Gesamtkunstwerk und Gesamtkonsum von Jörg Scheller4.6.2016

Zur materialistisch-ästhetischen Kultur

 [zuerst veröffentlicht in: Joseph Imorde/Andreas Zeising (Hgg.), Wahn und Wirkung. Perspektiven auf Richard Wagner, Siegen: Universi Verlag, 2014]

Warum Richard Wagners antikapitalistische und antikonsumistische Anliegen in Kapitalismus und Konsumismus bestens „aufgehoben“ sind – im doppelten Wortsinn

Vorbemerkung

In diesem Essay möchte ich Richard Wagner zur Stichhaltigkeit seiner Konsum-, Kommerz- und Kapitalismuskritik befragen, auch wenn er mir nicht mehr antworten kann. Offen gestanden, bin ich darüber nicht traurig, wäre die Diskussion doch sicherlich hitzig und letztlich ergebnislos verlaufen. Schließlich wird es mir im Folgenden darum gehen, Wagner eine Komplizenschaft mit ebenjenen Phänomenen nachzuweisen, die er aus tiefster deutscher Seele verachtete oder zu verachten vorgab – Konsum, Kommerz, Betrieb, Oberfläche.

Anstatt Wagners Weltanschauung als gleichsam natürliches Äquivalent seines künstlerischen Werks zu akzeptieren und ein prästabiliertes Verhältnis zwischen diesen zu unterstellen, gilt es, die Kluft zwischen Anspruch und Wirkung respektive Wirklichkeit zu vermessen.

Wagners Gesamtkunstwerk, so die These, ist ein nie versiegender Quell für die Ästhetik der Existenz in avancierten Konsumkulturen, die im Folgenden mit dem Neologismus „Gesamtkonsum“ umrissen wird. An diesem Quell laben sich selbst diejenigen Verfertiger kulturindustrieller Artefakte und Architekten konsumistischer Erlebniswelten, welche von seiner Existenz nichts wissen.

„Traulich und treu ist’s nur in der Tiefe.“ Wagners Kommerzkritik

Da sich Wagner wortgewandt als Zeitkritiker gerierte und sein Werk als Alternative zum prosaisch-kapitalistischen Kulturbetrieb insbesondere französischer Prägung inszenierte, mochte es manchen Zeitgenossen und späteren Rezipienten scheinen, als umschiffe er tatsächlich die flachen Untiefen der Konsumkultur. Immer wieder geißelte Wagner den Kommerz und die – seiner Ansicht nach – Selbstläufigkeit und Käuflichkeit des Kulturbetriebs.

So blickte er in einer autobiographischen Skizze auf seine Zeit in Paris 1840-41 mit Abscheu zurück: „In Paris hat kein Künstler Zeit, sich mit einem andern zu befreunden, jeder ist in Hatz und Eile um seiner selbst willen.“ Halévy etwa sei „nur so lange von Enthusiasmus für seine Kunst entflammt gewesen, als es galt, einen großen Succeß zu gewinnen: sobald dieser davongetragen und er in die Reihe der privilegirten Komponisten-Lions eingetreten war, hatte er nichts weiter im Sinne, als Opern zu machen und Geld dafür einzunehmen.“[1]

Von hier bis zum Antisemitismus als notorischem sidekick der Kapitalismus-, Kommerz- und Konsumkritik ist es nicht weit. In der zweiten, erweiterten Fassung von Wagners Aufsatz „Das Judenthum in der Musik von 1869 heisst es: „Der Jude ist nach dem gegenwärtigen Stande der Dinge dieser Welt wirklich bereits mehr als emancipirt: er herrscht, und wird so lange herrschen, als das Geld die Macht bleibt, vor welcher all unser Thun und Treiben seine Kraft verliert.“[2]

Geld verwandelte für Wagner alles in Oberfläche – und Oberfläche war für ihn der Gegensatz zur tiefsinnigen, innerlichen deutschen Kultur, die im Rheingold, im Gesang der Rheintöchter, evoziert wird: „Traulich und treu ist’s nur in der Tiefe: / falsch und feig / ist was dort oben sich freut!“ Dort oben, da leben Menschen, die allen Ernstes glauben, dass Dinge nützlich sein dürften. Diese Menschen waren für Wagner undeutsch, bedeutete Deutschsein für ihn doch, „die Sache, die man treibt, um ihrer selbst willen und der Freude an ihr willen treiben; wogegen das Nützlichkeitswesen, d.h. das Princip, nach welchem eine Sache des außerhalb liegenden persönlichen Zwecks betrieben wird, sich als undeutsch herausstellt.“[3]

Wagners Gleichsetzung des Judentums mit dem Kapitalismus und seine Gleichsetzung des Kapitalismus mit dem Untergang der authentischen deutschen „Kultur“ als Gegenpol zur inhumanen „Zivilisation“, steht im unheilvollen Lichte dessen, was Bazon Brock wie folgt auf den Punkt brachte: „[mit seinem Antisemitismus] hat Wagner das Programm Todespolitik als Welterlösungsstrategie der Deutschen ein für alle Mal verbindlich festgehalten.“[4]

Wagners Kulturkritik, die trotz seiner unbestrittenen Modernität als Komponist und Regisseur im Kern naiv-nostalgisch blieb, war ein ‚rectified readymade‘ aus der Frühromantik. In Wackenroders und Tiecks „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders aus dem Jahr 1796 begegnet man zahlreichen protowagnerianischen Postulaten wie: „Vergebens sucht man ihn [den edlen Künstler] unter den Künstlern unsrer Zeiten, welche wohl auf sich eitel, aber nicht stolz auf ihre Kunst sind“ oder: „Bildersäle werden betrachtet als Jahrmärkte, wo man neue Waren im Vorübergehen beurteilt, lobt und verachtet.“[5] Schon Goethe mokierte sich über die Weltfremdheit und Pfaffenhaftigkeit dieser Auslassungen. Vor diesem Hintergrund sind Wagners Ressentiments nicht gerade originell.

