Social Media Junivon Annekathrin Kohout5.6.2016

Snapchat-Linsen

„To be or not to be“, schreibt Madonna unter ein Bild, das sie auf Instagram hochgeladen hat.[1] Sein oder nicht Sein, das ist hier die Frage – und heute als ein millionenfach gebrauchtes Hamlet-Zitat ein populärer Ausspruch, mit dem man einer Situation oder Beobachtung existentielle Bedeutung zuschreibt, meist in stilisiert-ironischer Form, so auch bei Madonna.

Sie befindet sich selbst auf dem Bild, hat eine Hundemaske auf und reckt dem Betrachter eine überdimensionale Zunge entgegen. Wer den Kontext nicht kennt, findet dieses Bild wahrscheinlich befremdlich: Was möchte Madonna dem Betrachter damit sagen? Handelt es sich um eine indirekte Liebesbekundung zum Comic-Genre oder einfach um eine verschlüsselte Botschaft, einen Insider-Witz? Weder noch.

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Mit dem Bild zeigt Madonna auf Instagram, dass sie Snapchat benutzt, denn die Hundemaske ist keine analoge Kostümierung, sondern eine der beliebtesten Snapchat-Linsen. Die im September 2015 eingeführten Linsen sind Effekte, die auf einer Gesichtserkennung basieren und die dadurch entstandene Transformation in Echtzeit animieren. Außerdem sind sie interaktiv und können durch Handlungen, die von der App angewiesen werden, beeinflusst werden. „Öffne Deinen Mund“ ist beispielsweise die Handlungsanweisung zur Hundemaske. Befolgt man diese, breitet sich eine riesige Zunge über das Display aus. Denkt man nun zurück an das Hamlet-Zitat, fällt auf, dass der Kontrast kaum größer sein könnte. Einer der einflussreichsten Sätze der Hochkultur steht hier neben einem Bild, das einen Popstar hinter einer animierten Hundemaske zeigt. Es scheint absurd: Madonna benutzt Snapchat, eine Handy-App, um ihr Gesicht als Hündchen animiert zu sehen, und fragt sich offenbar selbst, warum.

Nicht nur Madonna ist fasziniert von der unerklärlichen Anziehungskraft der Snapchat-Linsen. „So i got snapchat and i dont know what im doing“,[2] bemerkt ein Mädchen unter einem Bild, das sie selbst mit einer Blumenkrone zeigt. „Why do I do this“, fragt sich eine andere.[3] Und jemand kommentiert: „Can’t stop me from over using this filter.“[4] Doch worin besteht die Faszination dieser Effekte?

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Die Grundlage für jede Snapchat-Linse ist das Selfie. Ist schon das übliche Selfie als Kommunikationsmedium anlassgebunden und zielgerichtet  – da sich bei jeder Aufnahme die Frage stellt, wem man es schickt oder wo man es postet -, wurde es doch immer wieder der Selbstdarstellung beschuldigt. Entkräftet wurde dieser Vorwurf unter anderem von Wolfgang Ullrich, der das Selfie in Analogie zum Emoticon deutete.[5] So veranschaulichte er anhand von Selfie-Posen – den weit aufgerissenen Augen, herausgestreckten Zungen und dem sogenannten „Duckface“ – wie unnatürlich und begrenzt die Gesichtsausdrücke auf Selfies sind und wie sehr sie in dieser Stilisierung den Emoticons entsprechen.

Was in Selfies schon angelegt ist, kommt jedoch mit den Snapchat-Linsen erst richtig zum Ausdruck. Nicht nur, dass sie das Gesicht in eine Comic-ähnliche Gestalt verändern und damit ästhetisch in die Nähe von Emoticons gelangen. Auch gibt es ein Set an Charakteren und Emotionen, das zwar variiert – jeden Tag kommen neue Linsen hinzu und ältere verschwinden -, aber insgesamt stets vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten bietet. So erfreut man sich vor allem an Linsen, mit denen sich Traurigkeit anzeigen lässt, wenn auch nicht selten aus ironischer Distanz. Denn: „it’s actually really human“, bemerkt die Autorin Leonora Epstein auf ihrem Blog.[6]

