und sezieren. Im Spiegel kraftvoller Männlichkeit erscheint der zeitgenössische Mann klein und schwach und unter dem Anzug geradezu körperlos.[20] Die moderne Männlichkeitskrise, wie sie im allgemeinen Diskurs der Zwanziger Jahre erscheint, rankt sich unter anderem um den Gegensatz von Natur und Kultur.[21]
Dass dieser Gegensatz aber in den Zwanziger Jahren sehr wohl aufgehoben, ausgehebelt oder zumindest sehr stark umbewertet wurde, zeigen beispielsweise gerade der Uhu und vor allem Die Dame. In diesen Magazinen werden insgesamt ganz unterschiedliche Männlichkeitskonzepte thematisiert und abgebildet, die an die entsprechenden Mode-, Lifestyle- und Unterhaltungsthemen gebunden sind.
Wesentlich ist, dass beide Magazine die Atmosphäre der Goldenen Zwanziger aufgreifen oder transportieren. Männer aus kreativen oder bürgerlichen Berufen oder mondänen Gefilden sind zu diesem Zweck sehr beliebt. Es geht insgesamt sehr zivil zu, was auch die häufige Thematisierung von Tennis, Pferderennen, Golf und Autorennen als Sportarten zeigt.
Natürlich sind die Männertypen an die jeweils aufgegriffenen Themen gebunden, aber der Generaldirektor taucht in seiner boulevardesken Variante als Männertypus unabhängig von wirtschaftlichen Fragestellungen auf. Der Generaldirektor ist das männliche Pendant zu und der Traum einer jeden Privatsekretärin, die sich von einer Heirat mit ihrem Chef ein komfortables Leben verspricht. Im Mode-, Lifestyle- und Unterhaltungsbereich gilt als einprägsame Formel für eine positiv besetzte Männlichkeit: Generaldirektor statt General und Frack oder Anzug statt Militäruniform.[22]
In der Frauenmodezeitschrift Dame finden sich zahlreiche Abbildungen von eleganter Herrenmode.[23] Aber auch Gemälde von Georg Kirsta werden abgebildet, in denen der Künstler Männer in profanen Arbeitsanzügen porträtiert und die nach den Initialen der Herren benannt werden. Der nun im Anzug uniformierte Mann erhält auch keinen individualisierenden Namen mehr.[24]
Jedoch schimmert keine Wehmut durch in dieser Reihe, die sich ganz dem durchschnittlichen Alltags-Mann widmet. Die Pose wirkt ebenso erhaben wie ähnliche Porträts in Roben oder Militäruniform. Bei aller Verschiedenheit der Männerbilder, die in Uhu und Dame zu sehen sind, erscheint doch vorwiegend der kultivierte, bekleidete Mann, der die Frau auf Sport- und Abendveranstaltungen sowie auf Reisen begleiten kann.
In der Werbung zeichnet sich am deutlichsten das aktuell kursierende Spektrum von Männlichkeitskonzepten ab, zumeist in der idealisierten Variante.
Abb. 2 Werbung Dr. Dralle Dandy (1926)
Abb. 3 Werbung Dr. Dralle Angestellter (1927)
Des metrosexuellen Manns der Zwanziger oder des Dandys „tägliche Freude“ ist Dr. Dralle’s Birken-Haarwasser[25], das aber an anderer Stelle ebenso dem einfachen Angestellten empfohlen wird,[26] d.h. das gleiche Produkt richtet sich an zwei männliche Leitbilder: den mondänen Herrn, den man sich beim Freizeitvergnügen vorstellen kann, und den Angestellten in seinem Arbeitsalltag.
Beide Männerbilder, also sowohl die elegante als auch die durchschnittliche Variante, haben allerdings Anzug (hier ohne Jackett) oder Frack, also ein betont bürgerliches und ‚unkörperliches‘ Auftreten gemeinsam, und beide sind über die Tatsache hinaus, dass sie in der Werbung auftauchen, mit kommerziellen Momenten verknüpft: Die Werbungen erzählen Geschichten von Geld haben, ausgeben oder verdienen.
Gut und wohlhabend aussehende, elegant gekleidete Herren rauchen außerdem beispielsweise Halpaus Mocca[27] oder Kolibri[28] Zigaretten, und ein attraktiver Gentlemen in Smoking empfiehlt seinem jüngeren, seinen Kopf stützenden Freund Satyrin, ein Mittel für den gesunden Säure-Base-Haushalt.[29] Dass ein aufwändiger und ungesunder Lebensstil diesen aus dem Tritt gebracht hat, klingt in der Abbildung an: Es ist leicht vorstellbar und soll evoziert werden, dass vornehmlich der Champagner die Übersäuerung verursacht hat, die nun mit Satyrin behoben werden soll.
Berufstätigkeit ist ein wesentliches Merkmal zahlreicher männlicher Werbefiguren. So enthüllt ein erfahrener Geschäftsmann seinem jüngeren Kollegen in einer Kaffee Hag-Werbung als „Geheimnis [s]eines Erfolges“ Ruhe und Gelassenheit dank des entkoffeinierten Kaffees.[30] In einer Werbung für Mouson Zahncreme wird deren Gebrauch einem beruflichen Aufsteiger nahe gelegt. Eingeleitet wird die Werbung mit der Märchen-Floskel: „Es war einmal ein junger Mann… intelligent genug, um es zu etwas zu bringen […].“ Es wird sehr deutlich auf Aufstiegsträume als unhinterfragte männliche Wünsche oder unhinterfragte Zuschreibungen an Männlichkeit verwiesen, die dann an die Verwendung der Zahncreme gebunden werden.[31]
Außerdem taucht der moderne, gepflegte, elegante Mann der Zwanziger häufig neben oder im Hintergrund von Damen auf. Gut gekleidete Paare – die Männer also in Frack – finden sich in der Werbung von Kaloderma-Seife[32], Dulmin-Enthaarungs-Crème[33], Leichner-Compact-Puder[34] und Riquet-Pralinen[35], aber auch Autos wie dem achtzylindrigen Audi usw. usf.[36] Beruflicher Erfolg oder Eleganz und Kultiviertheit bilden die Möglichkeiten, als Mann attraktiv zu sein.
Hierbei zeigt sich zunächst weniger der Mann, mit dem sich Männer identifizieren, als der Traummann für Frauen. Die Werbung selbst thematisiert die Tatsache, dass Männer als derartige Objekte von und für Frauen eingesetzt werden. In der Reklame für Odol dient die Verwendung des Mundwassers der Steigerung der Attraktivität für die Frau: „Schon wieder ein Korb – Tabakgeruch aus dem Munde des Tänzers schreckt jede Dame ab.“[37] Eine Kupferberg Gold-Werbung bringt es in dem begleitenden, kommentierenden Text schließlich auf den Punkt: „Was denkt ‚sie‘ von Ihnen? Die Dame, welche Sie einladen, beobachtet Sie vielleicht genauer als Sie glauben.“[38]
Abb. 4 Werbung Kupferberg Gold (1927)
Die Werbung indiziert mit dem eleganten Herrn nicht nur ein gängiges, positiv bewertetes Männerbild, sondern auch, aus welcher Perspektive es projiziert wird, denn nicht nur die Dame in dieser Werbung beobachtet ihr männliches Gegenüber, sondern auch die Zeitschrift Die Dame sondiert Männerbilder nach Verwendbarkeit für Frauen, aber erst Recht die Rezipientinnen tragen einiges zur Bewertung und Diffusion von Männlichkeitskonzepten in den Zwanziger Jahren bei. Sie wird zu einem Maßstab für Männlichkeit, wie auch Männer – das lehren die Women’s Studies – die Definitionsmacht über Weiblichkeitsimaginationen inne haben.