In Wagners früherem Bewunderer Friedrich Nietzsche reiften mit der Zeit nicht nur Zweifel am Antisemitismus als solchem,[6] sondern auch an der Glaubwürdigkeit des kunstreligiösen Wagner’schen Gegenprogramms zur Markt-Moderne. Ein Schlüsselerlebnis war sein Besuch der ersten Bayreuther Festspieltage von 1876: „Der wirkliche Wagner, das wirkliche Bayreuth war mir wie der schlechte allerletzte Abzug eines Kupferstichs auf geringem Papier. Mein Bedürfnis, wirkliche Menschen und deren Motive zu sehen, war durch diese beschämende Erfahrung ungemein angereizt.“[7]

Was hatte Nietzsche derart enttäuscht? Dass sich in Bayreuth schon damals die High Society vornehmlich an sich selbst und an prunkvollen Banketten delektierte. Die für Nietzsche heilige Musik, welche doch eine Wiedergeburt des griechischen Mythos hätte einleiten sollen, wurde zur angenehmen Nebensache degradiert. Man konsumierte Kunst wie eine Ware unter vielen, Wackenroder und Tieck ließen grüßen. War es also möglich, dass der Ex-Revolutionär Wagner in seinem Erfolgs-, Wirkungs- und Machtstreben einen Pakt mit den Geistern der Konsumzivilisation geschlossen hatte?

Dieser Fährte möchte ich im Folgenden folgen und dabei vor allem die Eigendynamik nicht-intentionaler Verbindungen zwischen der Funktionslogik der Konsumkultur und dem Gesamtkunstwerk herauspräparieren. Inwiefern lassen sich Analogien zwischen dem sozialrevolutionären Gesamtkunstwerk des 19. Jahrhunderts und jenem sozialevolutionären Gesamtkonsum beobachten, der zu Wagners Lebzeiten immer mehr Bevölkerungsschichten erfasste und zum dominanten Merkmal der globalisierten Gegenwartskultur geworden ist?

Ich möchte zeigen, dass a) Wagners ästhetische und Kunst-Theorie ein Lehrbuch für hochentwickelte Konsum- und Medienkulturen nolens volens ist, dass b) Charakteristika des Konsums als Integrations- und Vergesellschaftungsstrategie vor allem im Konzept des Gesamtkunstwerks und des Festspiels aufscheinen, und dass c) gerade hinsichtlich ihres universalen Geltungsanspruchs Verbindungen zwischen Wagner und Warenwelt bestehen.

Drei Begriffspaare dienen mir als Prüfsteine für die Schlüssigkeit meiner Thesen:

  • Kollektiv & Universalismus
  • Ästhetisierung & Immersion
  • Mythos & Verzauberung

Zunächst seien einige Bemerkungen zur Genese und zu den Kennzeichen der Konsumkultur vorausgeschickt. Vereinfacht gesagt, lässt sich die Konsumkultur als die sozioökonomische Konsequenz der Säkularisierung, der Industrialisierung, der Verbürgerlichung und der materialistischen Mentalität seit dem 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert definieren. Erst als die spätfeudale Gesellschaft erodierte und die Bindekräfte der Religion schwanden, erst als das Bürgertum seinen Aufstieg forcierte und im selben Zuge Industrialisierung, Kapitalismus, Liberalismus und Demokratie ihren – vorläufigen – Siegeszug antraten, erst dann entstand in ihren Grundzügen die Konsumkultur, wie wir sie heute kennen.

In der Konsumkultur entscheidet nicht länger der gesellschaftliche Status über Kaufkraft und Kaufentscheidungen, vielmehr sind es Kaufkraft und Kaufentscheidungen, die über den gesellschaftlichen Status entscheiden. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Konsumkultur und dem ihr zugrunde liegenden Wirtschaftssystem des Kapitalismus eine demokratische, progressive Tendenz attestieren. Marx und Engels waren sich dieser Tendenz bewusst, als sie im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 über die Bourgeoisie schrieben: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“[8]

Die Konsumkultur ist insofern eine genuin materialistisch-ästhetische, der Immanenz zugewandte Kultur, als sie Identität nicht über abstrakte Begriffe, sondern über Dingbesitz, Dinggebrauch, Dingdesign und Selbstdesign konstituiert. An Stelle von Göttern, Glaube, Tradition, Blut und Boden treten flüchtige Moden und performative Lebensentwürfe. Genau diese vermeintliche Verflachung war es, die alteuropäische Kulturkritiker von Flaubert über Schiller, Nietzsche und Wagner bis hin zu Heidegger und Hans Sedlmayr dazu brachte, in ihr den Untergang des Abendlandes zu erblicken. Wo bleibt bei so viel Schein das Sein, wo bei so viel Physischem das Metaphysische?

Tatsächlich war und ist die Sache komplizierter. Schon Marx nannte die Ware ein „sinnlich-übersinnliches Ding“[9]. Wolfgang Ullrich verweist auf den Soziologen Colin Campbell, demzufolge „die moderne Konsumgesellschaft gerade nicht materialistisch ist, bringt sie doch Dinge hervor, die vor allem in Phantasien und als Sinnstiftung eine Rolle spielen“[10]. Konsumkultur und Metaphysik sind so gedacht keine Gegensätze, sondern die zwei Seiten einer Medaille – wenigstens in hochentwickelten Konsum- und Wohlstandskulturen. Kommen wir nun zu den besagten drei Begriffspaaren.

Kollektiv & Universalismus. Margaret Thatcher und Wagner als Gesellschafter

Wagners zentrales Anliegen war es, durch Kunst Gemeinschaft zu stiften und die damals wie heute beklagte Vereinzelung, Zersetzung und Zersplitterung in der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft zu kurieren. Dezidiert als Ersatzreligion angelegt, sollten seine Festspiele als Medium einer mythischen Wiedervereinigung dienen. Die in diesem Zusammenhang programmatischen Sätze stehen in Wagners Schrift Das Kunstwerk der Zukunft, die er 1849 im Zürcher Exil verfasste: „Das Kunstwerk der Zukunft ist ein gemeinsames, und nur aus einem gemeinsamen Verlangen kann es hervorgehen. Dieses Verlangen, das wir bisher nur, als der Wesenheit der einzelnen Kunstarten nothwendig eigen, theoretisch dargestellt haben, ist praktisch nur in der Genossenschaft aller Künstler denkbar, und die Vereinigung aller Künstler nach Zeit und Ort, und zu einem bestimmten Zwecke, bildet diese Genossenschaft.“[11]

Was tut diese Genossenschaft? Sie kollaboriert an einem völkischen Gemeinschaftsdrama, wie es Nietzsche in seinem Tragödienbuch beschrieb, und damit am Gesamtkunstwerk als der Summe aller Kunstgattungen, die etwas anderes ist als ihre Teile, nämlich ein umfassender Existenzentwurf: „Das grosse Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermassen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur.“[12] Manchmal gebraucht Wagner statt „Natur“ den nebulösen universalistischen Begriff des „Reinmenschlichen“.

