Pop-Archiv Aprilvon Detlef Siegfried17.4.2016

Männer & Märkte. Konsumforschung als popkulturelle Quelle

Die empirische Sozialforschung hat eine Vielzahl von Quellen zur Sozial- und Kulturgeschichte hervorgebracht, die noch weitgehend der Auswertung harren – auch unter popgeschichtlichen Fragestellungen. Die Studien des Instituts für Demoskopie Allensbach sowie die regelmäßigen Berichte von Allensbach, Divo, Emnid und anderen Einrichtungen der empirischen Sozialforschung beinhalten ein für die Popgeschichte gigantisches Material, gerade weil sie nicht selten Aspekte der Konsumkultur behandeln. Sie finden sich gehäuft, ebenso wie z.T. unveröffentlichte Forschungsberichte und „graue Literatur“, etwa im Deutschen Jugend-Institut, München, im Zentralarchiv für empirische Sozialforschung, Köln, sowie im Deutschen Zentralarchiv für Soziale Fragen, Berlin.

Oftmals wurden derartige Studien im Auftrag von Zeitschriften erstellt, die aus Gründen der Aquise von Werbekunden an möglichst genauem Wissen über die Präferenzen ihrer Leserschaft interessiert waren. Um das jeweilige Profil im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung herauszuarbeiten, wurden dabei häufig repräsentative Stichproben beider Gruppen befragt. Für die Geschichte der Popkultur sind diese Quellen hochrelevant, weil sie die quantitative Gewichtung von Erscheinungen ermöglichen, von denen man sonst oft nur weiß, dass es sie gab, ohne jedoch über ihren Verbreitungsgrad und dessen Wandel informiert zu sein.

Das aber ist wichtig, z.B. um beurteilen zu können, wie verbreitet eine popkulturelle Praxis war, wann Einzel- in Massenpräferenzen umschlagen oder – mit anderen Worten –, wann subkulturelle Stile zur Massenkultur werden und wer die jeweiligen Trägergruppen waren – differenziert nach Alter, Geschlecht und sozialem Hintergrund.[1]

Im Folgenden soll an einem Beispiel illustriert werden, welches Material derartige Studien enthalten und wie man sie nach einer bestimmten Fragestellung – hier geht es um das Verhältnis der Geschlechter – in Kombination mit anderen Quellen auswerten kann.

Bei dem hier vorgestellten Beispiel handelt es sich um die Untersuchung „Männer & Märkte. Besitz, Konsum- und Informationsverhalten der männlichen Bundesbevölkerung“, die im Auftrag des Spiegel im April und Mai 1969 von den Instituten Ifak, Wiesbaden, und Infratest, München, erhoben wurden.[2] Es war die dritte Untersuchung zum Konsumverhalten von Männern, die von dieser Zeitschrift in Auftrag gegeben worden war.[3] Eine Replikationsstudie von 1971 gibt Aufschluss über weitergehende Wandlungsprozesse.[4] Nachfolgende Studien konzentrierten sich nicht mehr auf nur ein Geschlecht, was ihren Informationsgehalt natürlich noch erheblich  steigert und Aussagen über das Geschlechterverhältnis ermöglicht.[5]

Die fünf Bände von „Männer & Märkte“ behandeln folgende Themen: Bd. 1 Urlaubsreisen, Flugreisen, Pkw, Spar- und Anlageformen; Bd. 2 Möbel, Teppichböden, Elektrische Haushaltsgeräte; Bd. 3 Phono-/Fernsehgeräte, Film, Photo, Uhren, Freizeit, Hobby, Hobby-Ausrüstung; Bd. 4 Bekleidung, Kosmetika, Körperpflegemittel, Geschenke; Bd. 5 Getränke.

Während die in Band 3 und 4 behandelten Felder schon auf den ersten Blick popkulturelle Bedeutung aufweisen, trifft das vielleicht weniger unvermittelt, aber unter gesellschaftsgeschichtlichem Blickwinkel durchaus sichtbar, auch auf Band 1 zu. Der Wandel im Sparverhalten, ein in der Jugendforschung ausführlich behandeltes Thema, kann Auskunft geben über die Erosion des traditionalistischen Konzepts des „Aufsparens“ im umfassenderen Sinne und die wachsende Bedeutung hedonistischer Lebensstile.