Taxonomien von Männlichkeit im ‚weiblichen‘ Diskurs
Das Beobachten und anschließende Bewerten war insgesamt ein wesentlicher Bestandteil der Weimarer Kultur. In der Wissenschaft und in populärwissenschaftlichen Publikationen, Ratgebern und Zeitschriften kursierten Orientierungshilfen, die auf alltägliche Bereiche des Lebens Bezug nahmen.[39] Auf Basis äußerlich-behavioristisch beobachtbarer Phänomene[40] wurden zahlreiche Typologien entwickelt, in denen Bewegungsabläufe, Essgewohnheiten oder ein Kleidungsstil dazu dienten, Menschen zu klassifizieren oder normieren. Als entsprechende Objekte wurden immer wieder Frauen angeführt und untersucht.[41] Es kam allerdings auch vor, dass derartige Typologien umgekehrt werden: Männer wurden von Frauen taxiert, kategorisiert und beurteilt.
So kann sich die Frau den Mann in einem Uhu-Artikel selbst zusammensetzen, in dem viele Seiten mit Photographien von Männergesichtern in drei Teile zerschnitten sind, sodass beim Blättern unzählige Kombinationsmöglichkeiten bleiben, ein männliches Gesicht zu kreieren:
„500 Männer nach Ihrer Wahl. Ein lustiges Zusammensetzspiel für die Damen oder: Der Mann, den Sie sich wünschen. […] Kurz, spielen Sie ein wenig lieber Gott, und schaffen Sie sich den Mann nach Ihrem Wohlgefallen.“[42]
Feste typische Merkmale und deren Variation und Kombination passen allzu gut in die auf visueller Basis wertende Weimarer Kultur. Schließlich erörtert die Dame die Frage „Welcher Mann ist für die Frau kleidsam?“ und kommt zu folgendem Schluss:
„Die Wirkung einer Frau hängt im öffentlichen Leben beträchtlich von dem sie begleitenden Mann ab. […] Ihrer Kleidsamkeit wegen besonders beliebt sind: der tiefschwarze gelblich getönte Exote, der breite untersetzte Mann mit der Intelligenzbrille, der magere, lässig schleichende Typ mit den ironischen Mundwinkeln, der feine alte Herr mit der Rosette im Knopfloch […]. Für sachlich eingestellten Geschmack kommt noch hinzu: der korpulente Nabob mit dem geröteten Gesicht und dem Stock mit Malachitkopf. Auf jeden Fall unkleidsam ist: der ungepflegte Mann mit der schlechten Haltung, der geckenhaft gekleidete Schaufensterjüngling.“[43]
Zwar steht auch der Körperbau der Männer zur Debatte, aber kleidsame Männer sind in jedem Fall gut gekleidet und bewegen sich souverän in der Gesellschaft. Männer werden außerdem in ihrem Flirtverhalten auf das Genaueste beobachtet. Dabei werden die Rollen von Eroberer und Eroberter insofern umgekehrt, als die Männer gerade aufgrund ihrer Aktivität leicht einer Taxierung zugänglich sind. In dem Flirtspiel scheinen die Frauen also, so suggeriert es ein Uhu-Artikel, die Oberhand zu haben, weil sie die Klischees männlichen Balzverhaltens längst als solche durchschaut haben.
„Sie [die Platte, M.L.] rollt bei jeder Frau wieder von vorn ab, mit denselben Wendungen und denselben Pausen, mit derselben Resignation und demselben Aufwand von Gefühl. Achten Sie darauf, ob sie bei Ihren Freunden eine Platte feststellen. Die Entdeckung wird sie sehr amüsieren und Ihnen von vornherein eine große Ueberlegenheit sichern.“[44]
In Irmgard Keuns Feuilletonartikel System des Männerfangs kommt zum Beobachten noch die aktive Selektion und Eroberung von Männern hinzu. System des Männerfangs ist eine Anleitung für den Männerfang, die eine Systematik von Männertypen voraussetzt. Der Text selektiert und klassifiziert eroberungswürdige Männer nach weiblichen Standards. Indem die Frau als Beobachtungssubjekt und Agens inszeniert wird, werden Männer als Objekte weiblicher Fremdzuschreibung behandelt.[45]
Aber: Um diese Männer zu erobern, müssen sie manipuliert werden. Dadurch werden Frauen zu Seismographen für mehr oder weniger heimliche männliche Selbstbilder, denn diesen gilt es für einen erfolgreichen Beutezug zu schmeicheln. Am Ende ist daher nicht nur zu fragen, welche Männerbilder entworfen werden, sondern wer hier letztlich wirklich souverän über die maßgebliche Beobachterperspektive verfügt oder überlegen ist.
Unter römisch I. lernt der Leser, vor allem aber die Leserin, schon einiges über männliche Selbstbilder und wie man ihnen entgegen kommt. Als „[a]llgemeine Regeln“ formuliert Keun z.B.: „der Eitelkeit des Mannes Futter geben“ (SM 138), oder sie stellt fest: „Jeder Mann legt Wert darauf, ein im Grunde ‚einsamer Mensch‘ zu sein. Man respektiere das. Ihn sentimental sein lassen. Männer brauchen das – und können es nur bei einer Frau sein“ (SM 138).
Die spezifischen Regeln für den ‚Männerfang‘ sind gebunden an den als Ziel gewählten Männertyp, der nach Berufen klassifiziert wird, denen prinzipiell die größte Bedeutung beigemessen wird: „Den Mann behandeln als Mann seines Berufes. Vor allem: Interesse für seinen Beruf“ (SM 139). Es wird eine männliche Identifikation mit dem jeweiligen Beruf unterstellt, der es zu schmeicheln gilt. Hinter dieser Regel verbirgt sich aber keinesfalls Heuchelei, denn Frauen haben in der Tat Interesse für die Berufe der zur Debatte stehenden Männer.
Unter A werden dann künstlerische Berufe wie Schauspieler, Maler, Schriftsteller und auch Redakteure aufgelistet. Unter B fallen „bürgerliche Berufe“ (SM 140), die Keun absteigend nach Sozialprestige und Einkommen ordnet. Hier finden sich in der genannten Reihenfolge Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Kaufleute und Beamte. Kategorie römisch II. groß B. klein d) in Keuns pseudo-wissenschaftlicher und den Objektstatus der Männer zementierender Klassifikation bilden beispielsweise die Kaufleute, von denen Folgendes gesagt wird:
„d) Kaufleute. Kaufleute wollten eigentlich ‚was andres werden‘, Kaufleute sind zuweilen gern lyrisch und haben ihren Beruf verfehlt. Was nicht hindert, daß sie an ihrem Beruf hängen wie die Kletten. Man bewundere ihr Auto und bemerke nicht, wenn es geliehen ist.“ (SM 140f.)
