Oral Pop History Düsseldorf Rezension zu Rüdiger Esch, »Electri_City«von Timor Kaul24.8.2015

Kritische Geschichte

Auch wenn Köln über die legendären Can hinaus mit dem Komponisten Karlheinz Stockhausen, dem Techno-Label Kompakt sowie der Musikmesse c/o Pop eine beachtliche Tradition in Sachen Elektronischer Musik aufbieten kann, weist Düsseldorf mit Gruppen wie etwa Kraftwerk, Neu!, DAF, Die Krupps oder Der Plan musikgeschichtlich noch prominentere Namen auf.

Zwar soll hier keinesfalls der allgegenwärtige Antagonismus der beiden Nachbarmetropolen fortgesetzt werden, zumal Berlin inzwischen den gesamten Bereich der Electronic Dance Music (EDM) national wie international dominiert. Gleichwohl bleibt die historisch interessante Frage, ob oder inwieweit der britische Musikjournalist Kodwo Eshun recht hat, wenn er behauptet, dass der Rhein das Mississippidelta des Techno sei und dabei vor allem an Kraftwerk denkt (Eshun 1999: 119).

Rüdiger Esch ist es mit Electri_City gelungen, die aufregende goldene Ära der Düsseldorfer Musikszene von 1968-1986 mithilfe von rund fünfzig exklusiven Zeitzeugeninterviews detailliert und doch sehr kurzweilig und spannend darzustellen (Esch 2014). Die dafür gewählte Form der Montage von Gesprächsausschnitten orientiert sich an Jürgen Teipels Punk-Hommage Verschwende deine Jugend (Teipel 2001) und ist in jüngerer Zeit sowohl von diesem selber als auch von Felix Denk und Sven von Thülen aufgegriffen worden, um über die Geschichte von Techno und DJs zu berichten (Denk/von Thülen 2012; Teipel 2013).

Neben offensichtlich vorhandenen Tendenzen zur Historisierung und Kanonisierung popmusikalischer Phänomene, ist allen genannten Veröffentlichungen der methodische Ansatz der Oral History gemeinsam. Mit diesem wird der Anspruch erhoben, dass die jeweiligen Szenen ‚ihre‘ Geschichte selber schreiben und dies nicht Außenstehenden überlassen wird (Denk, Teipel, von Thülen, in: De:Bug 2012). Die Nähe der Interviewer, Esch etwa ist ehemaliger Bassist der Krupps, zum untersuchten Phänomen bringt dabei sicherlich Informationen in großer Fülle zu Tage und auch solche, die eben nur Insidern zugänglich sind.

Allerdings, und dies wird methodologisch nicht reflektiert, hat auch die Oral History ihre Tücken, welche sich vor allem aus dem zeitlichen Abstand zum Geschehen ergeben, dessen Resultat eine ungenaue oder beschönigende bis glorifizierende Erinnerung sein kann. Gerade die Geschichte der Populären Musik hat, darin mittelalterlichen Hagiographien strukturell verwandt, ihre Legenden, Reliquien und sagenumwobenen Orte. Sie bedarf dieser wohl auch, aber gerade deshalb auch des kritischen Vergleiches mit anderen Quellen.

Dies erfolgt in Electri_City zwar teilweise durch die Kontrastierung von Aussagen, so dass ein Nebeneinander verschiedener historischer Narrative erkennbar wird. Grundsätzlich problematisch an der Montage bleibt jedoch, dass die zahlreichen Interviews nur stückweise in kleinen, thematisch mehr oder weniger geordneten Ausschnitten wiedergegeben werden, deren Redaktion durch den somit eben nur scheinbar abwesenden Autoren erfolgte. Rüdiger Esch rekonstruiert zwar die Geschichte der Düsseldorfer Szene, schreibt diese aber auch zugleich durch seine Auswahl und Anordnungen. Wie bei jeglicher Geschichtsdarstellung, dürfte dabei der eigene Standpunkt ebenfalls nicht unerheblich sein (Lorenz 1997). Einer der größten Düsseldorf Hits beginnt bekanntlich mit der Zeile: „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht!“, auch wenn dies von den Fehlfarben zweifelsohne anders gemeint gewesen war.