Im Einzelnen evaluiert werden Besitz und Verbrauch, Wert des Besitzes, Verbrauchsintensität, Menge der angeschafften Produkte bzw. Dienstleistungen, Einstellungen der Befragten zum Produkt und dessen Wertigkeit, Einflussnahmen auf Kaufentscheidungen, verwendete Marken. All dies differenziert nach Bildung, Alter und Familienstand sowie nach den Leserschaften von Zeitschriften, darunter, popkulturell besonders interessant, Konkret, Twen und Pardon.

So erlaubt „Männer & Märkte“ unter anderem einen Blick auf die Konsumgewohnheiten der männlichen Leserschaften der linken Publikumszeitschriften für junge Intellektuelle, Konkret und Pardon im Frühjahr 1969. Hier zeigt sich, dass sie sich keineswegs so durchgehend konsumkritisch verhielten, wie es angesichts der in diesem Publikumssegment gängigen Theoreme erwartet werden könnte.

Besonders aufschlussreich ist, dass die Unterschiede im Verhältnis zu den Lesern des zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich konsumorientierten Magazins Twen marginal waren. Pardon-Leser besaßen in exakt demselben Ausmaß Plattenspieler (61 Prozent) und Stereoanlagen (17 Prozent) wie die Leser von Twen; die noch in etwas stärkerem Maße in Ausbildung befindlichen Leser von Konkret lagen nur unwesentlich zurück (56 und 16 Prozent) – alle drei Gruppen befanden sich damit weit über den Werten, die der Durchschnitt der 20- bis 29jährigen Bundesbürger aufwies (34 Prozent und 11 Prozent).[6]

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Auf welchem Mann ruht dieser Blick? Gender-Konstruktion in der Dual-Werbung

 

Nicht nur von der Ausstattung her, sondern auch im Hinblick auf den diesen Gegenständen zugemessenen Bedeutungswert, gehörten Leser von Konkret und Pardon auf dem Gebiet der Unterhaltungselektronik, ebenso wie die Leser von Twen, zu den avanciertesten Gruppen der Gesellschaft. Auf die Frage, wie wichtig es ihnen sei, über einen Plattenspieler zu verfügen, kreuzten die Werte 8 bis 10 auf der zehnteiligen Skala an: Konkret– und Pardon-Leser jeweils 38 Prozent, Twen-Leser 40 Prozent, während es im Durchschnitt der männlichen Bevölkerung nur 16 Prozent waren.[7] Bei der Wertschätzung von Stereoanlagen lagen diese Werte noch darüber, bei 40, 50, 60 und 22 Prozent.

Dass sie beträchtliche Teile ihrer noch nicht allzu üppigen materiellen Ressourcen in Unterhaltungselektronik investierten und ihnen eine enorme immaterielle Bedeutung zumaßen, zeigt, wie stark sich die Leser der am weitesten linksstehenden Publikumszeitschriften der Bundesrepublik nicht nur über Politik, sondern auch über Musik definierten.[8] Das elektronische Ensemble, das Zeitgenossen schon als Merkmal einer besonderen medialen Kompetenz der Kommune 1 aufgefallen war, schloss auch die große Masse junger Intellektueller an die Weltläufte an, nicht zuletzt an den Sound ihrer Zeit.

Die von „Männer & Märkte“ eruierten Informationen erstrecken sich auch auf andere Produkte, auf die gekauften Marken, den Preis und das Anschaffungsjahr, was weitere Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Bestandsaufnahmen der empirischen Sozialforschung vermitteln also Anhaltspunkte für den Wandel von Präferenzen und Praktiken, vermittelt auch über Denkweisen junger Leute, erhalten aber ihren historiographischen Wert erst in der Kombination mit einem möglichst vielfältigen Spektrum anderer quantitativer sowie insbesondere qualitativer Quellen.[9]

Natürlich müssen quantitative Quellen im Hinblick auf ihre handwerliche Validität hin beurteilt werden, selbstverständlich spielt die Art der Fragestellung eine Rolle – insofern gelten also auch hier die Grundsätze der Quellenkritik. Nicht immer lassen sich aus diesen Quellen Auskünfte in aller wünschenswerten Differenzierung gewinnen, aber es treten doch aus dem Vorhandenen immerhin zumindest mehr oder weniger grobe Konturen hervor.