Von Kaufleuten wird, wie eigentlich von allen Männern, behauptet, dass sie an „ihrem Beruf hängen wie die Kletten“. Das scheint auch auf dem finanziellen Ertrag des Berufs zu basieren, denn dem Kaufmann ist das Auto wichtig, das – ob zu Recht oder Unrecht – als sein Besitz, als ihm zugehörig angesehen werden soll. Materieller Besitz scheint also dem männlichen Selbstwert zu dienen, und das ist es, was Männer auch erst für Frauen interessant macht. Hier sind sich Frauen und Männer bei der Fremd- und Selbstzuschreibung einig.
Überlagert wird dies von der sehr ironischen Behauptung, dass der Kaufmann „zuweilen gern lyrisch“ ist. Während demzufolge gemäß der männlichen Selbsteinschätzung der eigentliche, wahre, innere Kern der männlichen Identität etwas nicht näher Bestimmbares ist, das als „lyrisch“ gefasst wird, vollzieht sich aus weiblicher Perspektive die Umkehrung, dass Frauen als oberflächliche Strategie „lyrisch“ verfahren müssen, auch wenn es tief im Innersten eigentlich beiden um das Auto geht.
Inszeniert wird der Gegensatz von männlicher Sentimentalität und weiblichem Pragmatismus, aber materialistisch sind Männer und Frauen Keuns Text zufolge am Ende gleichermaßen. Indem das ‚Lyrische‘ und das Auto hinsichtlich der Frage, was ‚eigentlich‘ oder ‚tiefer‘ zu dem Mann gehört, vertauscht werden, dynamisieren sich Vorstellungen von Essenz und Akzidenz. Eine ähnliche, je nach Perspektive verschobene Zuordnung von Essenz und Akzidenz wird beispielsweise auch in Bezug auf die Nabobs diskutiert, die unter C. folgen.
„C. nabobs. (Gibt es noch welche?) Geld hat einem gleichgültig zu sein, der Nabob auch – ‚man will ihn gar nicht‘ –. Nabobs sind mißtrauisch. Ein gutes Rezept: man tue, als halte man ihn für einen Hochstapler und armen Schlucker – und was man an ihm bewundert, sind seine rein männlichen Reize und Vorzüge. Im ersten Stadium der Bekanntschaft weise man jedes Geschenk zurück.“ (SM 141)
Primär und essentiell männlich aus männlicher Sicht ist Geld gemäß Keun hier zunächst einmal nicht. Der Kaufmann verweist noch auf das ‚Lyrische‘, das aber schon ein wenig vorgeschoben wird; der neureiche Erfolgsmensch, der Nabob, will tatsächlich ‚um seiner selbst Willen‘ oder ‚an sich‘ begehrt werden, wenn man seine „rein männlichen Reize“ bewundern, seinen Besitz also aus taktischen Gründen gering schätzen soll.
Aus weiblicher Perspektive ist das natürlich nur der Auftakt: Der Mann ist entweder Mittel zum Zweck oder mit dem Geld, den Konsumartikeln oder Luxusgütern zu identifizieren. Es gibt aus dieser Perspektive keine tieferen, ‚reinen‘ metaphysischen Hinterwelten männlicher Substanz mehr, die die Kaufmänner und Nabobs doch gerne bemühen. Hierin zeigt sich die eingangs skizzierte Ungleichzeitigkeit männlicher und weiblicher Perspektiven auf Anforderungen an Männlichkeit.[46]
Das männliche Selbstbild ist gemäß Keun noch nicht ganz im Wirtschafts-, Konsum- und Unterhaltungsdiskurs der Zwanziger Jahre angekommen. Insgesamt impliziert die Weimarer oder Neue Sachlichkeit Sentimentalität, die Keun gerade Männern zuschreibt, denen in diesem Habitus von weiblicher Seite, wie bereits zitiert, entgegenzukommen ist (vgl. SM 138). Selbst unter der positiven Bedingung, die Erwartungen erfüllen zu können, changiert das männliche Selbstbild zwischen Annahme und Ablehnung dieses Männlichkeitsbildes, und in Keuns Feuilletonbeitrag klingt als Begründung für diese Ablehnung durch, dass das neue, sachliche ‚weibliche‘ Männerbild der Zwanziger Jahre ein sicheres ‚Eigentliches‘ verwehrt.
Es wird allzu offenbar, dass das, was zugeschrieben, auch wieder abgezogen werden kann. Männern werden nun offener kulturelle Konzepte zugewiesen, die als äußerliche Rolle in ihrer performativen Dimension durchschaubar werden. Die Grenze zwischen außen und innen, die im Ersten Weltkrieg so klar war wie das soldatische Männlichkeitsbild, verschwimmt.
Konstitution und Bedrohung der männlichen Identität sind nun beide akzidentell, nicht mehr ‚substantiell‘ oder ‚natürlich‘. Ebenso handelt es sich nun bei den Ansprüchen an den Mann auch nicht mehr um die Forderung aus dem 19. Jahrhundert nach dem Versorger, der immerhin geheiratet hat, also auf Dauer als ganzer Mann wahrgenommen wird. Vielmehr ist der Mann nur noch Accessoire seines Geldes in unverbindlicheren Beziehungen oder Begegnungen, die so lange währen wie dieses Geld reicht.
Aus weiblicher Perspektive scheint das zunächst einmal kein Problem zu sein und wird zumindest in Keuns Artikel gnadenlos inszeniert: Männer fallen ganz einfach aus der Kategorie Mann raus, wenn sie nicht über finanzielle Potenz verfügen – oder wenigstens noch Künstler sind. Aber in der Hinsicht sei bemerkt, dass auch hier die Berufe zählen und dass nicht etwa der mittellose Bohemien mit dem Künstler gleichgesetzt wird, sondern z.B. der Verleger, der nicht unbedingt zum Prekariat zählt.
Geld wird auf diese Weise für Frauen, aber letztlich auch für Männer selbst schon zu einem primären Aspekt von Männlichkeit. Kein Wunder, dass der Hochstapler[47] und der Heiratsschwindler[48] Konjunktur haben, wobei man keineswegs den Umweg über oder Rückgriff auf den Ersten Weltkrieg nehmen oder tätigen muss, wie Helmut Lethen es tut, um deren Aufkommen zu erklären.
Dieses an Geld geknüpfte Männerbild ist, auch wenn man dieses selbst nicht bereits als Symptom krisenhafter Männlichkeit auffasst, sehr anfällig für oder abhängig von äußerlich bedingten Problemen. Das zeigt sich auch in Keuns Roman von 1932 Das kunstseidene Mädchen:
„Und Therese riet mir zu Jonny Klotz, den wir kennen lernten in der Palastdiele – und riet das, weil er ein Auto hat […]. Ich sagte nur: du hast keinen Blick für Männer und heutige Zeit Therese – was heißt Mann mit Auto, wo es doch nicht bezahlt ist? Wer heutzutage Geld hat, leistet sich Straßenbahn, und 25 Pfennig bar sind ein solideres Zeichen als Auto und Benzin auf Pump.“ (KM 29)
„Blick für Männer“ zu haben, bedeutet auch in dem Roman, sie im Hinblick auf ihren finanziellen Status taxieren zu können. Deutlicher als in Bezug auf den Kaufmann wird bei Jonny Klotz zu Vorsicht geraten. Das Auto könnte „auf Pump“ sein, und dann bleibt fraglich, ob es überhaupt zu einer Einladung zum Abendessen reicht. Auf dem Luxussektor unter den Männern hat ein Aussterben des Nabobs eingesetzt, von dem Keun ja in ihrem Feuilletonartikel fragt, ob es ihn noch gibt.