In seiner Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben unterscheidet Friederich Nietzsche mit der monumentalistischen, der antiquarischen und der kritischen idealtypisch drei Arten der Geschichtsschreibung (Nietzsche 2009 [1874]: 20), die sich alle in Electri_City finden lassen. Es ist Eschs erklärtes und auch erreichtes Ziel gewesen, der Musik seiner Heimatstadt und den Beteiligten ein Denkmal zu setzen, was mittels eines am Detail interessierten, und im Prinzip lokalgeschichtlich-antiquarischen Ansatzes erfolgte.

Kritisch wendet sich das Buch dabei vor allem gegen Kraftwerk und es ist wenig verwunderlich, dass der ungeheure, sorgfältig inszenierte Nimbus von Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben, den eigentlichen Initiatoren der Band, gerade aus der Nähe betrachtet, deutlich weniger geheimnisvoll und herrlich wirkt. Sicherlich sind die Kraftwerkgründer jene, von ehemaligen Mitstreitern und anderen Personen aus ihrem Umfeld beschriebenen, verwöhnten Großbürger-Söhne und sich zunehmend elitär und snobistisch gebärdenden Nerds. Es ist wohl auf den weitgehenden publizistischen Quietismus der beiden zurückzuführen, dass sie nicht zu diesen und anderen, teilweise schwerer wiegenden Vorwürfen Stellung beziehen und auch bezüglich ihres ungleich wichtiger erscheinenden ästhetischen Konzeptes nicht persönlich zu Wort kommen. Eventuell hätte man auch an dieser Stelle der popmusikalischen Oral History Düsseldorfs auf bereits publiziertes Interviewmaterial zurückgreifen können, wie dies etwa im Falle des leider bereits früh verstorbenen Klaus Dinger geschehen ist.

Überhaupt bleibt das Bild Kraftwerks, ebenso wie das ihrer punkig inspirierten Nachfolger von DAF, beim szeneinternen Blick hinter die Kulissen notwendigerweise ambivalent und oszilliert zwischen Bewunderung, kritischer Würdigung, Verdammung und wohl auch gelegentlichem Neid. Und natürlich wird auch hier und da der hinlänglich bekannte Vorwurf des ‚Ausverkaufs‘ erhoben. Allerdings hat im Falle Kraftwerks gerade die spätere, voll elektrifizierte, aber eben auch kommerziell erfolgreichere Phase internationale Beachtung gefunden.

Und trotz aller sicherlich wohlverdienten Würdigungen der Dinger & Co. erscheint dieser zeitweilige ökonomische Erfolg und langfristige künstlerische Einfluss der Konkurrenten von Hütter, Schneider & Co. dann doch als wichtigster potentieller Beleg für die zentrale These des Buches: dass die Entwicklung der Elektronischen Popmusik im Düsseldorf, der Electri_City der 1970er Jahre, ihren Ausgang nahm. Gerade aus dem lokalen Kontext heraus ist diese Sichtweise vermutlich ebenso verlockend, wie sie bei weitergehender Betrachtung als falsch oder zumindest doch zumindest als höchst revisionsbedürftig erscheint.

Die Herkunft so manches beteiligten Musikers aus dem Umland erscheint dabei nebensächlich, weil Düsseldorf offensichtlich für mehr als ein Jahrzehnt einen zentralen Kulminationspunkt für innovationsfreudige Bandprojekte darstellte. Dieser bestand jedoch keinesfalls losgelöst von den anderen Entwicklungen in der Bundesrepublik oder gar der sonstigen Musikgeschichte.