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Die positive Resonanz auf die Möglichkeit, unterschiedliche Emotionen ausdrücken zu können, ist insbesondere eine Reaktion auf die immer größer werdende Kritik an der Makellosigkeit und Normierung auf einem anderen Sozialen Netzwerk, das vor allem mit Bildern kommuniziert: Instagram. Häufig werden Stimmen laut, die den geschönten Bildern auf Instagram unterstellen, eine Provokation darzustellen: „Manche Menschen leben sehr gut davon, dass sie versuchen, andere Menschen mit ihrem Leben neidisch zu machen“, schrieb Laura Ewert in ihrem umstrittenen und viel diskutierten Artikel „Instagram macht uns alle zu Psychopathen“.[7] Es bringt „mehr Frust als Lust, sich solche Bilder anzuschauen“, heißt es im Kommentar einer Diskussion zu ihrem Text, und weiter: „es kann eine verheerende Wirkung auf die eigene Wahrnehmung haben – alles wird aus dem perfektionierten Instagramblickwinkel betrachtet – und welcher normale Alltag kann da schon mithalten?“[8]

Doch wieso lassen sich die Nutzer des sozialen Netzwerkes derartig von diesen Bildern provozieren? Worin genau besteht der Frust beim Anblick einer gelungenen Inszenierung? Könnte es tatsächlich daran liegen, dass die Betrachter vergessen, dass Bilder auf Instagram nur suggerieren, privat und authentisch zu sein? Spüren sie noch immer ein „Es-ist-so-gewesen“, wie einst Roland Barthes, als er in Anblick einer Fotografie von Jérôme, des jüngsten Bruders von Napoleon, „voller Erstaunen“ ausrief: „Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben“?[9]

Tatsächlich dürfte der Glaube an die Authentizität des Bilder – wie er im Übrigen auch durch diverse Retro-Filter, vor allem in der Anfangszeit von Instagram, forciert wurde – Grund für die Kritik an der App sein. Und womöglich wird ihr gerade dieser Glaube bald zum Verhängnis.

Denn so sehr die als makellos wahrgenommene Welt von Instagram zu Frustrationen führt, so deutlich entlastet wiederum Snapchat von dem Druck, der durch die Perfektionierung ausgelöst wird. Wie Arnold Gehlen einst die Technik als Werkzeug der Entlastung definierte, des Ausgleichs einer fehlender Ausstattung, so darf man auch die Snapchat-Linsen als Entlastung – wie sich zeigen wird – von Schönheitswahn und Kreativitätsdruck beschreiben.

Wird man durch die Snapchat-Linsen selbst zur Karikatur, stellt sich die Frage nach Schönheit und Perfektion nicht mehr. Auch sehr verschiedene Menschen können unter der jeweiligen Linse sehr ähnlich aussehen und befinden sich unter ihr in einem konkurrenzfreien Raum. Wenn auch allen Linsen eine Weichzeichnung der Haut zugrunde liegt – und damit eine Verschönerung -, dienen sie nicht der Perfektionierung, sondern bieten Perfektionierung zur Entlastung an. Die Weichzeichnung der Haut ist vielmehr als eine Senkung der Hemmschwelle zu deuten und als Versuch, einen Vergleich auf optischer Ebene gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Somit liegt Schönheit oftmals nicht mehr als Ziel vor Augen, sondern die Karikatur einer lustigen, frohen oder traurigen Person. Die kommunikative Funktion steht im Vordergrund. Sie führt dazu, dass Schönheit nicht mehr die Voraussetzung dafür ist, erfolgreich an einer Bildwelt teilzuhaben.

SocialMediaSnapchat_Bild4Interessanterweise werden diese Mechanismen immer dann gestört, wenn die Bilder von Snapchat in andere soziale Netzwerke, insbesondere Instagram, transferiert werden. Denn dort stehen sie plötzlich in Konkurrenz zu anderen Bildern. Sie werden ihrer Vergänglichkeit enthoben – eine Snapchat-Nachricht löscht sich ansonsten von selbst – und in eine Konstellation zu anderen Bildern gesetzt – bei Snapchat sieht man Bilder oder Filme immer nur nacheinander. So kommt es nicht selten vor, dass gerade auf fremden sozialen Netzwerken die weichgezeichnete Haut wieder zum Anlass wird, Schönheit zu thematisieren: „Mensch der neue Snapchat Filter macht ja eine Schönheit aus mir“, heißt es im Kommentar zu einem Bild auf Instagram, das ursprünglich von Snapchat aufgenommen wurde. Und erhält darauf die zu erwartende Antwort: „Du bist ohne Filter schon wunderschön.“[10]

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Doch auch auf einer anderen Ebene haben Snapchat-Linsen die Funktion der Entlastung: „We all use Snapchat filters as sort of safety net when we are having a slow news day AKA we have nothing else to snap about.“[11] schreibt die Bloggerin Biscayne Boeck. Tatsächlich dienen die Linsen als Werkzeug der Kreativität und befreien so von dem Zwang, sich jeden Tag etwas Neues überlegen zu müssen. Das übernimmt Snapchat, indem es täglich neue Linsen zur Verfügung stellt und somit den Effekt der Kreativitätsentlastung auch über längere Zeiträume aufrechterhält.

