Gegen die Reizunterflutung
In Tsim Sha Tsui vor dem Museum of Art findet sich folgender Satz eines Künstlers in den Boden eingraviert: „Art is not art if it cannot be understood as a world language.“ Naiver Hippie-Scheiß oder reflektierte Pop-Moderne?
Hongkong ist natürlich viel zu aufregend, um seine Zeit auf den Besuch eines Museums zu verwenden. An dem Museum kommt man zufällig vorbei, wenn man vom Victoria Harbour nach Nord-Osten läuft, um eben nicht in das Museum, sondern eine Mall zu gehen und anschließend den Blick auf die Skyline von Hongkong Island zu werfen, wo man auf die Aussicht auf Fun stößt.
Die Stadt schreit es selbst an jeder Ecke heraus: Hongkong poppt! Was Augen sehen und Menschen wahrnehmen können, liegt jenseits der (meiner) fototechnischen Möglichkeiten. Dass Primärerfahrung alles übersteigt, was man medientechnisch und sprachlich vermitteln kann, ist für mich jedenfalls eine (fast) ganz neue Erkenntnis.
Alles in Hongkong ist bunter, größer, schneller. Von allem gibt es einfach mehr als in Europa in einem solchen Ausmaß, dass man fürchten muss, die europäische Reizunterflutung noch schlechter ertragen zu können als vor Hongkong; einer Stadt, die, um nur einen von vielen Superlativen mit Zahlen zu untermauern, mit ca. 1.300 Hochhäusern – und das sind dann auch wirklich Wolkenkratzer, nicht so wie in London oder Frankfurt – die meisten Hochhäuser dieser Welt hat, nicht gerade dicht gefolgt von New York mit ca. 600. Mein neuer Lieblingskünstler, für den man nicht ins Museum muss: Dennis Lau.
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Fährt man vom Hongkonger Flughafen auf Chek Lap Kok in die Innenstadt, erhält man einen Eindruck davon, warum die Rede davon sein kann, dass Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden schießen.
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Natürlich sieht man die Hongkonger Skyline sehr gut vom Victoria Peak,
aber diese Bilder dürfte man kennen, und sie werden übertroffen von einem anderen Ort, an den man dann auch zum Glück mit dem Aufzug gelangt. Besser gesagt, mit zwei Aufzügen, weil man unterwegs einmal umsteigen muss.
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Hongkong hat – man kann es gar nicht vermeiden, bei den Superlativen zu bleiben – mit dem Ozone Club des Ritz Carlton die höchste Bar der Welt, und zwar im 118. Stock, wo man im windgeschützten Außenbereich (!) die Aussicht genießen und auf die vielen winzigen 60 bis 80 Stockwerke hohen Häuschen herabblicken kann.
Nun lernt man in Hongkong, dass vor allem Augen konsumieren können, aber dennoch sei der Vanilla Sky in dieser Bar – Achtung: völlig anderes Rezept als üblich – sehr empfohlen.
Als zweiten Drink sollte es dann ein Original Cosmopolitan sein, den ich außer in Hongkong übrigens nur im Frankfurter 22nd je auf einer Karte gesehen habe (und wunderbar von Fabio gemixt bekomme). Passt irgendwie, und irgendwie doch nicht, denn nichts, was ich je gesehen habe, ist spektakulärer als jede noch so abgelegene Straßenecke in Hongkong.
Das Tempo der Stadt ist großartig. Alles ist unglaublich schnell ohne jede Hektik. Die Versuchung ist groß, ein Musil-Zitat zu bemühen, aber das wird an anderer Stelle noch nötig sein. Die Menschenmassen auf dem Ladies’ Market in Mong Kok, einem riesigen Einkaufsgebiet nicht nur von und für Frauen, an einem normalen Mittag gleicht dem Samstag vor Weihnachten auf der Frankfurter Zeil. Was in Frankfurt dann die Goethestraße ist, lässt sich in Hongkong nicht auf eine Straße oder ein einziges Gebiet reduzieren. In Kowloon gibt es einige Cluster, an denen man größere und stärker frequentierte Gucci-Läden sehen kann, als man es aus Europa gewohnt ist. Es herrscht in Hongkong übrigens keine Label-Zurückhaltung, was insbesondere dann, wenn Moschino getragen wird, dann doch zu einigen Geschmacksverirrungen führt. Die Stadt ist eben in jeder Hinsicht eye-catching. Plakativ und poppig ist man sogar auch auf dem Sektor der öffentlichen Seuchenpräventionsmaßnahmen.
Und man muss erwähnen, dass die Leute in Hongkong diese Masken keineswegs aus Angst vor ansteckenden Krankheiten tragen – das hatte ich bei entsprechenden Fernsehbildern aus Asien immer vermutet –, sondern dass die Erkälteten das zum Schutz ihrer Mitmenschen tun. Nun ist alles im Innenstadtbereich von Hongkong auf gewisse Weise Pop in einer Dimension, die in Europa unvorstellbar ist, aber auch die Randbereiche kommen auffälliger und farbenfroher daher, als man vielleicht vermuten würde. Wenn ich in Deutschland ein China-Restaurant betrete, dass in den 70er oder 80er Jahren eingerichtet wurde, denke ich regelmäßig: „Neee, also jetzt übertreibt Ihr den Ethno-Kitsch aber wirklich.“ Aber in einem namenlosen Dim Sum-Laden in San Tin, einem Stadtrandteil – zumindest gefühlt – für den durchschnittlichen chinesischen Rentner, sah ich dann auch nichts Anderes als übertrieeeeeeebenes Rot und Gold. Wie immer kann das Foto den Eindruck nur ganz vage andeuten oder vielleicht sogar vernichten.
Zum besagten Kitsch: Sehr zur Irritation und zum Amüsement meiner Hongkonger Bekannten wollte ich es nicht auslassen, anlässlich des chinesischen Neujahrsfest einen Lion Dance zu sehen.
Honkees sind größtenteils wirklich überaus freundliche, aufgeschlossene und geduldige Menschen. Ich würde jedenfalls niemals aus Höflichkeit mit chinesischen Gästen einen deutschen Weihnachtsmarkt oder einen Fastnachtsumzug besuchen, aber 9.150 Kilometer Luftlinie oder 11 Flugstunden von der Heimat entfernt, entwickeln ähnliche folkloristische Rituale eine gewisse Faszinationskraft. Man hat aber als Besucher nicht das Gefühl, dass dieses Fest für ausländische Gäste inszeniert wird, sondern die Inszenierung läuft ziemlich selbstgenügsam ab. Hongkong wirkt insgesamt nicht sehr touristisch, und tatsächlich sind es eigentlich die Einwohner, die sich zum Neujahrsfest am noch mehr noch Bunteren ihrer Stadt erfreuen. Manche mögen bei uns ja auch Weihnachtsmänner in Einkaufszentren und Weihnachtsbeleuchtung. Imposanter sind die roten Lampions, und da Rot ja zu Weihnachten passt, wäre das eigentlich eine wunderbare Import-Idee.
Wenn man dann noch das Ritual einführen könnte, dass unverheirateten Frauen rote Umschläge mit Geld geschenkt wird…
Zum Neujahrs-Feuerwerk am Victoria Harbour muss einfach noch einmal auf den Topos zurück gegriffen werden, dass es manchmal nicht möglich ist, bildlich, akustisch oder sprachlich wiederzugeben, was man da sieht und hört.
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England ist natürlich irgendwie präsent. Den Engländern sei Dank, dass es für Fast Food-Gelüste einen der wenigen Pret à manger-Läden außerhalb Londons auf Hongkong Island gibt, dass es eine so wundervolle Stadt überhaupt gibt und dass es einem sehr selbstverständlich vorkommt, dass man mit fast jedem englisch sprechen kann. Aber das ist es ja vielleicht auf der ganzen Welt. In der Eyebar wurde ausgerechnet ich von einem Honkee angesprochen, der, noch bevor er mich als Deutsche verorten konnte, erzählte, dass er Film studiert habe und eine besondere Faszination für das Kino der Weimarer Republik hege. An dieser Stelle muss es einfach gesagt werden: Die Welt ist klein. Auf die Frage, ob ich die Stadt eher asiatisch oder europäisch fand, habe ich keine Antwort gefunden. Wenn Musil heute noch leben würde, würde er wohl Hongkong und nicht Wien als „überamerikanische Stadt“ beschreiben. Aber eigentlich entzieht sich Hongkong einer Beschreibung in kultureller oder geographischer Opposition von Ost und West. Und wieder ist es abgegriffen, aber ich muss sagen, dass die Stadt eher wie die Zukunft aussieht oder wie die richtige, die konsequente Postmoderne. Nichts an Hongkong, außer diesen ‚antiken‘ Säulen,
der Hongkong Jockey Club
und das berühmte Peninsula
wirkte auf mich europäisch, und dennoch wundert es einen kein bisschen – man bemerkt es minutenlang noch nicht einmal –, wenn man sich plötzlich mit dem Kellner im Cuisine, Cuisine auf Deutsch unterhält, weil er, wie man nach Bewusstwerden des Sprachwechsels erfährt, in Bamberg auf einer Hotelfachschule war, und es kommt einem wirklich rein gar nichts an dieser Stadt auch nur annähernd fremd oder befremdlich vor, was vielleicht daran liegt, dass wir alle pop sind und Pop eine world language ist.
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P.S.: Vom Chek Lap Kok aus, wo man sich ein klein wenig fühlen darf wie auf Deep Space 9 – Hongkong ist nämlich eigentlich gar nicht von dieser Welt –, zurück in Deutschland meinte ein Bekannter zu mir: „Was war diese Woche los in Deutschland. Hm, Außenpolitik, Innenpolitik, Kultur etc…. Naja, ich glaube Du hast nichts verpasst.“ Meine spontane und in dem Moment ehrlich gefühlte Antwort: „Ich bin sicher, dass ich in einer Woche, in der ich nicht in Deutschland, sondern in Hongkong war, nichts verpasst habe. Aber ich glaube, dass ich 37 Jahre, in denen ich nicht in Hongkong, sondern in Deutschland war, ALLES verpasst habe.“ Ich hatte kaum Hongkonger Boden betreten, als sich mein übliches kulturelles Empfinden für Zentrum und Peripherie vollständig umgekehrt hatte. Aber natürlich ist der Satz völliger Blödsinn und dem Urlaubsenthusiasmus geschuldet. Nur einen Tag lang kam mir Frankfurt wie eine Miniaturstadt in Zeitlupe vor. Danach stellt sich das europäische Empfinden für Geschwindigkeit und Größe wieder ein, und man kann froh sein, dass man in der schönsten Stadt der Welt, nämlich Frankfurt am Main, leben darf. Und: Nein, ich habe nicht vergessen, auf wessen Kosten diese gigantische Sonderverwaltungszone mit eigenen Rechten und Pässen geht.
P.P.S.: Von einem Urlaubsandenken lebe ich heute noch: Der weltbeste Milk Tea ist auf keinen Fall ein aus losen Blättern selbst aufgegossener schwarzer Tee (TGFOP1, SFTGFOP1 usw. usf.) mit oder aus Milch, Sirup oder Honig, sondern eine Instantmischung von Lipton. Leider hinkt die Warenwelt der Weltsprache hinterher. Man kann ihn in Europa nicht kaufen.