Ein Amerikaner in Paris Rezension zur Ausstellung, »I ♥ John Giorno«von Maike Aden14.11.2015

Electronic sensory poetry environments

„I ♥ John Giorno“. Der Ausstellungstitel klingt nicht nur reißerisch, er sieht auch so aus. Umso überraschender der Besuch dieser großartigen Retrospektive, die sich einer der Hauptfiguren des New Yorker Underground und der Beat Generation widmet: John Giorno.

Ugo Rondinone, Kurator dieser Hommage und Lebenspartner John Giornos, hat die Räume des ansonsten auf stylischen Trashlook setzenden Pariser Palais de Tokyo in ein wohltuend klares und durch und durch schlüssiges Ausstellungsdisplay transformiert. Warum im Pressetext so viel Wirbel um ihn als Künstlerkurator gemacht wird, ist nicht ganz ersichtlich. Sei’s drum, der Ausstellung tut dieses Zugeständnis an die Star-Institution „Curartist“ keinen Abbruch.

Eingeleitet wird die Schau mit einer von Ugo Rondinone gefilmten Performance John Giornos: „Thanx 4 Nothing“. Wennschon auch diese Schreibung ein wenig überstrapaziert erscheint, der Titel dieses Gedichts hätte passender nicht sein können. John Giorno hat es anlässlich seines eigenen 70. Geburtstags geschrieben und trägt es hier ohne jegliche gekünstelte Attitüde überaus ergreifend vor.

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Erbarmungslos ehrlich und doch so warm und melodisch spricht er hier in einem schwärzer und schwärzer werdenden Monolog über seine – und wohl auch unsere – Lebenserfahrungen und Wünsche. Über Schokolade und (andere) Drogen, über Liebe, Sex und Promiskuität, über Depressionen, Sehnsüchte, Selbstmord, Betrug, Habgier, und wie das alles aus dem Nichts kommt, über Freunde, die eigentlich Feinde sind, über ihren Eifer, ihren Lob und ihren Beifall, die immer eigennützig sind, über schlechte Nachrichten, die immer wahr sind und über viele gemeine Wahrheiten mehr, über die man in der Öffentlichkeit eigentlich lieber nicht spricht, wie zum Beispiel über Amerikas stumpfe Gleichgültigkeit.

So grandios ist diese durch sparsame Gesten, Repetitionen, Überlagerungen und Pausen rhythmisierte und musikalisierte Wortkunst, dass es Freude macht, sie im nächsten Ausstellungsraum noch nachklingen zu hören. In diesem bis zur hohen Decke popbunt mit Dokumentenationsmaterial austapezierten Saal liegt ein riesiges Archiv aus. l15.147 gescannte und nach Jahren geordnete Dokumente fächern John Giornos gesamtes künstlerisches Schaffen und privates Leben vom ersten Kinderfoto bis zu jüngsten Performancekritiken auf.

Alles möchte man sehen, alles lesen! Über seine Freundschaften und Liebesbeziehungen zu Andy Warhol (der ihn 1963 nackt und doch abstrakt für den legendären 5 1/2 stündigen Schwarzweiß-Antifilm Sleep filmte), Jasper Johns, Robert Rauschenberg, John Cage, Merce Cunningham, Trisha Brown, Carolee Schneeman, Patti Smith, Laurie Anderson, Keith Haring, Terry Riley, Philip Glass, Steve Reich, William S. Burroughs, Allan Ginsberg, Brion Gysin und all die anderen amerikanischen Stars, die damals noch keine Stars waren. Über die Anregungen durch die Väter und Protagonisten der Pop Art, die ihn zur Integration von Sprache und Klängen des amerikanischen Alltags in seine Lautcollagen inspirierten. Über seine Begegnungen mit William S. Burroughs und Brion Gysin, die in Paris die poésie sonore kennengelernt hatten und ihn zu seinen „electronic sensory poetry environments“ und einer Vielzahl technischer Experimente mit Loops und Cuts ermutigten. Über sein Anrufbeantworter-Projekt „Dial-A-Poem“, das jedem Anrufer erlaubte, radikal avantgardistische Poesie- und Soundaufnahmen seiner Künstlerkollegen und Freunde ganz einfach am Telefon anzuhören. Über sein unabhängiges, gemeinnütziges Plattenlabel „Giorno Poetry Systems“, das von 1965-1993 mehr als 50 Alben dieser neuen, visionären Kunstformen produzierte. Über „Radio Free Poetry“, das die Regierungsbehörden stoppten. Über seine eigene Rockband in den 1980ern und über seine Affinität zum tibetischen Buddhismus, seine Reisen nach Indien und Marokko, sein kompromissloses Eintreten für die Rechte Homosexueller und die Gründung eines AIDS-Therapie-Projekts.

Nicht zuletzt lassen sich hier alle Publikationen John Giornos nachlesen, die, mühelos zwischen Erzählung und Abstraktion, Introspektion und Observation, Trivialität und Außergewöhnlichkeit wechselnd, von fantastischem Gaysex und harter Pornographie ebenso erzählen wie von Alkohol, Marihuana, LSD, Konsumismus, Krieg, Zensur, Gehirnwäsche und Repressionen. Es ist eine Dichtung voller Scharfsinn, Auflehnung und Verschwendung, aber auch voller Zartheit, die permanent die engen Grenzen bürgerlicher Moral und des sogenannten guten Geschmacks überschreitet.

Hier wird nachvollziehbar, dass John Giornos künstlerischen Ansätze von ‚Slam Poetry‘ und ‚Spoken Word‘ bis hin zur Rock-, Hardcore- und Industrialszene aufgenommen wurden und Bands wie Suicide, Throbbing Gristle und Cabaret Voltaire mit ihm auftraten. Es erscheint auch keineswegs verwunderlich, dass sich in Zeiten des Mashups, Sampelns und Mixens auch Rap, Hip-Hop und House von dieser durch Tempo und Tonfall rhythmisierten Wortkunst inspirieren lassen.

Verwunderung dagegen rief, diese Nebenbemerkung sei hier erlaubt, eine Familienführungsszene in der Ausstellung hervor, die sich vor Versbildern in fetten Lettern auf regenbogenfarbigem Grund wie „HYACINTS ARE THE SONGS OF SUICIDE“, „CHRYSANTHEMUMS ARE A GARLAND OF SKULLS“ und „POPPIES HAVE POCKETS PACKED WITH NARCOTIC TREATS“ abspielte. Kaum der ersten Worte mächtig hatten sich die Kinder dem schulischen Frage-Antwort-Ritual nach jeder der im Saal auftauchenden Farben zu unterziehen. Diese frühe Einübung in die Dressur des Blicks gelang ohne Zweifel hervorragend, aber muss ausgerechnet diese Ausstellung dafür herhalten, deren Exponate nichts anderes als den subversiven Eigensinn gegenüber solch entindividualisierenden Diszipinierungen bezeugen? Ist sie das, die Rache an der Kraft der Kunst, von der Susan Sontag einmal sprach? Dabei braucht es in einer so profund und umfassend aufbereiteten Präsentation wie dieser nichts als offene Augen, Ohren und einen eigenen Kopf, um die intensiv vibrierenden Worte, Klänge und Bilder zu erleben.

Ein Raum ist allein den Performances John Giornos gewidmet, die parallel zum Text über Kopfhörer gehört werden können, ein anderer allen Aufnahmen der „Giorno Poetry Systems“. Wunderbar auch die Fotos Françoise Janicots von seinen Konzerten und Begegnungen in aller Welt. Sogar das Projekt „Dial-A-Poem“ kann in der Ausstellung – und von jedem Telefon in Frankreich aus kostenlos unter der Nummer 0800106106 – angewählt werden. Ein besonderes Highlight der Ausstellung ist Andy Warhols Film Sleep (1963), der hier neben einer Menge Footagematerial in Gänze zu Erik Saties Vexations gezeigt wird, wie es einmal vorgesehen war.

Überflüssig dagegen die Wiederholung des schlafenden John Giorno 35 Jahre später für Pierre Huyghes Film Sleeptalking (1998) – wären da nicht die dem Film unterlegten Kommentare John Giornos: „One of the reasons why the early 1960s was so great was that everyone of them, and I by chance happened to be one of them, did it for the first time.“ Ironischerweise spricht John Giorno genau darüber, warum all die vielen Kopien, Imitationen und Nachahmungen vergangener Ikonen heute oft so langweilen und warum seine Poesie und Performances so stark und eindringlich sind

 

I ♥ John Giorno, 21. Oktober 2015 bis 10. Januar 2016, Palais de Tokyo, Paris.

 

Maike Aden ist Musik- und Kunstwissenschaftlerin (Brüssel und Paris).