Körpertrends: die Vielfalt der weiblichen Schönheit?
Die Frage nach dem ästhetisch Gelungenen unterliegt sowohl in der Kunst als auch am menschlichen Körper einem steten kulturellen Wandel. War das Schöne bei Kant die Aussage eines subjektiven interessenlosen Geschmacksurteils, dass sich auf ›reizlose‹ Werke oder Gegenstände bezieht, können eigenständig integrale Erfahrungen, visuelle Reize der Körperformen oder eine intensive Veränderung des Weltbildes ebenfalls als ›schön‹ verstanden werden.
Ansichten über einen schönen Menschen verändern sich ebenfalls regelmäßig. Dabei nimmt der Körper eine besondere Rolle innerhalb der Schönheitskultur ein. Zeitlos erscheint demgegenüber die Präferenz bestimmter Gesichtsproportionen. Die berühmten Gesichter der Nofretete (1340 v. Chr.), der Venus von Botticelli (1485-86) oder Michelangelos David (1501-04) werden heute ebenso als schön empfunden wie die Gesichter zeitgenössischer Models.
Abseits von Bodymaßindex und Körperfettanteil ist zu beobachten, dass schön ist, was Individualität und Aufmerksamkeit schafft – sei es in TV-Shows, Werbung oder in denen mit Bildern durchsetzten sozialen Netzwerken. Es tritt dort oftmals ein »Schönheitseffekt der Abweichung« (Macho 2014, 49) hervor. Dieser wird dadurch begünstigt, dass »[j]eder Körperteil […] nun als Fragment so dominant werden [kann], wie es jahrhundertelang dem Gesicht vorbehalten war« (Posch 2010, 199). Ein besonders populäres Phänomen ist die Gesäß-Inszenierung von Kim Kardashian. Das zur Schau gestellte Extreme erinnert aber gleichzeitig an die groteske Darstellung des Weiblichen, die der Parodie zugeordnet wird. Jedoch steht bei Kim Kardashian nicht die alternde Weiblichkeit oder das exzessive Andere im Vordergrund, das auf körperlichen Verfall verweist.
Die Prominenz des Fragments besteht auch bei der lettischen Sängerin Viktoria Modesta: extravagante Prothesen ersetzen ihren fehlenden linken Unterschenkel. Was jahrhundertelang als Krankengeschichte verfasst worden wäre, erhält bei ihr eine besondere Beachtung als ›Schönheitsfleck‹. Die Amputation wird nicht verschleiert, sondern zur Schau gestellt. Zwar wird dadurch die Künstlichkeit betont, jedoch verschmilzt die Prothese mit ihrer Trägerin zugleich. Der vermeintliche Makel wird zum unverwechselbaren Markenzeichen stilisiert. Das kanadische Model Winnie Harlow alias Chantelle Brown-Young würde sich unbemerkt in die Reihe unzähliger Kandidatinnen der Show America’s Next Topmodel einreihen. Jedoch hebt sie sich durch ihre Pigmentstörung Vitiligo von der Masse ab. Anstatt Camouflage-Make-up zu benutzen, betont sie vielmehr ihre Andersartigkeit. Das Fehlen einer gleichmäßigen Pigmentierung wird hier nicht zum Hindernis für eine Modellkarriere, sondern als Chance für ebendiese genutzt, begünstigt dadurch, dass sich bei ihr die Pigmentstörung gleichmäßig ausgeprägt hat.
Ein von ♔Winnie♔ (@winnieharlow) gepostetes Foto am 20. Dez 2015 um 12:21 Uhr
Das Schöne als Form der Abweichung wird auch bei moderaten bis hin zu extremen Piercings, Schmucknarben, Implantaten oder Tattoos angestrebt, die lange Zeit als soziales Stigma gewertet wurden. Hinzu kommt, dass »die Darstellung der Schmerzen tatsächlich oft der Hervorbringung einer besonderen, unverwechselbaren Schönheit« (Macho 2014, 49) dient. Gotthold Ephraim Lessing hat am Beispiel der Laokoon-Gruppe ausgeführt, dass er im dargestellten Todeskampf Laokoons und seiner Söhne eine »Seelenschönheit« wahrgenommen hat. Da aber der Glaube an den Dualismus von Körper und Seele hinfällig ist, bleibt dann nur die reale Schmerzerfahrung als Distinktionsmoment.
Neben der Abweichung durch das Körperfragment und den Schmerz wird das Schöne zudem mit dem Ursprünglichen, Vergänglichem oder Erlebten in Relation gesetzt. In diesem Fall ist es eine Rückkehr des Kreatürlichen (im besten Sinne) in die Kultur, indem die Natur in der Gesellschaft betont wird. Seit 2004 rückt Dove mit den »Real Beauty«-Kampagnen ›natürliche‹ weibliche Körper in den Fokus. Sogar RTL war Anfang 2015 zusammen mit Guido Maria Kretschmer auf der Suche nach Deutschlands schönster Frau. Schönheit wurde zwar mit Begriffen wie Aussehen, Style, Ausstrahlung und Sex-Appeal besetzt, jedoch sollten Herz, Verstand und Persönlichkeit eine ebenso große Rolle spielen. Entgegen des immer noch anhaltenden Anti-Aging-Hypes zierte eine Werbekampagne von Céline die 80 Jahre alte Autorin Joan Didion, und für den Pirelli-Kalender 2016 setzte Annie Leibovitz unter anderem die Künsterlin Yoko Ono, die Musikerin Patti Smith und die Sportlerin Serena Williams in Szene. Der Teaser auf Spiegel Online lautete: »Sie zeigt mollige Frauen, alte Frauen und angezogene Frauen. Wie schön!«.
Doch das andere Schöne bleibt die kurzweilige Abweichung von der Norm: dünn, jung, nackt, makellos – wie schön. Zudem scheint die Betonung der Wiederherstellung der ›Norm‹ bei einer natürlichen körperlichen ›Abweichung‹ ein wichtiges Ritual: regelmäßig präsentiert am Beispiel flacher Bäuche, die kurz nach der Geburt eines Kindes in die Kamera gehalten werden: Die kontinuierliche Körperarbeit durch Sport und Vermeidung eines Exzesses bei der Nahrungsaufnahme überhöht inszeniert durch das Verschwundene.
Literaturnachweise
Thomas Macho, »Was passiert, wenn wir uns in ein Bild verwandeln«, in: Philosophie Magazin Nr. 3 April/Mai 2014, S. 48-49.
Waltraud Posch, Gesellschaft auf dem Laufsteg. Neun Thesen zur Körperarbeit und Schönheitshandeln aus soziologischer Sicht, in: Was ist schön?, Wallstein Verlag 2010, S 198-205.