Nun ist es nicht selten die Konkurrenzsituation – sei es auf dem Feld der Schönheit oder der Kreativität -, die zur Produktion von Inhalten motiviert. Was setzt sich demnach an die Leerstelle, die entsteht, wenn man sich plötzlich vom Konkurrenzdruck entlastet vorfindet? Was ersetzt die zentralen Funktionen, die einst Filter bei Instagram übernommen hatten: Verschönerung und Normierung?

Auf der re:publica 2016 wurde der 14-Jährige Schüler Joshua Arntzen eingeladen, Snapchat zu erklären. In seinem Vortrag „Snapchat für Erwachsene“ hat er auf die Frage nach der Motivation eine simple, doch nicht zu unterschätzende Antwort gegeben: der „Fun Faktor“[12]

Und tatsächlich unterscheidet sich Snapchat gerade dort von anderen sozialen Netzwerken, wo es spielerischer ist. Indem die Einträge – private Nachrichten löschen sich, nachdem sie angesehen wurden, an alle Follower adressierte „Stories“ nach 24 Stunden – kurzlebig sind, werden sie spontaner und verlieren die Ambition, einen sich selbst repräsentierenden Inhalt zu produzieren. Selbstverständlich sind Screenshots nicht zu vermeiden, doch gehören sie nicht zum guten Ton. Und wenngleich einem die Anzahl an Views einer Story angezeigt wird – sicher eine Funktion, die Influencer-Marketing möglich machen soll-, so entzieht sich Snapchat insgesamt der Sichtbarkeit einer Like-Ökonomie. So reproduziert Snapchat mehr denn je soziale Situationen und Mündlichkeit. Nicht zuletzt deshalb vergleichen viele Nutzer das Verwenden von Snapchat, besonders der Linsen, mit der Tätigkeit des Spielens. Häufig werden Screenshots von Snapchat-Linsen-Selfies so mit „Playing with snapchat“ kommentiert.

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Was bedeutet es, im Spiel zu sein? Es heißt vor allem, das Bewusstsein der Fiktionalität nicht zu verlieren. Für die Zukunft der sozialen Medien kann das bedeuten, endlich aufgeklärt zu sein.

Bisher hält sich der Glaube an die fotografische Authentizität hartnäckig. Obwohl sich zahlreiche Theorien, insbesondere nach dem Aufkommen der Digitalfotografie und den damit verbundenen Möglichkeiten der Bildbearbeitung, gegen dieses Verständnis wandten, wird bis heute, wie sich zeigte, das makellose, weichgezeichnete Gesicht auf Instagram sehr ernst genommen, das Selfie noch immer als Selbstdarstellungssucht interpretiert. Nur deshalb lässt es sich überhaupt als Provokation rezipieren.

Snapchat birgt hingegen aufklärerisches Potenzial. Das Potenzial, den Glauben an die Authentizität des Fotografischen zu überwinden und Bilder endlich nicht mehr als Provokation wahrzunehmen – denn obwohl Snapchat im höchsten Maße authentisch und künstlich zugleich ist, liegt die Priorität beim Spielen. Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage. Und die wird jede Runde neu gestellt.

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Anmerkungen

[1] https://www.instagram.com/p/BEM1qUkGEaW/?taken-by=madonna

[2] http://kawaiinerd4ever.tumblr.com/post/143606460118/so-i-got-snapchat-and-i-dont-know-what-im-doing

[3] http://mkwearscrocs.tumblr.com/post/144944037683/why-do-i-do-this

[4] http://paytronxo.tumblr.com/post/144085506433/cant-stop-me-from-over-using-this-filter

[5] https://ideenfreiheit.wordpress.com/2015/10/12/aufsatz-selfies-als-weltsprache-und-blogparade/

[6] http://hellogiggles.com/snapchat-many-sad-filters/

[7] https://www.welt.de/kultur/medien/article138471077/Instagram-macht-uns-alle-zu-Psychopathen.html

[8] http://www.thisisjanewayne.com/news/2015/03/18/welt-de-hat-einen-artikel-uber-meinen-instagram-account-geschrieben/

[9] Barthes, Roland: Die Helle Kammer. S. 11.

[10] https://www.instagram.com/p/BEOJa24jCs0/

[11] http://www.hgabmag.com/dos-donts-using-snapchat-filters/

[12] https://re-publica.de/16/session/snapchat-erwachsene

 

Annekathrin Kohout ist freie Autorin und Fotografin.