Nun könnte im Hinblick auf das Zitat eingewendet werden, dass sich die Krise dabei in Grenzen hält. Nicht für die Gesellschaft, die Wirtschaft oder die politische Stabilität, aber für Projektionen auf Männlichkeit. Wohlstand ist relativ und weil 25 Pfennige zum Zeichen finanzieller Potenz werden können, besteht auch für die Männlichkeit ihres Besitzers immer noch eine Chance. Letztlich geht die Umkehrung der Perspektiven in dem Geschlechterspiel auch nicht ganz auf, denn mit der gleichen Schönheit und dem gleichen Wohlverhalten muss die Frau sich nun eine Straßenbahnfahrt erarbeiten, wo zuvor noch ein Luxusurlaub zu erwarten gewesen wäre.
Insgesamt wird eine äußerst prekäre Weiblichkeit beschworen, die sich selbst in Abhängigkeit von Männern inszeniert. Gerade im Kunstseidenen Mädchen erscheint die Ich-Erzählerin als Pikara,[49] die sich selbst tatsächlich getrieben vom Hunger zur Dienerin vieler Herren macht, also sich mithilfe episodischer Prostitutionsverhältnisse über Wasser hält. Für sie ist jede lineare Entwicklung ausgeschlossen, die auf Bildung oder bildungsbürgerlichen Maßstäben basiert. Dialektische Synthesen mit der Umwelt, die eine positive Entwicklung, Progression oder Fortschritt garantierten, wären unmöglich bzw. wirkten angesichts des Handlungsspielraums der Erzählerin verlogen, wie sie selbst in einem langen reflektierenden Monolog bekundet, der – nebenbei bemerkt – als Replik auf Siegfried Kracauers Kritik an den „kleinen Ladenmädchen“[50] angelegt ist (KM 171-174).
Angesichts der pikaresken Struktur, die die Prekarität der Erzählerin betont, mag es verwundern, den Roman im Kontext einer Männlichkeitskrise zu diskutieren. Selbstverständlich muss von einer weiblichen Krise, einer Identitätskrise sowie einer finanziellen oder materiellen Krise und ebenso von der sozialen Krise einer ganzen Schicht gesprochen werden, aber eben nicht von einer Krise der Weiblichkeit als Geschlechtsrolle, die durch die pikaresken Gaukelspiele[51] der Erzählerin in keiner Weise getrübt oder in Frage gestellt wird. Im Zuge der Wirtschaftskrise der Weimarer Republik ist es nicht Weiblichkeit, die als Erstes zur Debatte steht oder bedroht ist, auch wenn Frauen natürlich auch zu den Opfer gehörten, sondern zunächst sind Männer nicht nur konkret, sondern in ihrer Männlichkeit zutiefst getroffen.
Männlichkeitskrise in Texten der Neuen Sachlichkeit
Zahlreiche Selbstmorde im Zuge des Börsenkrachs von 1929 zeugen davon, dass letztlich auch Männer ihre Identität und Wertigkeit an ihr Vermögen geknüpft hatten, auch wenn das in den Zwanziger Jahren in großem Maß aus einer ‚weiblichen‘ Perspektive in den Diskurs eingespeist wurde.
ie Krise der Männlichkeit als Umbruchsphänomen mit Risiken und Chancen, die sich zwischen substantiellen und offen performativen Geschlechterzuschreibungen sowie zwischen Erstem Weltkrieg und relativer wirtschaftlicher Stabilisierung auftut, wandelt sich mit dem Niedergang der Wirtschaft letztlich in eine Katastrophe, weil bei aller Sentimentalität und Nostalgie schließlich doch die neue Herausforderung angenommen und in das männliche Selbstbild integriert wird.
Dem entsprechend ist der ‚Neue Mann‘ der Zwanziger Jahre am Ende der doppelt geschwächte Mann, weil sich zuerst sein Identitätskonzept in der Abkehr vom Ersten Weltkrieg verflüchtigt oder verfremdet, und es dann versagt oder sich als uneinholbar erwiesen hat. Ablesbar ist die Katastrophe (der Männlichkeit) auch an neusachlichen Romanen, in denen von Kälte, Dynamik und Souveränität nichts zu spüren ist. Vielmehr sind es die kleinen Buchhalter, Kaufleute und Werbetexter, die der neuen Welt aus ihrer ohnehin schon marginalen oder nischenhaften Perspektive nicht gewachsen sind und unter anderem vom Wirtschaftssystem in seiner Krise geradezu zermalmt werden.[52]
Hans Falladas Buchhalter Pinneberg aus Kleiner Mann – was nun? ist seiner Ehefrau und seiner Tochter treu ergeben. Der Leser oder die Leserin kann ihn dabei verfolgen, wie er rührende Haushaltspläne aufstellt und sich seiner Verantwortung für die Familie stellt, aber am Ende des Romans muss die Familie in eine Gartenlaube ziehen und unter schlechtesten finanziellen Bedingungen leben.
Erich Kästners Fabian aus dem gleichnamigen Roman bewegt sich passiv durch die Handlung. Positiv wird immer formuliert, er bilde dadurch die Sonde, die dem Erzähler als Medium dient, um seine Zeit darzustellen. Aber eigentlich wird er vom Fluss der modernen Zeit getrieben, bis er am Ende ertrinkt, als er bezeichnenderweise als Nicht-Schwimmer einen Jungen aus einem Fluss rettet.
Der zu Unrecht weniger bekannte Hans Keilson konstruiert in Das Leben geht weiter den anständigen Kaufmann Seldersen, der in eine Kredit- bzw. Schuldenfalle gerät. Herr Seldersen erklärt seinem Sohn ganz kleinschrittig das Prinzip:
„[…] wenn der Arbeiter hier kein Geld hat, muß er eben borgen, denn die Ware muß er haben, er muß etwas auf dem Leibe tragen. Aber mir fehlt das Geld, und ich bleibe meinen Lieferanten die Zahlung schuldig, die die Ware vielleicht auch erst irgendwoher beziehen. So gibt es bis oben hinaus eine Stockung, bis zu den Fabriken, die die Ware herstellen, und den Banken, die die Kredite bewilligen. Sieger bleibt der, der die stärkste Lunge hat, es am längsten aushalten kann, gewöhnlich eben der, der Kapital hinter sich hat. Nur wer heute Kapital hinter sich hat, hält durch, die anderen werden zugrunde gehen.“[53]
Überleben im neusachlich-kapitalistischen Wirtschaftssystem erscheint fast direkt als darwinistisches survival of the fittest, weil es die „stärkste Lunge“ ist, die am Ende übrig bleibt. So ganz geht es offenbar nicht ohne eine körperlich-biologische Verankerung, wenn der Überlebenskampf in der Weltwirtschaftskrise beschrieben werden soll. Derartige semantische Überlagerungen legen oft eine Naturalisierung und damit Legitimierung des Bildempfängers nahe. In diesem Fall ist die Erzählung aber auf der Seite der schwachen Lungen, also auch einem Protagonisten, dem die fitness fehlt. Das geht im Roman explizit mit Scham einher.