Vor allem sind (nach ersten Experimenten in den 1920er Jahren) Paris und Köln als erste Zentren der elektronisch erzeugten oder elektronisch manipulierten Musik für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu nennen. In den ausgehenden 60er Jahren wurde die dort und längst auch andernorts produzierte Musique concrète und Elektronische Musik zwar rezipiert – gerade Stockhausen wird gerne als Einfluss für Can und auch für den gesamten Krautrock genannt (Cope 1998: 68) –, ungleich wichtiger für die entstehende deutsche Rockmusik war jedoch sicherlich das Vorbild des dezidiert gegenkulturellen anglo-amerikanischen Psychedelic Rock, der wiederum unter anderem von Jazz und Minimal Music beeinflusst war. In dem von dem Düsseldorfer Conrad Schnitzler in Berlin initiierten Zodiac Klub mischten sich 1968 dann dementsprechend elektronische und andere Experimente. Im Süden der Republik hatten Amon Düül schon im Vorjahr für Furore gesorgt, und der Bayer Florian Fricke von Popul Vuh war 1969 einer der ersten Besitzer eines, für den neuen Sound so wichtigen, Moog-Synthesizers in Deutschland. Die bahnbrechende Verwendung dieses Instruments als repetitiv arbeitender Sequenzer ist wiederum mit Tangerine Dream Vertretern der international erfolgreichen Berliner Schule zuzuschreiben. Selbst wenn dies bei den Esoterikern rund um Edgar Froese 1974 noch deutlich anders klang als später bei Giorgio Moroder, Kraftwerk oder gar bei DAF und Liaisons Dangereuses, war der Sequenzer und das daraus resultierende Kompositionsprinzip hier jeweils ebenso grundlegend wie für die weitere Entwicklung in Richtung Techno.

Electri_City illustriert die recht konventionelle krautige Konstitution sowie die eher lokalspezifischen poppigen und punkigen Transformationen der Düsseldorfer Szene facettenreich und erwähnt dabei durchaus auch die hier nur äußerst knapp skizzierten musikgeschichtlichen Hintergründe. Aber diese werden dann eben nicht kritisch gegen den „globalen Mythos“ von Düsseldorf als dem „Ursprung der elektronischen Musik“ in Stellung gebracht, von dem der Ex- Kraftwerker Wolfgang Flür zwar durchaus augenzwinkernd und teilweise einschränkend, aber letztendlich dann doch wieder bestätigend in seinem Vorwort spricht.

Allerdings wird auch dort bereits zu Recht auf das Studio und die zentrale Rolle von Conny Plank hingewiesen, der Produzent und Mentor vieler innovativer Düsseldorfer und sonstiger deutscher Bands war. Aufgrund der zunehmenden Popularität des ursprünglich stigmatisierten Krautrocks pilgerten ab Mitte der 70er Jahre auch englische Bands wie etwa Ultravox zu Plank ins bergische Wolperath, um dort ihre Alben aufzunehmen. Überhaupt ist für jene Zeit ein intensiver deutsch-britischer Transfer zu verzeichnen, zu dem sich auch in Electri_City durch die Beteiligung englischer Zeitzeugen interessante Informationen und Hintergründe finden lassen.

Da dieser Transfer, wenn überhaupt jemals, nicht lange eine Einbahnstraße darstellte, ergibt sich die Frage, ob das von dem britischen Musikwissenschaftler Sean Albiez vertretene Modell einer europäisch orientierten, aber personell vor allem deutsch-britisch besetzten „Sonoscape“ (Albiez 2011) als wichtige Inspirationsquelle kommender globaler Entwicklungen nicht plausibler erscheint als deren enge Begrenzung auf Düsseldorf, das Rheinland oder auch die alte Bundesrepublik.

Zu bedenken bleibt besonders, dass dabei mal wieder allzu leicht die afro-futuristisch inspirierte Integration elektronischer Klänge aus dem Blickfeld zu geraten droht. Gerade auf diese Traditionslinie, die mit Namen wie Sun Ra, Miles Davis, Herbie Hancock oder auch Lee ‚Scratch‘ Perry und unterschiedlichen, dynamisch wuchernden Stilistiken verbunden ist, hatte der bereits eingangs erwähnte Kodwo Eshun in Heller als die Sonne aufmerksam gemacht. Seine Analogie vom Rhein als Mississippidelta des Genres Techno erfolgt dort im Kontext einer antiessentialistisch argumentierenden Erörterungen der Kraftwerkadaptionen in Africa Bambaataas wegbereitendem Electro-Hit Planet Rock (Eshun 1999: 123).

Im Anschluss daran erscheint gerade elektronisches Klangmaterial tendenziell geeignet, Kategorien wie ‚weiß‘ und ‚schwarz‘ zu unterlaufen. Wohl auch, weil es traditionell in einem Spannungsverhältnis zur „Topophilie“ (Ismael-Wendt 2011), dem Hang zur Verortung durch Wissenschaft und Feuilleton steht – das ‚Mississippidelta‘ erscheint auch in diesem Fall als Projektion des Begehrens nach Ursprung und Authentizität, eben als Mythos.

Den Ergebnissen der wissenschaftlichen Konferenz zu Electri_City vom 29.-31.10.2015 darf darum mit Spannung entgegengesehen werden. Dies gilt auch für das Konzertprogramm, wobei zu hoffen ist, dass sich dieses nicht nur in nostalgischen Reminiszenzen erschöpft, auch wenn die ‚guten alten Zeiten‘ bekanntlich schon immer besser gewesen sind als die jeweilige Gegenwart. Dass die Stadt Düsseldorf den von Nietzsche dargelegten Nutzen der Historie erkannt hat und gerade mit dem monumentalistischen Aspekt der Geschichtsschreibung von Esch die Werbetrommel für den eigenen Standort rühren will, ist vor dem Hintergrund des Konzeptes der Creative Cities (Reckwitz 2012: 274) wirtschaftlich verständlich und kulturpolitisch positiv zu sehen. Allerdings bedarf es trotzdem der kritischen Historie, welche den allzu gerne geglaubten Mythos der rheinischen Electri_City relativiert.

 

Literatur

Albiez, Sean, Europe Non-Stop: West Germany, Britain and the Rise of Synthpop, 1975- 81, in: ders., Patty, David, (Hrsg.), Kraftwerk: Music Non-Stop, New York, London 2011, 139- 162.

Cope, Julian, Oh du große kosmische Musik, in: Kemper, Peter, Langhoff, Thomas, Sonnenschein, Ulrich, (Hrsg.), ‚but I like it‘: Jugendkultur und Popmusik, Stuttgart 1998, S.68-79.

Denk, Felix, Thülen, Sven, von, Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende, Frankfurt 2012.

Denk, Felix, Teipel, Jürgen, Thülen, Sven, von, in: De: Bug, ‚Der Klang der Familie‘ – Oral Pop History: Techno- Punk-Gipfeltreffen der besonderen Art, unter: http://de-bug.de/mag/der-klang-der-familie-oral-pop-history/, 23.08.15, 22:25.

Esch, Rüdiger, Electri_City: Elektronische Musik aus Düsseldorf, Berlin 2014.

Eshun, Kodwo, Heller als die Sonne: Abenteuer in der Sonic Fiction, Berlin 1999.

Ismaiel-Wendt, Johannes, Tracks´n´Trecks: Populäre Musik und Postkoloniale Analyse, Münster 2011.

Lorenz, Chris, Konstruktion der Vergangenheit: Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997.

Nietzsche, Friederich, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Stuttgart 2009 (1874).

Reckwitz, Andreas, Die Erfindung der Kreativität: Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt 2012.

Teipel, Jürgen, Verschwende deine Jugend: Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Frankfurt 2001.

Teipel, Jürgen, Mehr als laut: DJs erzählen, Frankfurt 2013.

Wagner, Christoph, Der Klang der Revolte: Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground, Mainz 2013.

 

Timor Kaul ist als Kultur- und Musikwissenschaftler regelmäßiger Gastreferent am Institut für Populäre Musik in Bochum und arbeitet zur Zeit an seinem musikethnologischen Promotionsvorhaben Lebenswelt House/ Techno: DJs und ihre Musik.