Angesichts der Beschwörung der „menschlichen Natur“ und des „Reinmenschlichen“ scheint es auf den ersten Blick weit hergeholt, eine Verbindung zu Kapitalismus und Konsumkultur herstellen zu wollen. Sind diese nicht Promotoren der Isolation und der Denaturierung, verschlumpfen sie nicht den einst gottebenbildlichen homo heroicus bis hin zur krassesten Degenerationsstufe, dem hobbitähnlichen, krämerischen „letzten Menschen“ (Nietzsche)? Die Überwindung der Natur, das Vakuum epischer Gefühle, die Bejahung des Eigennutzes, der Konkurrenz und des Neides ist ein Kernbestandteil der Fremd- und teils auch Selbstdefinitionen der kapitalistischen Konsumkultur. Doch was bei Wagner einzig als zersetzende Kraft erscheint, kann auch als eine integrative interpretiert werden – und wurde auch häufig so interpretiert.

Bereits Hesiod schrieb dem Neid und der Konkurrenz eine produktive Kraft für die Gesellschaft zu. Die Göttin Eris, in der griechischen Mythologie zuständig für Zwietracht und Streit, hatte für ihn eine segensbringende Seite: „Sieht nämlich der Nichtstuer, wie sein reicher Nachbar mit Eifer pflügt, sät und sein Haus wohl bestellt, dann eifert der Nachbar dem Nachbarn nach, der zum Wohlstand eilt. Fördernd ist solcher Wetteifer für die Menschen, und so grollt der Töpfer dem Töpfer und der Zimmermann dem Zimmermann, der Bettler neidet dem Bettler, und der Sänger dem Sänger.“[13]

In der Moderne waren es Ökonomen wie Adam Smith und Joseph Schumpeter oder Soziologen wie Georg Simmel, die in der Konkurrenz eine „vergesellschaftende Wirkung“[14] (Simmel) beobachteten. Etymologisch aufschlussreich ist, dass sich „Konkurrenz“ von lateinisch „con“ (zusammen) und „currere“ (laufen) herleitet: „zusammen-laufen“. Bezeichnend also, dass wir heute sagen: „miteinander konkurrieren“. Konkurrenz wird in dieser Formulierung implizit als vergesellschaftender Vorgang definiert.

Zwar stellte Margaret Thatcher 1987 die berühmte und seitdem immer wieder im Zusammenhang mit der Kritik am Neoliberalismus zitierte Suggestivfrage: „And who is society? There is no such thing!“ Diese Äußerung der wohl umstrittensten Krämerstochter aller Zeiten – ausgerechnet Krämerstochter! – ist Wasser auf die Mühlen der Wagnerianer, die sich die Erneuerung der mythischen Bande zwischen den Menschen ersehnen. Doch gemeint war die Frage anders, weshalb sie von Thatcher-Kritikern meist aus dem Zusammenhang gerissen wird. Thatcher fuhr nämlich wie folgt fort: „There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first. It is our duty to look after ourselves and then also to help look after our neighbour and life is a reciprocal business and people have got the entitlements too much in mind without the obligations.“[15]

Thatchers These lautete also, dass Gesellschaft – in ihren Worten: „reciprocal business“ – nur dann entstehen kann, wenn Menschen gewillt sind, für sich selbst zu sorgen. Wie sollte auch jemand, der nicht einmal für sich selbst sorgen kann, sich um andere kümmern können? Doch jeder zur Selbstsorge befähigte Mensch ist auch verpflichtet – die von Thatcher genannten „obligations“ –, seinen Nachbarn zu helfen. Gesellschaft entsteht Thatchers Verständnis nach aus der erweiterten Sorge um sich selbst. Nur wer sich selbst nutzt, kann anderen nutzen. Ich bin kein Anhänger der Politik Thatchers, aber es ist wichtig, das Zitat in seinen korrekten Zusammenhang zu rücken. Auch bei Thatcher ist das Ziel, wie bei Hesiod: Vergesellschaftung durch Eigennutz. Der Fluchtpunkt ist letztlich doch das Kollektiv, nur wird es hier nicht vom Kollektiv her (deduktiv, vom Ganzen auf den Einzelnen), sondern auf das Kollektiv hin gedacht (induktiv, vom Einzelnen auf das Ganze). Nur gute Einzelne ergeben ein gutes Ganzes, ein gutes Ganzes aber nicht zwingend gute Einzelne, so die Argumentation Thatchers.

Dem bekennenden Kapitalisten und Verfasser des „Konsumistischen Manifests“ Norbert Bolz zufolge sind die Konsumkultur und die „universale Geldwirtschaft“ alles andere als Motoren der Entfremdung. Im Gegenteil, sie beerben die Religion und führen zu „einem einzigen Lebensstil“, also zu einer Form des Kollektivs. Wagner wiederum verfocht den „universellen Charakter“ der Kunst und ihre „enge Bindung an Mythos und Religion“[16]. Wie Manfred Frank überzeugend argumentiert, forderte Wagner, Kunst solle „eine an alle gerichtete und alle verbindende Universalsprache“ sein, die bedauerlicherweise jedoch nur in einem homogenen Kollektiv verstanden werden könne.[17]

Das gleiche ließe sich von Kapitalismus und Konsumismus behaupten. Sie reichen allen Völkern, Kulturen und Individuen die Hand, doch nur unter der Bedingung, dass diese bereit sind, sämtliche bestehenden qualitativen Unterschiede qua Geld in universale Äquivalenzbeziehungen zu setzen. So schließt sich der Ring. Wenn nicht in der Wahl und in der Moralität der Mittel, so doch im Zweck sind Wagnerianer und Marktapologeten geeint. Die Vektoren ihrer Bestrebungen konvergieren in der universalistischen Vision des Kollektivs, wenngleich unterschiedliche Auffassungen bezüglich dessen Charakters bestehen.

Bei Wagner sollte die Vereinigung durch das Gesamtkunstwerk und durch den Rekurs auf sinnstiftende Ur-Mythen, in seinem Fall germanische, erreicht werden. Bei Thatcher, Bolz & Co. soll die Vereinigung – nur vordergründig paradoxerweise – durch Egoismus und Konkurrenz erreicht werden, welche die kapitalistische Marktwirtschaft und die Konsumkultur erfordern. Wenn alle Menschen untereinander konkurrieren, sind sie vereint durch Konkurrenz. Wenn alle Menschen nach dem höheren Wohlstand ihrer Nachbarn streben, wie Hesiod es beschrieb, gleichen sie sich unweigerlich einander an. Wagnerianer und Konsumisten sind kongeniale Kon-kurrenten.