„Zuerst war es Scham, Herr Seldersen schämte sich vor sich selbst, vor seiner Frau und den Kindern, vor allen übrigen Menschen, daß es so mit ihm stand. Was sollte er denn tun, er hatte alles getan, was in seiner Macht lag. Dennoch schämte er sich.“ (LW 89)
Die Scham resultiert zumindest aus eigener Perspektive nicht aus einem aktiven Fehlverhalten oder einer Schuld – an anderer Stelle sagt er: „Mich trifft keine Schuld“ (LW 120).[54] Die Scham indiziert vielmehr eine nach außen als Gesichtsverlust oder nach innen als Identitätsproblem wirksame Differenz zwischen der Realität und einem Ideal bzw. Wertmaßstab, und sie setzt eine eigene und fremde Identifikation mit diesem Wertmaßstab voraus,[55] in diesem Fall also das Wirtschaftssystem, innerhalb dessen man sich als funktional erweisen, sich beweisen muss.
Scham sagt im vorliegenden Kontext weit mehr aus als die Thematisierung einer konkreten Not, von der auch oder sogar viel mehr weibliche Figuren betroffen sind. Die Scham impliziert den wirtschaftlichen Erfolg als einen Aspekt des Selbstbildes, und damit erkennt sie an, dass die Wirtschaft zum Maßstab für männliche Identitätskonzepte geworden ist.
Das Versagen am Ende ist fatal genug, aber prinzipiell ist die Verstrickung mit einem Gegner demütigend, der eine Freund-Feind-Unterscheidung nicht mehr zulässt, der Aspekte der eigenen Identität oder deren Ideal formiert und gleichzeitig äußerlich und fremd unerbittlich gegenüber steht. Hat der Mann ein ‚materialistisches‘ Bild seiner selbst angenommen, kann er nur noch nach der Bedingung seines Gegners kämpfen oder überhaupt leben. Und dabei ist er nicht mehr eigenmächtig seines Glückes Schmied wie versprochen oder erwartet, weil in der komplexen Konstellation praktisch kein Zusammenhang mehr zwischen der eigenen Handlung und den Folgen sichtbar wird.
Das ist bei biologistischen Männlichkeitszuschreibungen meist noch anders. Aber ebenso wie sich Männlichkeitskonzepte in weiten Teilen des Weimarer Diskurses schon längst vom soldatischen Heros gelöst hatten, bezieht sich auch die Scham als Epochensignatur im Gegensatz zu Lethens Beobachtungen sehr häufig nicht auf den Ersten Weltkrieg. Auch Seldersen hat den Krieg überstanden: „[S]eine Kraft war ungebrochen“, „er packte tüchtig mit an, überall hieß es eben wieder aufbauen“ (LW 15).
Am Ende der Weimarer Republik sieht das anders aus. Es zeichnet sich ein Niedergang ab, der nur noch Scham lässt. Und ganz am Ende ist auch die Scham ein Luxus, den sich Seldersen kaum noch leisten kann. In dem Gespräch mit seiner Frau, in der er dies enthüllt, konstatiert wiederum sie als weibliche Protagonistin: „Du hast keine Kraft mehr. Er nickt traurig: ‚Nein‘. ‚Du bist kein Mann mehr.‘ ‚Nein.‘ Schweigen“ (LW 173). Kraft bezieht sich hier auf Kapital, auf Zahlkraft und Kreditwürdigkeit, an die für die Ehefrau das Mannsein gebunden ist.
Die Ehefrau ist weniger beschädigt. Sie ist es auch, die Seldersen später davon abhält, sich zu erschießen und die noch aktiv den wirtschaftlichen und sozialen Abstieg aufzuhalten versucht. Auch die weiblichen Protagonisten leiden, wie bereits gesagt, an der Wirtschaftskrise, jedoch ohne diesen schamhaften Habitus. Der eigene wirtschaftliche Erfolg bildet auch nicht das Ideal der Weiblichkeit, und so können die Protagonistinnen oft noch spielerisch, kokett oder pragmatisch mit den Problemen umgehen, was zumindest der Weiblichkeit oder den Klischees von Weiblichkeit nicht den geringsten Abbruch tut. Die männlichen Protagonisten sind die Versager, und zwar nicht nur, weil sie als beruflich Aktive konkret versagt haben, sondern weil es in den Zwanziger Jahren ganz forciert dem männlichen Ideal oder der Männlichkeit entspricht, sich auf dem Wirtschaftssektor zu beweisen.
Zusammenfassung
In den Zwanziger Jahren werden aus zeitgenössischer weiblicher Perspektive Männer oder Vorstellungen von Männlichkeit nicht in einem ‚natürlichen‘, sondern einem kulturellen bzw. kultivierten Koordinatensystem verankert. Wo die öffentliche Frau androgyn wird und sich von biologischen Konstruktionen ihres Geschlechts löst, ist aus weiblicher Sicht auch weniger Platz für ein solches Männerbild.
Nun erstaunt es heute nicht, wenn von kulturellen Zuschreibungen zu einem Geschlecht die Rede ist. In der Weimarer Republik vollzieht sich damit aber ein krisenbesetzter Umbruch von essentiellen Geschlechterbildern zu performativen Kategorien. Im Kontext der Goldenen Zwanziger Jahre implizieren die besagten, im weiblichen Diskursraum entworfenen Männlichkeitskonzepte im Speziellen fast automatisch eine Abhängigkeit zum Wirtschaftssystem.
Es ist sachlich, Männer daran zu bemessen, was sie an materiellem Wohlstand einbringen. Selbstverständlich liegen hierbei zahlreiche Abstufungen vor. Während die Werbung kein Interesse an Ironie und Doppelbödigkeit haben kann, sondern Frauen materielle Anforderungen an Männern ganz ungebrochen aus Eigennutz souffliert, liegt beispielsweise in Keuns Artikel ein Bewusstsein für die Klischeehaftigkeit und Frechheit der Aussagen vor, die letztlich nur einem Minoritätenbewusstsein entstammen können, wodurch fraglich bleibt, wie machtvoll der besagte ‚weibliche‘ Diskurs letztlich wirklich ist oder ob nicht aus der Not eine Tugend gemacht und im Grunde nur männliche Selbstbilder gespiegelt werden.
Im Ergebnis läuft die aufgezeigte kommunikative Dynamik allerdings auf das Gleiche hinaus: Männlichkeit bedeutet finanzielle Potenz, und diese Korrelation schafft ganz neue, ganz profane moderne männliche Identitäten und Probleme. Männlichkeit kann mit dem Aktienkurs fallen, wodurch sich eine männliche Schamkultur ausbildet, die direkt in den Zwanziger Jahren wurzelt.
Wie auch immer der ‚weibliche‘ Anteil hinsichtlich seiner Eigenständigkeit an der zeitgenössischen Konstruktion von Männlichkeit im Detail zu bewerten ist: es ist lohnend im Rahmen der Men’s Studies und der Forschung zur Weimarer Republik diesen Diskursraum als Beobachterperspektive in den Blick zu nehmen.
Männlichkeit konstituiert sich in der wechselseitigen Projektion von Selbst- und Fremdbildern, also auch im Spiegel weiblicher Interessen. Zum einen wirkt sich dies schon in der zeitgenössischen Interaktion auf den Gegenstandsbereich aus bzw. konstituiert gerade die wechselseitige Perspektivierung erst den Gegenstand selbst – und zwar nicht nur Männlichkeit, sondern auch deren Krise: Die fremde, ‚weibliche‘ Perspektive auf Männer, aus der Zuschreibungen und Anforderungen kommen, kann allein schon als Krise bewertet werden.
Vielleicht ist es ja die größte Männlichkeitskrise der Zwanziger Jahre, dass Männer nun ganz ostentativ nicht die einzigen sind, die über die Definitionsmacht von Männlichkeit verfügen. Zum anderen kann in der Forschung ein weitaus größeres Korpus bzw. ein deutlich breiteres Spektrum zu Rate gezogen werden – dessen bisherige Ignoranz gerade im Kontext der Zwanziger Jahre ebenfalls unter gendertheoretischen Gesichtspunkten problematisiert und zum Reflexionsgegenstand erhoben werden müsste: Es wäre innovativ, im Rahmen der Men’s Studies Männlichkeit in ihrer Abhängigkeit von Weiblichkeit zu untersuchen. Immerhin nehmen die Women’s Studies ja geradezu ihren Ausgangspunkt im fremden Blick auf die Frau.
Man könnte, wie schon mehrfach in dem vorliegenden Beitrag geschehen, einwenden, dass der Einsatz des männlichen Blicks in den Women’s Studies schließlich mit konkreten Machtkonstellationen zusammen hängt, da der weibliche Blick auf den Mann möglicherweise selbst bereits in Abhängigkeit von männlichen Perspektiven eingestellt ist.
Dennoch und bei aller anzuratenden Vorsicht, dabei nicht in geschlechtliche Essentialismen zu verfallen, ist es aber auch im Rahmen der Men’s Studies fruchtbar, die weibliche Perspektive zu berücksichtigen. Immerhin zeigt zumindest das vorliegende Beispiel neue Facetten von Männlichkeit in den Zwanziger Jahren, und gleichzeitig enthüllt sich der blinde Fleck der bisherigen Forschung, die Männlichkeit in dieser Zeit als Zwischenkriegskategorie auf Basis eines nur ‚halben‘, nämlich ‚männlichen‘ Korpus festgeschrieben hat.
[1] Lynne Frame: „Gretchen, Girl, Garçonne? Weimar Science and Popular Culture in Search of the Ideal New Woman“, in: Katharina von Ankum (Hrsg.): Women in the Metropolis. Gender and Modernity in Weimar Culture, Berkeley 1997, S. 12-40.
[2] Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur, Köln 2005, S. 181; Barbara Drescher: „Die ‚Neue Frau‘“, in: Walter Fähnders/Helga Karrenbrock (Hrsg.): Autorinnen der Weimarer Republik, Bielefeld 2003, S. 168, 172.
[3] Renny Harrigan: „Die emanzipierte Frau im deutschen Roman der Weimarer Republik“, in: James Elliot/Jürgen Pelzer/Carol Poore (Hrsg.): Stereotyp und Vorurteil in der Literatur. Untersuchungen zu Autoren des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1978, S. 70; Hanne Loreck: „Auch Greta Garbo ist einmal Verkäuferin gewesen. Das Kunstprodukt ‚Neue Frau’ in den zwanziger Jahren. Einige Überlegungen zu einer Photo- und Skulpturausstellung im Georg Kolbe Museum in Berlin“, in: Frauen, Kunst, Wissenschaft 9/10 (1990), S. 22f.; Frame: „Gretchen, Girl, Garçonne?“; Stefana Lefko: Female Pioneers and Social Mothers. Novels by Female Authors in the Weimar Republic and the Construction of the New Woman, Mass. 1998, S. 11f.; Vibeke Rützou Petersen: Women and Modernity in Weimar Germany. Reality and Representation in Popular Fiction, New York 2001, S. 136.
[4] Siegfried Kracauer: „Asyl für Obdachlose“, in: ders.: Die Angestellten, Frankfurt/M. 1971, S. 95.
[5] Vgl. FN 3, außerdem bspw. Patrice Petro: Joyless Streets. Women and Melodramatic Representation in Weimar Germany, Princeton 1989, S. 79-139; Katharina Sykora u.a.: „Die Neue Frau. Ein Alltagsmythos der Zwanziger Jahre“, in: Katharina Sykora u.a. (Hrsg.): Die Neue Frau. Herausforderung für die Bildmedien der Zwanziger Jahre, Berlin 1993, S. 11; Katharina von Ankum: „Karriere – Konsum – Kosmetik. Zur Ästhetik des weiblichen Gesichts“, in: Claudia Schmölders/Sander Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, S. 179f.
[6] Wobei anzumerken ist, dass gerade nach Erhalt des Wahlrechts Zukunftsentwürfe z.B. seitens der Frauenbewegung vage blieben, weil diese in ihrer bürgerlichen Variante zunächst einmal über das erreichte Ziel hinaus keine Forderungen hatte (Friedrun Bastkowski/Christa Lindner/Ulrike Prokop: Frauenalltag und Frauenbewegung im 20. Jahrhundert. 1890-1933. Materialsammlung zu der Abteilung 20. Jahrhundert im Historischen Museum Frankfurt. Frankfurt/M. 1980, S. II/8). Vielleicht ist es also weniger der Zukunftsbezug als Gegenwärtigkeit, die das Frauenbild der Zwanziger Jahre prägte. Zudem zeigt natürlich gerade die Geschichte der Frauenbewegung die historische Dimension der Neuen Frau, die aber als das Massenphänomen, als das sie in den Zwanzigern galt, dennoch keine direkten Vorläufer hatte.
[7] In der Krise ganz am Ende der Weimarer Republik, nachdem also die hier zu behandelnde Männlichkeitskrise um sich gegriffen hatte, kommt es allerdings sehr wohl wieder zu Restaurierungen ‚älterer‘ Frauenbilder, d.h. es kann jederzeit wieder ein Rückgriff auf traditionelle Weiblichkeitskonzepte erfolgen, was die progressiven Weiblichkeitsimaginationen Mitte der Zwanziger Jahre umso mehr unterstreicht. „Der Garҫonnetyp ist als zukunftsfrohes Symbol der modernen, selbständigen, versachlichten Frau begrüßt oder abgelehnt worden. Ist es ein Zufall, daß um 1930, zur Zeit der Krise, plötzlich wieder ‚weiche Weiblichkeit‘, mit längeren Haaren und Röcken, körpernahen Schnitten und betonter Taille gefragt ist?“ (Ausstellungskatalog: Frauenalltag und Frauenbewegung. 1890-1980, hrsg. v. Historischen Museum Frankfurt/M. Basel, Frankfurt/M. 1981, S. 57).
[8] Kurt Pinthus: „Männliche Literatur“, in: Das Tage-Buch 10 (1929), Nr. 1, S. 903-911. Gleichwohl gesteht Pinthus einigen Schriftstellerinnen einen ähnlichen ‚Vermännlichungsgrad‘ zu, weshalb Ulrike Baureithel davon spricht, dass sich geschlechtliche Zuschreibungen in dem Kontext schon von ihren „biologischen Trägern“ lösen (Ulrike Baureithel: „Masken der Virilität. Kulturtheoretische Strategien zur Überwindung des männlichen Identitätsverlustes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, in: Die Philosophin 8 (1993): Paradigmen des Männlichen, S. 24-35). Dennoch bleibt es bei der Kategorie ‚männlich‘ unabhängig von der Zuordnung der biologischen Geschlechter, die seitens männlicher Autoren zum Leitbild der Sachlichkeit erklärt wird.
[9] „[T]he myth of masculinity“ wurde nach beiden Weltkriegen gepflegt. Selbst wenn ein Bewusstsein für dessen Aufgesetztheit vorlag, bildete er durchaus den Maßstab für Diskussionen um Männlichkeit nach den Weltkriegen (Vgl. Maragret Randolph Higonnet u.a.: „Introduction“, in: dies. [Hrsg.]: Behind the Lines. Gender and the Two World Wars. New Haven/London 1987, S. 11), sodass nicht zu Unrecht von einer speziellen ‚Nachkriegs-Virilität‘ gesprochen werden kann, wie es die Forschung zur Weimarer Republik unermüdlich tut.
[10] Erich Troß: „Die neue Sachlichkeit“, in: Frankfurter Zeitung vom 11.09.1925, abgedruckt in: Sabina, Becker: Die Neue Sachlichkeit. Bd. 2: Quellen und Dokumente, Köln 2000, S. 27. Die Hervorhebungen liegen im Originaltext vor.
[11] Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994. Klaus Theweleits Studie zu ‚Männerphantasien‘ nimmt schon in Bezug auf die von Männern entworfenen Objekte als Basis und Ausgangspunkt das soldatische Subjekt (Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt/M. 1977). Sein zweiter Band Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors war schließlich diskursbildend für die Fokussierung auf das „Ich des soldatischen Mannes“ (Ders.: Männerphantasien. Bd 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. [1977] München 1995, S. 206) in Bezug auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
[12] Annette Dorgerloh: „‚Sie wollen wohl Ideale klauen…?‘ Präfigurationen zu den Bildprägungen der ‚Neuen Frau‘“, in: Sykora u.a. (Hrsg.): Die Neue Frau, S. 25-50, S. 25: „Das Kaiserreich mit seinen gerüsteten Helden war auf den Schlachtfeldern untergegangen, und mit den alten Institutionen hatten auch deren Symbole ihre Kraft eingebüßt. Angesichts der Schmach der besiegten Krieger und der entthronten Autoritäten vermochten die alten Bilder männlicher Macht für eine begrenzte Zeit nicht mehr integrierend wirken. […] Das Titelblatt der Neujahrsnummer [des Simplicissimus, M.L.] setzte eine Allegorie des Neuanfangs dagegen: Die ‚Hoffnung‘ ist eine junge Frau […].“
[13] Ansonsten hat – bei einer groben Durchsicht von Männlichkeitstypen dieser Epoche – das Arsenal der Jahrhundertwende überlebt: Es gibt den Bohemien und den Dandy noch, und aus Wiener Kaffeehausschriftstellern wurden Berliner Kneipenjournalisten.
[14] Ähnliches konstatiert Hans Ulrich Gumbrecht in Bezug auf die populäre Figur des Boxers (vgl. ders.: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt/M. 2001).
[15] Irmgard Keun: „System des Männerfangs“, in: Stefanie Arend/Ariane Martin: Irmgard Keun. 1905-2005. Deutungen und Dokumente, Bielefeld 2005, S. 138-141. Künftig zitiert mit der Sigle SM und Seitenangabe.
[16] Allerdings liegen im vorliegenden Kontext bis auf Irmgard Keuns Beitrag ausschließlich Ausgaben aus den frühen Zwanziger Jahren vor, während aus dem Uhu und der Dame auch spätere Ausgaben berücksichtigt werden. Ein streng synchroner Vergleich würde zeitliche Verschiebungen als Drittvariable ausschließen, was bei einer quantitativen Analyse notwendig wäre.
[17] Der Querschnitt durch 1922, hrsg. v. Alfred Flechtheim u.a. Berlin u.a. 1922, S. 37.
[18] Ebd., S. 65 u. 124. Auch im Uhu, dessen Zielpublikum aus Männern und Frauen bestand, finden sich allerdings durchaus ähnliche Darstellungen (Uhu, Heft 1, 3. Jg. Oktober 1926, S. 68ff). Gumbrecht würde ganz im Gegensatz zur vorliegenden Analyse schon den Stierkampf als Ausdruck einer Destabilisierung der männlichen Geschlechtsrolle in der Figur des Stierkämpfers sehen, weil dieser mit dem „Attribut der weiblichen Unterlegenheit verknüpft“ ist (Gumbrecht 2001, S. 423)
[19] Uhu, Heft 10, 3. Jg., Juli 1927, S. 133.
[20] Vgl. dazu auch den Beitrag von Barbara Vinken in diesem Band.
[21] Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart 1994.
[22] Vgl. z.B. verschiedene Bilder und Karikaturen des Generaldirektors in Ferber, Christian: Uhu. Das Magazin der 20er Jahre. Nachdruck der Erstveröffentlichungen aus den Original-UHU-Bänden von 1924-1933. Frankfurt/Main 1979, S. 17 u. 181; Uhu. Heft 9, Juni 1925, S. 81. So findet sich auch im Uhu auch die Erzählung Herr Generaldirektor Woellermann entdeckt die Gymnastik (Uhu. Heft 2, 6. Jg., November 1929, S. 74ff.). In Frauenzeitschriften wird sehr deutlich, dass die Zwanziger Jahre nicht mehr die Welt des Kaisers oder des Krieges ist, sondern des Kapitals und der Aktien. Dem wird in dem gegenwartszugewandten Uhu unter dem Titel 200 Worte Deutsch, die Sie vor zehn Jahren noch nicht kannten Rechnung getragen. Der „Altbesitz“ wird erläutert als „Wertpapiere, die der Inhaber schon vor Kriegsende besaß“, „Aufwertung“ als „[t]eilweise Entschädigung für entwertete Papiermark-Forderungen“ (Ferber: Uhu, S. 230). All dies soll den Blick nicht darauf verstellen, dass in der Literatur auch von Frauen, so auch von Keun, Kriegsversehrte auftauchen, aber dieser stellt nur einen, und nicht den prominentesten neben zahlreichen Männertypen dar.
[23] Vgl. z.B. Die Dame. 2. Novemberheft, Heft 4, 54. Jg. 1927, S. 10/11; Die Dame. 1. Aprilheft, Heft 14, 54. Jg. 1927, S. 6; Die Dame. 2. Aprilheft, Heft 15, 55. Jg. 1928, S. 6/7; Die Dame. 3. Aprilheft, Heft 16, 53. Jg. 1926, S. 14/15.
[24] Die Dame. 1. Maiheft, Heft 16, 54. Jg. 1927, S. 14.
[25] Die Dame, 2. Aprilheft, Heft 15, 53. Jg. 1926, S. 41.
[26] Uhu, Heft 8, Mai 1927, S. 109.
[27] Die Dame, 2. Januarheft, Heft 8, 54. Jg. 1927, Titelrückseite.
[28] Uhu, Heft 12, 6. Jg., September 1930, Umschlaginnenseite hinten. Vgl. auch Peri Rasier-Creme-Werbung in: Uhu, Heft 1, 6. Jg., Oktober 1929, S. 97.
[29] Uhu, Heft 6, März 1925, S. 130.
[30] Uhu, Heft 7, 6. Jg., April 1930, S. 1.
[31] Die Dame, 1. Aprilheft, Heft 14, 54. Jg. 1927, S. 47.
[32] Die Dame, 1. Dezemberheft, Heft 5, 56. Jg. 1928, S. 65.
[33] Uhu, Heft 2, 6. Jg., November 1929, S. 103.
[34] Uhu, Heft 7, April 1925, S. 123.
[35] Uhu, Heft 1, Oktober 1924, S. XIII.
[36] Die Dame, Automobil-Heft, 1. Novemberheft, Heft 3, 56. Jg. 1928, S. 55.
[37] Die Dame, 2. Dezemberheft, Heft 6, 54. Jg. 1927, S. 35.
[38] Die Dame, 2. Juliheft, Heft 21, 54. Jg. 1927, S. 45.
[39] Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 36.
[40] Ebd., S. 195.
[41] Frame: „Gretchen, Girl, Garçonne?”, S. 13-15; Uhu, Heft 4, 7. Jg., Januar 1931, S. 46-54: „Die Frau, die zu Ihnen paßt – der Mann, der zu Ihnen paßt. Ein neues psychologisches Fragespiel für Verliebte, Verlobte, Verheiratete, Zufriedene und Unzufriedene. Vgl. auch den Uhu-Artikel: „Blond oder brünett? Von Franz Xaver Kappus. Mit Bildern“ (Uhu, Heft 1, Oktober 1925) oder: „Welche Frau ist am begehrtesten? Eine Bilderreihe zu einem ewigen Problem. Von Vicki Baum“ (Uhu, Heft 1, 7. Jg., Oktober 1930, S. 64-74).
[42] Uhu, Heft 11, August 1929, S. 52-60. Im Uhu findet sich z.B. eine Bilderstrecke mit dem Titel: „Das fesselnde Männer-Gesicht. Eine Sammlung von Charakterköpfen. Wie eine Frau sie sieht“ (Uhu, Heft 6, 7. Jg., März 1931, S. 9-16). Die „Charakterköpfe“, die nicht nur Frauen faszinieren und ein Archiv von Männlichkeit seiner Zeit repräsentieren, sind nicht unbedingt jung, attraktiv oder ‚männlich‘.
[43] Die Dame, 1. Aprilheft, Heft 14, 55. Jg. 1928, S. 7.
[44] Vgl. „Was Männer so reden… Zu jeder Frau dasselbe. Einige Sprechplatten von Männern aus der Sammlung einer jungen Frau“, in: Uhu, 7. Jg., Januar 1931, Heft 4, S. 64-72.
[45] Stefanie Arend/Ariane Martin: „Nachwort“, in: Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, hrsg. v. Stefanie Arend u. Ariane Martin, Berlin 2005, S. 227. Im Folgenden zitiert mit der Sigle KM und Seitenangabe.
[46] Keun beschreibt in ihrem Feuilletonbeitrag den Austausch von Gütern, wie er in Bezug auf die Weimarer Republik bestens im Kontext der Women’s Studies bekannt ist: Geld gegen Schönheit und Wohlverhalten. Nun ist es aber der Mann, der als Objekt seine Qualitäten, also vor allem seinen materiellen Wert in die Waagschale zu legen hat. Damit die Frau souveränes Beobachtersubjekt bleiben kann, folgt unter Punkt römisch III. Keuns oberster Rat, sich nicht zu verlieben, weil man dann in dem Ringen um Macht unterliegt (SM 141). Allerdings stellt Keuns Text als Ganzes und in seinen einzelnen Beschreibungen von männlichem und weiblichem Verhalten schon die Replik auf einen männlichen Diskurs dar und macht dadurch möglicherweise aus der Not eine Tugend. Ob es sich um eine genuin weibliche Perspektive auf den Spielgegner handelt, wenn männliche Vorlagen existieren und erst eine männliche Perspektive ermittelt und angelegt werden muss, bleibt letztlich fraglich.
[47] Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 150-162.
[48] Uhu, Heft 4, Januar 1925, S. 35 u. 139.
[49] Heinrich Detering: „Les vagabondes. Le retour des héroïnes picaresques dans le roman allemand“, in: Études littéraires 26 (1993/94), H. 3, S. 29-43; Kerstin Barndt: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Köln 2003, S. 184-186.
[50] Siegfried Kracauer: „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino [1927]“, in: ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. 1977, S. 279-294.
[51] Livia Wittmann: „Erfolgschancen eines Gaukelspiels. Vergleichende Beobachtungen zu Gentlemen prefer Blondes (Anita Loos) und Das kunstseidene Mädchen (Irmgard Keun)“, in: Carleton Germanic Papers 11 (1983), S. 35-49.
[52] Dorothee Kimmich: „Moralistik und Neue Sachlichkeit. Ein Kommentar zu Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft“, in: Wolfgang Eßbach/Joachim Fischer/Helmut Lethen (Hrsg.): Plessners Grenzen der Gemeinschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 160-182, hier S. 171, S. 180-182.
[53] Hans Keilson: Das Leben geht weiter [1933], Frankfurt/M. 2011, S. 78. Im Folgenden zitiert mit der Sigle LW und Seitenangabe.
[54] Sighard Neckel unterscheidet Scham und Schuld anhand der internen oder externen Verankerung. Schuld resultiert demnach aus inneren moralischen oder existentiellen Nöten, während Scham von außen evoziert werden kann und einen Mechanismus der sozialen Kontrolle darstellt (Sighard Neckel: „Achtungsverlust und Scham“, in: ders.: Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000). Im vorliegenden Beispiel der Männlichkeitskonzepte zeigt sich, dass sich Scham zwar anhand von Maßstäben einstellt, die von außen herangetragen werden, dass aber gerade deren Internalisierung, also eine Verbindung oder Überlagerung von Fremdzuschreibung und Selbstbild, fatal sind.
[55] Vgl. eine ähnliche Bestimmung der Scham bei Georg Simmel: „Zur Psychologie der Scham [1901]“, in: ders.: Schriften zur Soziologie, Frankfurt/M. 1986.
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Maren Lickhardt ist Vertretungsprofessorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen.