Mode JuliDirk Hohnsträter19.7.2015

Das Paradies der Herren. Über Berluti

Irgendwann zerfallen auch die besten Schuhe der Welt. Der Ich-Erzähler in Christian Krachts Roman „1979“ erbt ein Paar hellbraune Berluti-Halbschuhe von seinem Freund Christopher, doch zu Beginn des zweiten Teils fällt das als unverwüstlich geltende Schuhwerk „langsam auseinander, ein paar Wochen würden sie wohl noch halten, aber dann war sicher Schluß. In der Sohle des linken Schuhs war bereits ein Loch. Ich spürte mit den Zehen Steine unter mir, kleine Kiesel rutschten beim Gehen durch das Loch nach oben. Der rechte Schuh war an der Spitze ganz offen, das Leder bog sich häßlich und franste aus. Die besten Schuhe der Welt konnten also noch nicht einmal einen Monat in den Bergen überstehen, dachte ich“.

Schuhe von Berluti haben einen legendären Ruf – und dass Kracht ausgerechnet ein Paar dieser Marke der Auflösung preisgibt, ist kein Zufall. So wenig, dass Björn Weyand in seiner „Poetik der Marke“ den Roman „als Geschichte eines Paars Schuhe der Marke Berluti“ analysiert. Im Erscheinungsjahr von „1979“ schwärmte Kracht-Kumpan Eckart Nickel in der Frankfurter Allgemeinen von den einzigartigen Schuhen: „Das fast schlehenfarbene Leder mit sechs Ösen erreicht seine höchste Leuchtkraft während eines Herbstsonnenuntergangs an klarem Tage.“

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Maßschuhe von Berluti, berichtet die New York Times, erfordern 50 Arbeitsstunden in der Herstellung und kosten mindestens 7000 US-Dollar. Das günstigste Paar aus der Konfektionslinie ist derzeit für 600 Euro zu haben. Allen Berluti-(Glattleder)-Schuhen gemein ist die spezielle Färbetechnik, bei der von Hand mindestens drei Farbschichten auf das Oberleder aufgetragen werden, um jedem einzelnen Paar eine individuelle Patina zu verleihen. Im sogenannten Swann-Club treffen sich alljährlich mehr oder minder Proust-kundige Aficionados, um ihre Exemplare mit Jahrgangschampagner zu polieren. Ob es sich dabei um Dom Perignon oder Krug handelt, schwankt je nach Quelle.

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Wichtiger als das Ritual aber ist die Patina, um die Finish und Fabel von Berluti kreisen. Denn Patina, so hat Grant McCracken herausgearbeitet, war bis zum 18. Jahrhundert „one of the most important ways that high-standing individuals distinguished themselves from low-standing ones“ und sei heute, unter dem akzelerierenden Regime der Konsummoden mit seiner Aufwertung des Immer-Neuen, „a status strategy used by the very rich alone“. Es ist genau dieses Spannungsfeld zwischen generalisierter Mode und superreicher Diskretion, in dem sich die Marke Berluti derzeit zu positionieren versucht. 1993 vom Luxus-Giganten LVMH erworben, wird sie seit 2011 von Antoine Arnault geleitet, dem Sohn des LVMH-Eigentümers und vielfachen Milliardärs Bernard Arnault. Angeblich soll Papa dem sechzehnjährigen Antoine zum Geburtstag sein erstes Paar Berlutis geschenkt haben. Die Erweiterung des 1895 vom italienischen Schuhmacher Alessandro Berluti in Frankreich gegründeten Schuhhauses zu einer globalen Modemarke ist das Gesellenstück des Unternehmer-Erbens. Und wie es aussieht, macht der Filius alles richtig.

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„Berluti’s end product is the tip of an iceberg of incredible imagination and artisanship“, schreibt Modekritiker Tim Blanks, der die Bekleidungskollektionen des Hauses seit der ersten Schau 2012 verfolgt hat. Hinsichtlich Preis und Prestige nur mit dem unabhängigen Rivalen Hermès oder mit Bottega Veneta, dem Flaggschiff des konkurrierenden Kering-Konzerns, vergleichbar, versucht Berlutis Herren-Prêt-à-porter sich der Haute Couture anzunähern. Im Herbst 2013 etwa zeigte Berluti „six layers of wax on a double-breasted trench in cashmere-lined kangaroo“ (Tim Blanks); im Herbst 2015 sah man „jackets woven from cashmere hand-loomed with leather to make a tweed“. Die Teile sind so aufwendig gefertigt, dass beispielsweise Hemden lediglich in einer Stückzahl von 200 produziert werden; selbst Jeans verarbeitet man mit der Akkuratesse neapolitanischer Schneider.

Verantwortlich für diese Extravaganzen, die niemanden, dem Kleidung etwas bedeutet, unbeeindruckt lassen, ist Kreativdirektor Alessandro Sartori, dessen Entwürfe das Schuhdesign des 120 Jahre alten Hauses kongenial interpretieren. Berluti bietet perfektes Prêt-à-porter, aus wunderschönen Stoffen gefertigt, in herrlichen Farben gehalten, zu 90 Prozent in Handarbeit gemacht, voller traumhafter Details, lässig und entspannt in der Anmutung. Und doch wird, wer das Stammhaus in der Pariser rue Marbeuf oder die neue Boutique in der rue de Sèvres aufsucht, den Laden mit einem merkwürdig ambivalenten Gefühl wieder verlassen. Unweit vom Bon Marché – der Mutter aller Warenhäuser und einem Vorbild zu Zolas „Au Bonheur des Dames“ – gelegen, will der Sèvres-Shop das Paradies der Herren sein. Aber irgendetwas stimmt nicht, und das liegt nicht an der zweifellos unerquicklichen Stimmung, die von der weitgehenden Unerschwinglichkeit der Waren herrührt.

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Warum verlässt man diesen Laden so perplex? Was ist falsch, wenn alles richtig ist? Anders als 1979 und noch 2001 wirkt Berluti heute – neu. Jede einzelne Maßnahme, die Arnault ergreift, leuchtet ein – und bestätigt doch nur das Grunddilemma einer Erfindung des Alteingesessenen.

Da ist, erstens, die Ernennung des hochtalentierten Alessandro Sartori zum Chefdesigner. Sartori, der zuvor 14 Jahre für Zegna arbeitete, trägt tatsächlich denselben Vornamen wie der Firmen-Gründer Alessandro Berluti und heißt mit Nachnamen wirklich Sartori, also Schneider. Er kann nichts dafür, aber sein emblematischer Name klingt wie am Reißbrett des Marketing erfunden.

Dann ist da, zweitens, das Ladenlokal. Es befindet sich am ehemaligen Standort der 1933 gegründeten Maßschneiderei Arnys. LVMH hatte das Atelier aufgekauft und die historische Einrichtung durch den neuen Berluti-Laden ersetzt. Doch die 14 Schneider wurden übernommen, um künftig als Berlutis Maßabteilung zu fungieren. Unter dem Label „Berluti by Arnys“ wird sogar weiterhin die „Forestière“ angeboten, jene ikonische, nach Vorstellungen von Le Corbusier entworfene Jacke, die seit 1947 bei Arnys erhältlich war. In überarbeiteter Form sieht man sie gleich im Eingangsbereich auf einem Tisch ausgebreitet, als Teil der sogenannten „Emblematics“-Dauerkollektion. So kauft sich LVMH nicht nur Expertise, sondern auch Tradition – und demoliert doch zugleich das eingelebte Atelier.

Darüber hinaus bedient sich die Marke, drittens, der Technik des faux vieux: „Cashmere knits were airbrushed, printed, and warmed, which made the pigment eat into the fiber to create a worn-in look“, berichtet Blanks über Strickwaren aus dem Herbst 2015. Um das von der Zeit Gezeichnete auf die brandneue Ware abstrahlen zu lassen, fotografiert man sie für den Katalog, viertens, an traditionsreichen Orten – im Winter 2013 etwa in der seit 1831 existierenden Pariser Fachhandlung für ausgestopfte Tiere Deyrolle.

Wie wenig das neue Berluti mit dem Eingelaufenen, Eingelebten alten Geldes zu tun hat, zeigt sich auch daran, dass die Website der Marke Nachhilfe in Sachen Stil und Kleidungspflege gibt. In einer regelmäßig bespielten Rubrik werden Fragen beantwortet wie etwa diejenige, wie oft man seine Anzüge zur Reinigung bringen soll oder wie der hauseigene Schnürsenkelknoten funktioniert. Und damit auch ehrgeizige Aufsteiger in den Genuss der exklusiven Garderobe kommen können, gibt es im Sale bis zu 50% Rabatt.

Von den Personen (Familienmitglied Olga Berluti soll noch irgendwo im Haus tätig sein) über das absorbierte Atelier, vom Fake-Erbstück bis zum Lebensarttipp für Emporkömmlinge wirkt das neue Berluti wie eine bloße Behauptung – trotz aller zweifellos vorhandenen schneiderischen Integrität und kreativen Extravaganz. Das Zugekaufte und Konstruierte höhlt den Mythos einer Marke, die so unverwüstlich war wie ihre Produkte, von Innen aus. Ausgerechnet dem Haus der patinierten Schuhe fehlt bei seiner Expansion etwas, das man eben nicht kaufen und nicht konstruieren kann und woran es dem modernen Marken-Luxus seit jeher mangelt: Patina.

 

Literatur

Kracht, Christian: 1979. Ein Roman. Köln 2001, S. 127.

McCracken, Grant: „Ever Dearer in Our Thoughts“ Patina and the Representation of Status before and after the Eighteenth Century. In: ders.: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities. Bloomington and Indianapolis 1988, S. 30-43, hier 31.

Nickel, Eckhart: Zweite Haut am Fuß. Berluti-Schuhe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Dezember 2001, S. 12.

Weyand, Björn: Poetik der Marke. Konsumkultur und literarische Verfahren 1900-2000. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 291-302.

 

Dirk Hohnsträter ist Kulturwissenschaftler an der Universität Hildesheim und Betreiber des Blogs INVENTUR.