Ästhetisierung & Immersion. Zur untergründigen Verwandtschaft zwischen Bühnen und Burgern

Die Visionen oder besser gesagt: Utopien von Richard Wagner und Norbert Bolz haben gemeinsam, dass sie post-religiöser Natur sind. Ihre Autoren glauben nicht mehr an die herkömmliche Metaphysik der Religionen als sinnstiftende, integrative Kräfte. Wagner löste sich von den sakralen Bindungen der klassischen Musik und setzte die Kunst an die Stelle der Kirche. Bei Bolz füllen Kapitalismus und Konsumismus das geistige Vakuum der Moderne. Gesamtkunstwerk und Gesamtkonsum sind zwei unterschiedliche Modi postmetaphysischer Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung: die eine kommunal, die andere agonal.

Wenn aber Kunst einerseits und Konsum andererseits nicht mehr nur schöne Bereicherungen des Lebens sein sollen, sondern von ihnen verlangt wird, dass sie einen höheren, ja den höchsten Stellenwert einnehmen, so ist eine naheliegende Folge dieser Ideologie eine Aufwertung der Ästhetik oder genauer gesagt: die Ästhetisierung der Existenz.

Warum hat die Apotheose sowohl von Kunst als auch von Konsum die Ästhetisierung der Existenz zur Folge? Hinsichtlich der Kunst beinhaltet der Begriff des Gesamtkunstwerks eigentlich schon die Antwort. Wagner strebte eine Kunstform an, die sich nicht nur auf ein Medium, eine Gattung, ja nicht einmal auf einen Ort beschränkte. Die Festspiele waren Vorschein und Katalysator einer neuen Form von Öffentlichkeit: „Ähnlich der antiken Tragödie, deren moderne Form das Gesamtkunstwerk werden soll, drängt Wagners Musikdrama … in den Bereich der Öffentlichkeit, aus der privaten Sphäre aller Theaterkunst in die Sphäre jener Allgemeinheit, die man als politische wohl bezeichnen darf.“[18]

Folglich werden die Künstler zu Designern des soziopolitischen Lebens, da sie, durch die Brille Wagners betrachtet, als einzige in der Lage sind, alle Sphären durch Ästhetisierung zu verbinden. Aus diesem Grund „übersteigt [Wagners Kunstbegriff] bei weitem die bis dahin gängigen Erwartungen, die mit Kunst und künstlerischen Leistungen verbunden waren. Und dies vor allem und zentral deshalb, weil er seine Ästhetik politisch und pädagogisch auflädt und damit seinem Musikdrama Aufgaben zuweist, die überlicherweise in arbteitsteilig organisierten Gesellschaften der Moderne anderen Funktionsbereichen, zum Beispiel dem der Erziehung und dem der Politik, zugewiesen werden.“[19]

Heute lässt sich dasselbe für Kommerz, Konsum und mit ihnen verbundene ästhetische Verfahren aus Kunst und Kreativwirtschaft sagen. Mehr noch, es hat sich bereits der Begriff „Konsumbürger“ – im wahrsten Sinn des Wortes – eingebürgert: „Die Konsumwelt ist zu einer großen Fürsorgemaßnahme für das Individuum geworden. Einzelne Dinge nehmen dabei die Rollen von Lehrern, Therapeuten, Trainern oder besten Freundinnen ein. […] Galt es lange Zeit als Fetischismus oder zumindest als infantile Geste, wenn Dinge vermenschlicht und als Partner angesehen wurden, so findet eine solche Distanzierung in der entwickelten Markenkultur kaum noch statt.“[20]

Peter Sloterdijk hat die Ausbreitung der Konsumkultur in der post-kommunistischen Ära als „Abkehr vom Primat der Thymotik zugunsten einer Erotisierung ohne Grenzen“ bezeichnet, wobei „Erotik“ nicht vom „Sonderfall der sexuellen Libido“ her gedacht werden solle. Erotisierung verweise vielmehr auf das Reich des „Habenwollens“, man könnte auch sagen: des Verführtwerdens durch beständige „Stimulierung von Mangelideen“. [21] Wagner wiederum intendierte eine strukturell vergleichbare Ersetzung thymotischer Energien, selbstverständlich nicht durch banale Erotisierung und Verführung, sondern durch die dem Geist der Romantik des 19. Jahrhunderts angemessene, idealistische „Liebe“. An Stelle herkömmlicher Organisationsformen menschlichen Lebens sollte etwas treten, das Wagner – wie immer raunend und schwammig – „wahre Liebe“ nannte.[22] Diese Liebe, die von Wagner mit „Leben und Freiheit fast synonym gesetzt“[23] wurde, hypostasiert sich in einer „egalitäre[n] und frei kommunizierende[n] Sozialgemeinschaft“[24].

Im Gegensatz zu mutmaßlich repressiven politischen Diskursen und Verfahren sollte Kunst eine freie, offene, radikaldemokratische bis hin zu anarchistische Kommunikation ermöglichen, die an alle Sinne und Erfahrungsmodi appellierte. Schlüsselressource der neuen Gesellschaft war für Wagner neben alten und neu zu erschaffenden Mythen, von denen noch die Rede sein wird, die Kreativität – ein Schelm, wer an einen Vorschein der Kreativwirtschaft denkt. Weil sich die Kreativität seinem Verständnis nach in starren Institutionen nicht entfalten kann, sollten letztere verschwinden – ein Schelm, wer an einen Vorschein des Rückzugs des Staates in neoliberalen Zeiten denkt. Wie dem auch sei, die neue, nur durch Kreativität und Liebe kommunizierende, mit vereinten Kräften am Gesamtkunstwerk arbeitende Gesellschaft sollte dezentral und flexibel organisiert sein.

Was Wagner anstrebte, war eine umfassende Ästhetisierung der Öffentlichkeit; eine egalitäre Kommunikation nicht nur durch Sprache und Texte, sondern auch durch Musik und Bilder; eine Flexibilisierung aller Strukturen und eine Auflösung aller alten Institutionen des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Erinnert das, suggestiv gefragt, nicht verdächtig an die flexibilisierten, konsumistischen Existenzverhältnisse in den postindustriellen Gesellschaften mit kollaborativen Medien 2.0 wie YouTube und Wikipedia, bei denen Konsumenten zugleich Produzenten sind? Denn auch das ermöglicht die avancierte Konsumkultur: das Aufkommen der „Prosumenten“ (Alvin Toffler).

Angesichts der umfassenden und sicherlich heillos überzogenen Ansprüche an und Hoffnungen auf Gesamtkunstwerk und Gesamtkonsum bietet es sich an, den Begriff der „Immersion“ aus seinem geläufigen Zusammenhang mit Cyberspace, Virtual Reality und Augmented Reality zu lösen und ihn für sozioästhetische, politisch-ästhetische und ökonomisch-ästhetische Phänomene wie Gesamtkunstwerk und Gesamtkonsum fruchtbar zu machen. Rufen wir zunächst den lateinischen Wortstamm von „Immersion“ in Erinnerung: „immersio“, die „Eintauchung“. „Immersion“ ist dann gegeben, wenn wir völlig in eine Umgebung eintauchen wie der Kopf eines Gläubigen bei der Flusstaufe ins Wasser.

Wagner schlüpfte in die Rolle des Obertäufers und strebte an, dass die Zuschauer seiner Aufführungen gänzlich vom Bühnengeschehen absorbiert würden, dass sie die Grenzen des Theaterraumes vergäßen. Sie sollten aber auch insofern ins Geschehen eintauchen, als sie es hinaus ins Leben tragen sollten, also selbst zu Täufern, eben zu „Prosumenten“ avant la lettre, würden. Die temporäre Immersion sollte zu einer permanenten Fortsetzung des Bühnengeschehens im Leben an sich führen. Immersion findet hier somit auf zweifache Weise statt: zum einen situativ im Festspieltheater, zum anderen im erweiterten Sinn auf politisch-sozialer Ebene.

Mit dem Gesamtkonsum verhält es sich ähnlich. Nur wenn der Konsum immersiv wird, wenn die Welt also mit einem engmaschigen Netz aus Konsumtempeln, Konsumfesten und Konsumwettbewerben überzogen ist, ist die Menschheit vollumfänglich geeint – so ließe sich die Utopie des Gesamtkonsums zusammenfassen. Eine zugespitzte Version dieser Utopie formulierte der Journalist Thomas L. Friedman, als er 1996 in der „New York Times“ mit dem Gedanken spielte, man müsse weltweit nur möglichst viele McDonald’s-Filialen errichten, um globalen Frieden zu schaffen.[25]

Zwar relativierte Friedman diese These im weiteren Verlauf seines Artikels. Aber die Stossrichtung war klar: ein weiterer Fall von erweiterter Immersion, hier einmal sozioökonomisch gedacht – Burger statt Bühne. Damit nicht genug. Hinzu kommt, dass Friedman den McDonald’s-Manager James Cantalupo zitierte, der die Wirkung seines Unternehmens als primär „symbolisch“ einstuft und dessen Erfolg damit wiederum sozioästhetisch begründet: Symbole stiften Einheit, so die These Walter Benjamins, der Symbole (organisch) und Allegorien (bruchstückhaft) voneinander unterschied.[26]

Wagners Ziele hat erst der demokratisch-kapitalistische Konsumismus in den Wohlstandsgesellschaften de facto erreicht, und zwar jenseits von sozialrevolutionären Visionen und Utopien. Die Evolution der modernen Technologien und Medien im Verbund mit dem Massenkonsum und der liberaldemokratischen Mentalität hat zur Entstehung einer neuen Art von Gesamtkunstwerk geführt, wie Gianni Vattimo in seinem Buch „Das Ende der Moderne“ von 1985 nahezulegen scheint. Weit entfernt von den in den alteuropäischen Geisteswissenschaften üblichen Vorbehalten gegen die mutmaßlich entfremdende und denaturierende Techno-Moderne stellt er fest: „Die Identifizierung der Sphäre der Medien mit dem Ästhetischen mag sicherlich auf Einwände stoßen. Es sollte aber nicht so schwer sein, sich mit dieser Identifizierung anzufreunden, wenn man bedenkt, daß die Medien … eine gemeinsame Sprache im sozialen Bereich konsensfähig machen, sie initiieren und intensivieren. Es handelt sich nicht um Mittel für die Masse im Dienste der Masse, sondern es sind Mittel der Masse in dem Sinn, daß sie sie als solche konstituieren, als öffentliche Sphäre der Zustimmung zu allgemeinen Geschmacksrichtungen und Empfindungen.“[27]

So betrachtet, handelt es sich bei der viel beschworenen „Mediengesellschaft“ oder der „Eventkultur“ in der Tat um krypto-wagnerianische Phänomene, die keinen programmatischen Charakter und keinen ideologischen Kern haben müssen, sondern auch nicht-intentionaler, nicht-expliziter Art sein können. Andererseits gibt es Stimmen, die kapitalistisch-konsumistische Events wie Kulturfestivals oder Sport-Großereignisse explizit als Motoren sozialen Wandels anpreisen. Bevor ich für letzteres ein Beispiel nenne, sei noch einmal hervorgehoben, dass das Festspiel, also die ereignishafte öffentliche Zusammenkunft, für Wagner eminente Bedeutung hatte. Das Festspiel war für ihn die zyklische Erneuerung der Gemeinschaft in Anlehnung an die Dionysus-Rituale im alten Athen; ein Ereignis, das immer wieder aufs Neue von und mit der Gemeinschaft inszeniert werden musste.

Eine ähnliche Funktion und Wirkung von Festspielen attestierte James Bidwell von der Tourismusbehörde „Visit London“ den olympischen Spielen 2008 in Peking: „I have just returned from a week in Beijing, where I’ve witnessed an amazing spectacle. There is no doubt in my mind that the Olympic Games are a real catalyst for change. I have seen first-hand the power of the Games to transform a city and unify a nation, and it is humbling. […] The Olympics really are like no other event. They are much more than just two weeks of sport. They showcase a city and nation, its energy, its culture and its people.“[28]

Hier kommen alle Wagner’schen Kategorien zusammen. Natürlich, von Wagner aus betrachtet, in pervertierter, kapitalistischer Schrumpfform. Aber immerhin – das „spectacle“ ist das Äquivalent zum „Festspiel“; der „catalyst for change“ das Äquivalent zum revolutionären „Kunstwerk der Zukunft“; die „unification of a nation“ das Äquivalent zur mythischen Kommunion des Volkes.

Roger Fornoff warnt zwar vor „einer Überdehnung des Gesamtkunstwerk-Begriffs“[29], gesteht aber gleichzeitig ein, dass gerade in der Konsumkultur beziehungsweise in kapitalistischen Unternehmen neue Formen des Gesamtkunstwerks entstanden sind. Als Beispiel führt er die Autostadt des Volkswagen-Konzerns in Wolfsburg an, die er als das „architektonische ‚Zentralheiligtum‘ des VW-Konzerns“ bezeichnet. Die Autostadt sei „der Prototyp eines neuen kultisch-kapitalistischen Gesamtkunstwerks, das mit der pluralen Struktur der modernen Weltgesellschaft seinen Frieden gemacht, zugleich aber seine kritischen utopischen Energien verloren hat“[30].

Schon Theodor Adorno und Max Horkheimer nannten den Siegeszug des Kapitalismus in ihrer „Dialektik der Aufklärungdie „hohnlachende Erfüllung des Wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk. Die Übereinstimmung von Wort, Bild und Musik gelingt um so viel perfekter als im Tristan, weil die sinnlichen Elemente, die einspruchslos allesamt die Oberfläche der gesellschaftlichen Realität protokollieren, dem Prinzip nach im gleichen technischen Arbeitsgang produziert werden und dessen Einheit als ihren eigentlichen Gehalt ausdrücken.“[31] Wie ich weiter oben angedeutet habe, teile ich diese ihrerseits totalisierende und sich selbst hermetisierende Pauschalkritik nicht und würde gegen sie einwenden wollen, dass gerade die „hohnlachende Erfüllung“ des Traums vom Gesamtkunstwerk durch Kapitalismus-Konsumismus ihm viel von seinem deutschtümelnden Idealismus und von seiner Rigorosität genommen hat. Nicht alles, was ‚Gutes‘ zeitigt, muss ‚gute‘ Intentionen haben.

Mythos & Verzauberung. Wagner als Stichwortgeber des Heavy Metal

Dass Wagner fasziniert von Mythen war, braucht hier nicht eigens erwähnt werden. In seinem Weltbild zeichnete sich die Moderne dadurch aus, dass sie dem Mythos den Kampf angesagt und die Menschen auf diese Weise von ihren sinn- und gemeinschaftstiftenden Ursprüngen getrennt hatte. In dieser Hinsicht waren der frühe Nietzsche und Wagner Brüder im Geiste. In der „Geburt der Tragödie“, die Wagner in höchsten Tönen lobte, schrieb Nietzsche 1872: „Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig; erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab.“[32]

Genau hundert Jahre später sollte Leszek Kołakowski dem Mythos eine ähnliche Funktion zuschreiben, allerdings ohne die völkische und alarmistische Komponente Nietzsches und Wagners. Für Kołakowski war der Mythos eine Erzählung, die den Gesetzen der Erfahrung und der Logik der Wissenschaft widerspricht und folglich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Doch gerade weil der Mythos oftmals anti-empirisch, irrational und fantastisch ist, kann er die Menschen aus dem klaustrophobischen Bezirk der Faktizität, also dem jeweiligen Ist-Zustand, geleiten, und ihnen den Bereich dessen eröffnen, was Ernst Bloch in „Das Prinzip Hoffnung“ die „Ontologie des Noch-Nicht“ nannte.[33]

So betrachtet, sind Mythen immer auch Aufforderungen, über den Tellerrand des Hier-und-Jetzt hinauszublicken. Mythen ermöglichen nicht zuletzt Freiheit, denn sie schaffen, wie Kołakowski schrieb, ein dem „realen Werden enthobenes Paradigma“, dem es im realen Werden nachzueifern gilt – als nichts anderes konzipierte Wagner den „Ring des Nibelungen“. Zusammenfassend folgert Kołakowski: „Die bloße Gegenwärtigkeit des spezifisch menschlichen Bewußtseins schafft eine untilgbare, mythogene Situation in der Kultur, wobei sowohl die bindungsstiftende Rolle des Mythos im sozialen Leben wie seine Interpretationsfunktion im Organisierungsprozeß des Einzelbewußtseins unersetzbar scheinen …“[34] In diesen Sätzen steckt eine gehörige Prise Wagner, allerdings – wie gesagt – ohne den ideologischen Ballast, der Wagner – und in geringerem Maße Nietzsche – anhaftet.

Erneut ist festzuhalten, dass die mutmaßlich seichte, einseitig materialistische und im rasenden Stillstand gefangene Konsumkultur eine Wagner’sche Verheißung wahr gemacht hat, nämlich die Remythisierung der Gesellschaft. Ich möchte an dieser Stelle nicht näher auf Adorno und Horkheimer eingehen, die diesen Aspekt in der „Dialektik der Aufklärung“ einer unerbittlichen Analyse unterzogen und dabei den Nexus zwischen Mythos, Aufklärung und Totalitarismus überstrapazierten, ja soweit gingen, die gesamte Ära der Aufklärung als totalitär abzustempeln. Stattdessen soll eine Stimme aus den USA zu Wort kommen, die als eine der ersten die kapitalistischen Wohlstandsgesellschaften mit ihren postmodernen Konsumkulten als mythenfreundliche, gewissermassen „wiederverzauberte“ Gesellschaften interpretierte. Die Rede ist von Leslie Fiedler und seinem Aufsatz „Cross the Border, Close the Gap“ von 1969. In diesem Text zieht Fiedler einen – nicht gänzlich überzeugenden, aber im für meinen Essay entscheidenden Punkt zutreffenden – Vergleich zwischen der Ära der Romantik, die von einer Wiederverzauberung der Welt träumte, und seiner Zeit, der angloamerikanisch geprägten Postmoderne: „Die gegenwärtige Bewegung – nicht nur in ihrer Suche nach Mythen, sondern auch darin, daß sie die Sentimentalität der Ironie vorzieht – erinnert an die Anfänge der Romantik mit ihrer Sehnsucht nach dem Naiven und in ihrem Versuch, authentische Quellen für die Dichtung in Volksformen wie dem Märchen oder der Ballade zu finden.“[35] Hinzuzufügen wäre: die internationale oder globale Popkultur ist eine volkstümliche Kultur ohne Volkstum und eine mythische Kultur ohne Ursprungsmythos.

Heute ist es offensichtlich, dass wir in mythischen Zeiten leben. Die Belege reichen von den großen Erzählungen des Neoliberalismus und den florierenden Esoterik-Messen über die allgegenwärtigen Superhelden-Filme, deren Comicvorlagen Umberto Eco auf luzide Weise als Nachfolger des griechischen Götterkosmos deutete,[36] bis hin zur Rückkehr der Religionen und der Sehnsucht nach Mystik, Ekstase, Exotik und Gefahr, die sich in Vampir- und Zombiefilmen oder in Extremsportarten, Body Modification und dem Konsum harter Pornographie kristallisiert. Immer dann, wenn Existenzverhältnisse als profan, selbstläufig oder selbstgenügsam empfunden werden, kehrt der Mythos zurück, um dem Sinn mit dem Schlüssel des Unsinns die Tür zu öffnen. So war es bei Wagner und so ist es heute wieder.

Vielleicht erklärt dieser Umstand, warum Richard Wagner gerade im Heavy Metal, gewissermaßen auf der dunklen Seite der Pop- und Konsumkultur, intensiv rezipiert wird. Heavy Metal steht Wagner insofern inhärent nahe, als sich das Genre ebenfalls als Medium der Zeit- und Kulturkritik versteht, andererseits offen ist für die jüngsten technischen und künstlerischen Möglichkeiten, und sich gleichzeitig durch starke Affinität zu Mythos und Vormoderne auszeichnet.[37]

Insbesondere die US-amerikanische True-Metal-Gruppe Manowar nennt Wagner als großes Vorbild für ihren mythenschwangeren, auf ein im Dezibelrausch vereintes Fankollektiv abzielenden Bombast-Rock. Beim „Earthshaker Fest“ 2005 in Geiselwind hielt Bandboss und Bassist Joey DeMaio in bester Volkstribun-Manier eine Ansprache, in welcher er behauptete: „Germans own Heavy Metal. But many of you might not know why you own Heavy Metal.“ Die Antwort folgte sogleich: „Because Richard Wagner was born here! […] He played louder, heavier, more dramatic music than anybody could ever imagine!“ [38]

Als habe Nietzsche Manowars Wagner-Spleen vorausgesehen, bedachte er dessen Musik 1878 mit veritablen Metal-Attributen. Wagner habe „nicht e r z ä h l e n, nicht b e w e i s e n, sondern überfallen, umwerfen, quälen, spannen, entsetzen [wollen]“ – auf diese Diagnose wäre jeder Metal-Musiker stolz. Fernerhin sei Wagners „Kunst der A m p l i f i c a t i o n sehr gross“ und „immer auf den e x t r e m s t e n Ausdruck bedacht“.[39] Was könnte es Schöneres geben für ein Genre, das sich das Motto „if it’s too loud, you’re too old“ auf die Fahnen geschrieben hat?

Um ihrem nach Walhall entschwebten Idol posthum die Ehre zu erweisen, kontaktierten Manowar im Vorfeld des Geiselwind-Gastspiels Wagners Enkelsohn Wolfgang Wagner und erboten sich, ihm eine Goldene Schallplatte aus dem Hause Manowar zu überreichen. Erwartungsgemäß lehnte Wagners Büro das Angebot mit deutlichen Worten ab und machte klar, dass der Familienname nicht für Marketingzwecke Manowars benutzt werden solle.

Zwar leuchtet es spontan ein, dass sich der Wagner-Clan von Manowars Metal-Mummenschanz abgrenzt, bei dem man nie so recht weiß, ob postmodernistische Ironie oder neomodernistische Ideologie im Spiel ist – die teils fanatischen Fans legen eher letzteres nahe.

Aber haben Manowar nicht doch irgendwo recht, wenn sie sich auf Wagner berufen? War es nicht Wagner, der das Licht im Konzertsaal löschte, das Orchester aufstockte und auf Überwältigung, Immersion und Mythologie setzte, nur eben für ein elitär statt popkulturell sozialisiertes Publikum, was in einem gewissen Widerspruch zu seinen demokratisch-anarchistischen Wurzeln stand? Liegt der Mythos, wie Roland Barthes richtig bemerkte, nicht immer schon instrumentalisiert vor, und ist nicht die Konsum- und Popkultur deshalb der geeignetere Ort für ihn, da sie zumindest im Mainstream den Gesetzen der instrumentellen Vernunft folgt?

Ich schliesse mich Rüdiger Safranski an, der in seiner Nietzsche-Biographie treffend konstatiert: „[Wagner] wird … selbst zum Exponenten des von ihm so gehaßten Kunstbetriebs. Seine Kunst wird, wie es schon Zeitgenossen kritisch vermerkten, zum Generalangriff auf alle Sinne. Das verleiht seinem Werk, das gegen die kapitalistische Moderne protestiert, eine eigentümliche Modernität. Denn das Primat der Wirkung und der Wirkungsabsicht gehört zum Charakter dieser Moderne, in der die Öffentlichkeit sich als Markt organisiert. […] Originalitätssucht und Effekthascherei sind die Folge.“[40]

Eine noch unmissverständlichere Kritik formuliert Lars Quadfasel in seinen Überlegungen zur „Urszene der Kulturindustrie“. Ihm zufolge ist es kein Zufall, dass die Filmmusik von Peter Jacksons „Der Herr der Ringe“ an Wagners „Parsifal“ erinnert – „gerade Wagners mythischer Bombast bannt ihn … in jene Sphäre des Kommerzes, gegen die er sich so wortreich empört. Die Musik, die, als den Subjekten entrückte, sich wie ein Flor verklärend übers bloße Sosein ausbreitet, taugt wie kaum eine andere zur Filmmusik; insbesondere dort, wo der Film selbst das Sosein zugleich zum Symbol für ein Höheres, Ewiges stilisiert, in Western also oder Fantasy.“[41]

Conclusio: Vom Crown Funding zum Crowd Funding

Ich schließe mit der Feststellung, dass Wagners antikapitalistische und antikonsumistische Anliegen im Kapitalismus, im Konsumismus und in ihrem kulturellen Äquivalent, der Popkultur, im doppelten Wortsinn bestens „aufgehoben“ sind – gerade heute, in Zeiten des Web 2.0, der „Wikinomics“ (Don Tapscott), des Crowd Funding und der „Share Economy“ (Martin Weitzmann).

In der digitalen Ära ist es ohne große Hindernisse möglich geworden, das für Wagner unumgängliche ‚Crown Funding‘ durch ein emanzipatorischeres „Crowd Funding“ abzulösen und das volksbeglückende Genie, das der Herr des Rings verkörperte, durch kollaborative Graswurzelarbeit zu ersetzen. Wer auf adelige Geburtslotteriegewinner und Großindustrielle angewiesen ist, wer überhaupt beständig auf Geldsuche ist, um seine Geldphobien und Kommerzneurosen zu kultivieren, treibt den Teufel durch den Beelzebub aus.

Der Gesamtkonsum – natürlich nur, insofern er Teil einer demokratisch-liberalen Ordnung ist – löst Wagners Verheißungen von Öffentlichkeit, Gemeinschaftlichkeit, Integration, Partizipation, Wiederverzauberung und Remythisierung bei gleichzeitiger Modernisierung glaubwürdiger ein als – zugegeben genialische – Hügelspektakel in Bayern. Erst wenn seine weltanschaulichen Wurzeln verdorrt sind, erblüht das Gesamtkunstwerk. Das letzte Wort gebührt Nietzsche: „Wagner erinnert an die Lava, die ihren eigenen Lauf durch Erstarrung hindert und plötzlich sich durch Blöcke gehemmt fühlt, die sie selbst bildet.“[42]

 

Anmerkungen

[1] Zitiert nach: Houston Stewart Chamberlain: Richard Wagner. Auswahl seiner Schriften, Leipzig 1910, S. 14.

[2] Richard Wagner: Das Judenthum in der Musik, Leipzig 1869, S. 11.

[3] Zitiert nach: Robert Louis: Die Weltanschauung Richard Wagners, Hamburg 2012 (i.O. 1898), S. 174.

[4] Peer Zickgraf im Gespräch mit Bazon Brock, 17. Dezember 2012, auf: http://www.einseitig.info/html/content.php?txtid=974. [Link nicht mehr aktiv].

[5]     Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Ditzingen 2005 (i.O. 1797). S. 67.

[6] Vgl. u.a. Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, 1881, Drittes Buch, Abschnitt 205 „Vom Volke Israel“.

[7] Friedrich Nietzsche: Nachlaß 1875 – 1879. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1999, S. 495.

[8] Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Berlin 1959, Band 4, S. 465.

[9] Karl Marx: Das Kapital, Paderborn keine Jahresangabe (i.O. 1867-1894), S. 65.

[10] Wolfgang Ullrich: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?, Frankfurt a.M. 2006, S. 30.

[11] Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft, Leipzig 1850, S. 206.

[12] Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft (wie Anm. 11), S. 32.

[13] Hesiod: Werke und Tage, Stuttgart 2007 (i.O. um 700 v. Chr.), S. 5.

[14] Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1992 (i.O. 1908), S. 327.

[15] Zitiert nach: http://www.margaretthatcher.org/document/106689. Letzter Zugriff 31. Dezember 2013.

[16] Roger Fornoff: Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk. Studien zu einer ästhetischen Konzeption der Moderne, Hildesheim 2004, S. 171.

[17] Manfred Frank: Mythendämmerung. Richard Wagner im frühromantischen Kontext, München 2008, S. 59.

[18] Udo Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Frankfurt a.M. 1994, S. 225.

[19] Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks (wie Anm. 18), S. 230-31.

[20] Ullrich: Habenwollen (wie Anm. 10), S. 34.

[21] Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a.M. 2006, S. 294.

[22] Vgl. Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks (wie Anm. 18), S. 242-245.

[23] Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks (wie Anm. 18), S. 245.

[24] Bermbach: Der Wahn des Gesamtkunstwerks (wie Anm. 18), S. 243.

[25] Vgl. Thomas L. Friedman: „Foreign Affairs Big Mac I“, 8. Dezember 1996, auf: http://www.nytimes.com/1996/12/08/opinion/foreign-affairs-big-mac-i.html. Letzter Zugriff am 31. Dezember 2013.

[26] Friedman: „Foreign Affairs Big Mac I“ (wie Anm. 21): „I feel these [developing, Anm. J.S.] countries want McDonald’s as a symbol of something – an economic maturity and that they are open to foreign investments.“

[27] Gianni Vattimo: Das Ende der Moderne, Stuttgart 1989 (i.O. 1985), S. 60.

[28] James Bidwell: „2012 spectacle can transform the capital and unify the nation“, 20. August 2008, auf: http://www.standard.co.uk/olympics/2012-spectacle-can-transform-the-capital-and-unify-the-nation-6878562.html. Letzter Zugriff am 31. Dezember 2013.

[29] Fornoff: Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk (wie Anm. 16), S. 16.

[30] Fornoff: Die Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk (wie Anm. 16), S. 24.

[31] Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 2006 (i.O. 1944), S. 132.

[32] Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1999 (i.O. 1872), S. 145.

[33] Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 1. Band, Frankfurt a.M. 1974 (i.O. 1954), S. 12.

[34] Leszek Kołakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München: R. Piper & Co., 1973 (i.O. 1972), S. 148.

[35] Leslie Fiedler: „Überquert die Grenze, schließt den Graben!“ in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 71-72.

[36] Vgl. Umberto Eco: „The Myth of Superman“, in: Diacritics, Vol. 2, No. 1, Spring 1972, S. 14-22.

[37] Vgl. u.a. Rolf Nohr und Dieter Schwaab (Hg.): Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt, Münster 2012, Kapitel III „Metal vs. Moderne“.

[38] Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=nh-6pUHgnX8. Letzter Zugriff am 31. Dezember 2013.

[39] Nietzsche: Nachlaß 1875 – 1879 (wie Anm. 7), S. 491.

[40] Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, München/Wien 2000, S. 92.

[41] Lars Quadfasel: „Die Urszene der Kulturindustrie“, in: Versorgerin, Nr. 99, September 2013, S. 7.

[42] Nietzsche: Nachlaß 1875 – 1879 (wie Anm. 7), S. 495.

 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Universi Verlags.

Weitere Hinweise zum Sammelband „Wahn und Wirkung. Perspektiven auf Richard Wagner“, in dem der Aufsatz zuerst erschienen ist, hier.

Wenn Sie den Aufsatz im wissenschaftlichen Zusammenhang zitieren wollen, benutzen Sie bitte die Buchfassung.

 

örg Scheller ist Dozent für Kunsttheorie und Kunstgeschichte im Departement Kunst & Medien, Bachelor Medien & Kunst, Vertiefung Fotografie an der Zürcher Hochschule der Künste.