Bleiben wir beim Beispiel der Unterhaltungselektronik, so ergibt eine Kombination verschiedener Quellen foldendes Bild für die Besitzstände unter jungen Männern und Frauen. Im Jahre 1972 waren ledige Bundesbürger in den zwanziger Lebensjahren am besten ausgestattet mit einem Schwarzweiß-Fernsehgerät (73 Prozent), es folgten Kofferradio (63 Prozent), Plattenspieler (39 Prozent) und Tonbandgerät (29 Prozent). Eine Stereoanlage besaßen 22 Prozent, einen Kassettenrekorder 19 Prozent.[10]

Nimmt man Plattenspieler und Stereoanlage zusammen, so verfügten gut 60 Prozent über die Möglichkeit, Schallplatten abzuspielen. In dieser Reihe von Gerätschaften war das klanglich avancierteste, die Stereoanlage, die neueste Errungenschaft. Junge Männer, die an Popkultur besonders interessiert waren und daraus auch einen Teil ihres kulturellen Kapitals schöpften, waren, wie eben gezeigt, zu besonders hohen Anteilen mit Plattenspieler oder Stereoanlage versorgt und maßen ihnen außergewöhnlich hohe Bedeutung zu.

Ein Befund von 1974 macht deutlich, wie stark die Vorlieben der Geschlechter hier auseinander gingen, insbesondere die Bedeutung, die diesen Gerätschaften zugemessen wurde. Während Phonogeräte im Interessenspektrum der 14- bis 22jährigen jungen Männer ganz oben angesiedelt waren, bewegten sie sich bei den gleichaltrigen Frauen im letzten Drittel der 12-teiligen Skala der Möglichkeiten.[11] Diese Diskrepanz entsprach in etwa dem Verhältnis bei den Ausgaben für Schallplatten, die bei jungen Männern ungefähr doppelt so hoch waren wie bei jungen Frauen.[12]

Noch größer waren die Unterschiede beim Besitz der avanciertesten Gerätschaften des materiellen Pop-Ensembles. Anfang 1975 besaßen 16,9 Prozent der 15- bis 23jährigen Frauen eine Stereoanlage, aber 42,9 Prozent der gleichaltrigen Männer – und hier war überdies der Anteil der Geräte in HiFi-Qualität höher.[13] In diesen kargen Zahlen wird eine massive Akkumulation kulturellen Kapitals auf der maskulinen Seite sichtbar, die erst im Prozess der Ausbreitung und Ausdifferenzierung der Popmusik und des ihr zugrundliegenden materiellen Ensembles entstanden war. Denn ein Vergleich mit den Besitzständen am Anfang der 60er Jahre zeigt, dass hier noch beide Geschlechter im Besitz von Plattenspielern fast gleichauf lagen – bei einem leichten Vorteil für die jungen Frauen.[14]

Frauen hörten Popmusik, und sie tanzten nach ihr begeisterter als Männer, aber als Gegenstände von  Fachdiskursen waren Schallplatten und Phonogeräte, auch Popkonzerte, ja Popmusik überhaupt, zu einem bevorzugten Terrain vor allem für junge Männer geworden. Auf der Basis des hier dargelegten Zahlenmaterials kann diese Verschiebung im Geschlechterverhältnis genauer zu beschrieben werden. Welche Motive und Kontexte ihr zugrunde liegen, ist hingegen vor allem eine Frage der Interpretation, die nicht auf Zahlen allein beruhen kann.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. auch meinen Aufsatz Rote Lippen soll man küssen. Deutungen europäischer Schönheitspraktiken um 1960. In: Themenportal Europäische Geschichte (2013), URL: <http://www.europa.clio-online.de/2013/Article=659>

[2] Spiegel-Verlag (Hrsg.), Männer und Märkte. Besitz, Konsum und Informationsverhalten der männlichen Bundesbevölkerung, Bd. 1-5, Hamburg o.J. [1969].

[3] Spiegel-Verlag (Hrsg.), Die Rolle des Mannes beim Kaufentscheid. Eine Untersuchung über Funktion und Einflußnahme des verheirateten Mannes bei Einkauf und Auswahl von Konsumgütern, Hamburg 1964; Spiegel-Verlag (Hrsg.), Kaufen und verbrauchen. Der persönliche Bedarf des männlichen Spiegel-Lesers. Ergebnisse einer Repräsentativ-Befragung, Bd. 1-6, Hamburg o.J. [1965].

[4] Spiegel-Verlag (Hrsg.), Männer und Märkte II. Besitz, Konsum- und Informationsverhalten der männlichen Bundesbevölkerung, Bd.1-3, Hamburg o.J. [1971].

[5] Spiegel-Verlag (Hrsg.), KKK. Kauf-, Konsum- und Kommunikationsverhalten der Bundesbevölkerung, Bd. 1-4, Hamburg o.J. [1973].

[6] Spiegel-Verlag (Hrsg.), Männer & Märkte, Bd. 3.

[7] Ebd., Tabelle 33.

[8] Ebd., Tabelle 39. Vgl. auch die Befunde der Allensbach-Werbeträger-Analyse von 1973, nach der Konkret und Pardon in der Spitzengruppe jener Werbeträger rangierten, die besonders hohe Anteile „markenbewusster Kaufentscheider“ oder „Marktpioniere“ bei größeren Stereoanlagen, großen Tonbandgeräten oder Fotoapparaten aufwiesen (nicht zu vergessen andere Annehmlichkeiten wie Urlaub am Meer oder Auslandsreisen). Allensbacher Berichte, Nr. 31/1973.

[9] Zur Geschichte der empirischen Sozialforschung in der Bundesrepublik: Christoph Weischer, Das Unternehmen „Empirische Sozialforschung“. Strukturen, Praktiken und Leitbilder des Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München 2004. Als historiographische Reflexion und Rekonstruktion: Anja Kruke, Der Kampf um die Deutungshoheit. Meinungsforschung als Instrument von Parteien und Medien in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 44, 2004, S. 293-326; Jenny Pleinen/Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften, in: Vieteljahrshefte für Zeitgeschichte 62, 2014, S. 173-195.

[10] Spiegel-Verlag (Hrsg.), KKK, Bd. 4. Dabei ist zu bedenken, dass eine hier nicht eigens erhobene Kombination von Kofferradio und Kassettenrekorder weit verbreitet war.

[11] Bravo-Jugend-Panel, Ergebnisse einer Marktuntersuchung durchgeführt vom Institut für Jugendforschung München, im Auftrag der BRAVO-Anzeigenleitung, Bd. 2, München 1974, S. 17. In der Folgezeit nahm die Bedeutung von Phonogeräten zu, bei Frauen ebenso wie bei Männern, aber doch in nach wie vor erheblichem Abstand. Vgl. die Folgeerhebungen für das zweite Halbjahr 1975.

12] Dies zeigen sowohl die absoluten Zahlen für 1974, aber auch schon frühere Untersuchungen, die prozentuale Gewichtungen zulassen. 1968/69 gaben die 14- bis 24jährigen Frauen 6,7 Prozent ihres Budgets für Schallplatten aus, während es bei den gleichaltrigen Männern 12,3 Prozent waren (eigene Berechnungen nach BRAVO-Einkaufs-Panel. Jahresband 1968/69, [München 1969], S. 11 u. 32). Zur geschlechtsspezifischen Signifikanz von Plattensammlungen vgl. Will Straw, Sizing up Record Collections. Gender and connoisseurship in rock music culture, in: Sheila Whiteley (Hrsg.), Sexing the Groove. Popular Music and Gender, London/New York 1997, S. 3-16.

[13] Bravo-Jugend-Panel, Bd. 3, S. 20f.

[14] 1961 besaßen jeweils 19 Prozent der 14- bis 19jährigen Mädchen und Jungen einen Plattenspieler, aber 25 Prozent der 20- bis 25jährigen jungen Männer und 29 Prozent der gleichaltrigen jungen Frauen. Diese Zahlen in GFM, Die Teenager 1961, Hamburg 1961; GFM, Die Twens 1961, Hamburg 1961. Vgl. dazu ausführlich: Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 22008, S. 97ff.

 

Detlef Siegfried ist Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen.