Die fehltemperierte Nation von Elena Beregow25.9.2016

Warm, kalt, cool

[zuerst erschienen in: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 9, Herbst 2016, S. 10-15]

Temperaturen sind in der Flüchtlingsdebatte zu einem drängenden Thema geworden. Kälte und Hitze werden nicht nur auf der Flucht zum Überlebensproblem, sondern sind selbst ein Fluchtgrund. Die Bewohner Nordafrikas und des Nahen Ostens entfliehen der lebensfeindlichen Hitze ihrer Heimat, um sich dann der Kälte zu stellen – unterwegs auf dem Boot oder zu Fuß, wartend an den Grenzübergängen, wartend vor Ämtern, wartend in Zelten.

Ausfallende Heizungen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt oder stickige Traglufthallen, in denen schon im Frühjahr 40 Grad herrschen, zeigen, wie ungeschützt die Asylsuchenden einer feindlichen Umwelt ausgesetzt sind. Die Bilder von erschöpften Familien, die zusammenrücken, sich mit Kartons, Decken oder an Lagerfeuern zu wärmen suchen, gewinnen einen unmittelbar zündenden Symbolgehalt. An solchen Bildern setzt sich ein metaphorischer Assoziationsreichtum frei, der über thermische Metaphern politische Visionen, Selbstverständnisse und Allianzen austrägt.

Beim Unterfangen, das Frieren der Flüchtlinge in das politische Klima Europas und Deutschlands zu überführen, zeichnen sich drei große Temperierungsmodelle ab. Das erste Modell – Kälte durch Grenzen – kritisiert mit Hilfe des Motivs vom ›kalten Herzen‹ eine zynische ›Abschottungspolitik‹, die Flüchtlinge ungerührt im Meer ertrinken lässt. Zur Zielscheibe linker und sozialdemokratischer Kritiker der ›Festung Europa‹ wird vor allem deren ausführendes Organ, die Grenzsicherungsagentur Frontex. Gruppen wie Pro Asyl klagen eine »Aushebelung des Flüchtlingsrechts auf kaltem Weg« an, die durch Begrenzungen und Behinderungen der Einreise geschieht.

Das zweite Temperierungsmodell – ­Kälte durch Ressentiment – kam in dem Moment besonders häufig zur Anwendung, als die Dublin-Verordnung vorübergehend aufgehoben wurde und die Flüchtenden nach Deutschland kommen durften. Angela Merkel verortete in ihrer Neujahrsansprache die Kälte nicht im Gesamtherzen Europas, sondern bei jenen Individuen, »die mit Kälte oder gar Hass in ihrem Herzen ein Deutschsein allein für sich reklamieren und andere ausgrenzen wollen«.  Ihre Antwort auf jene Herzenskälte von AfD und Pegida lautet naheliegenderweise »Herzenswärme«.

Sie ist zu finden bei den freiwilligen Helfern, die dem Begriff ›Willkommenskultur‹ durch ihr öffentlichkeitswirksames ›warm welcome‹ zu einer internationalen Karriere verholfen haben. Dass Merkel nun zur politischen Zentralfigur dieser Wärme-Gesten wurde, hat ihr ›Eiskalt‹-Image ins Wanken gebracht, das sich vor allem an ihrem reservierten Auftreten festmachte, aber auch an ihrem naturwissenschaftlichen Zugang zur Politik und dem Bruch mit der Traditionswärme der alten CDU-Generation.

Der letzte Strang möchte mit seiner Erklärung der Kälte weiter in die Tiefe, nämlich ins ›kalte Herz‹ des Kapitals. Kälte durch Kapitalismus – das dritte Modell deutet die ›Herzenskälte‹ der Rechten als bloßes Symptom einer ›sozialen Kälte‹, die ihren Ursprung in einem »ungerechten Wirtschaftssystem« habe, so etwa Jakob Augstein bei Spiegel Online. Die Zuwanderung sei gar nicht Grund, sondern nur Auslöser einer Eskalation, in der es eigentlich um »Angst und Armut in einem kälter werdenden Land« gehe. Vertreter dieses Strangs sehen in der ›Willkommenskultur‹ mitunter eine neoliberale Politik des Lohndumpings am Werk, das die Hilfeleistungen für Flüchtlinge auf Freiwillige abwälze. Deren Herzenswärme, so der Tenor, steht hier im Dienste einer übergreifenden ›sozialen Kälte‹.

Die Kritik ›sozialer Kälte‹ ist heute zwar überwiegend mit sozialdemokratischen und linken Positionen verknüpft, doch Pegida und AfD sind nicht nur Adressaten der Kälte-Kritik. Sie  verwenden den Begriff selbst – in einer völkisch gewendeten Variante des dritten Strangs: Auch hier werden Gemeinschafts- und Verteilungsfragen angesprochen, aber als Verteilungskampf zwischen (im völkischen Sinne) Deutschen und Nicht-Deutschen.

Wenn sie von ›sozialer Kälte‹ sprechen, verweisen sie auf den kleinen Mann mit seiner kleinen Rente und stellen ihm undankbare Flüchtlinge mit iPhones gegenüber. In ihrer Vision der Wärme ist bereits der Umschlag in die Hitze angelegt: Volkszorn bricht sich Bahn in brennenden Flüchtlingsheimen. Insbesondere in Ostdeutschland ist das Narrativ ›sozialer Kälte‹ bisweilen noch heute auf den liberalen, individualisierten Westen bezogen, dem das im Osten verankerte Ideal solidarischer Gemeinschaftswärme gegenübersteht.

Dass Kälte in den drei ansonsten sehr unterschiedlichen Positionen durchweg als rhetorisches Mittel eingesetzt wird, um den politischen Gegner zu diskreditieren, führt die starke und unzweideutig normative Dimension der Temperierungsmetaphern vor. Diese Kältebilder besitzen eine weit zurückreichende Tradition, die dem Unbehagen an Entfremdung und Moderne entspringt. Noch immer ist die Kältediagnose darum zumeist eine Krisendiagnose, die das Komplement der Wärme vage aufscheinen lässt, um auf einen besseren Zustand vor oder nach der Kälte zu deuten.

Die Wärmeideale unterscheiden oder widersprechen sich sogar in den drei Temperierungsmodellen, sie setzen auf Grenzöffnung oder Grenzschließung, ein Ende der Ausgrenzung durch Willkommenskultur oder einen starken Sozialstaat. Gemeinsam ist ihnen jedoch der positive Bezug auf eine starke Gemeinschaft. Dadurch werden unwahrscheinliche Allianzen möglich: Die letzten beiden Varianten, die Kälte in einer individualisierten, kapitalistischen Gesellschaft lokalisieren, rücken in zumindest rhetorische Nähe, wenn Sahra Wagenknecht eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen fordert, um den sozialen Frieden zu wahren, oder Sigmar Gabriel sich mit einer Initiative für Deutsche exponiert, mit der er implizit auf die Forderungen der Rechten eingeht.

Die deutsche Tradition politischer Temperierung hat den Hang, sich übergangslos zwischen Kälte als Schreckensbild und Wärme als Ideal zu bewegen. Dass jene Bilder derart präsent sind, mag mitunter an der thermischen Ergiebigkeit der deutschen Sprache liegen. Wie unerschöpflich der Bildspeicher solcher Wendungen bis heute ist, kann man in nahezu jeder Ausgabe der »FAZ« studieren, deren Redakteure fast besessen von (insbesondere politischen) Warm/Kalt-Metaphern sind. Die Faszination, die in Deutschland Temperierungsmetaphern zukommt, geht aber keineswegs mit einer gelungenen Temperierungspolitik einher, vielmehr zeigt sich gegenwärtig in besonderem Maße die deutsche Unfähigkeit, eine mäßige Temperierung zu installieren.

Das Wärmeprogramm der Willkommenskultur zielte zunächst ganz buchstäblich darauf, die Flüchtlinge »in der Kälte nicht alleine zu lassen«, wie es in einem Kommuniqué der Europäischen Kommission hieß. Dafür versorgte man sie mit Decken, Schlafsäcken, Winterjacken und Tee, ließ sie bei sich übernachten und heimische Gerichte kochen. Und man begrüßte sie mit Applaus und Kuscheltieren an Bahnhöfen.

Vielfach wurde an jener Willkommenskultur kritisiert, dass sie an Selbstgefälligkeit und Doppelstandards kranke. Dass die gutgemeinte Eifrigkeit und das engagierte Anpacken nicht nur Grenzen haben, sondern auch selbst zur Zumutung werden können, bekamen etwa migrantisch aussehende Münchner zu spüren, die mit einer Mischung aus Applaus und ungebetenem Mitleid bedacht wurden. So wurde die Diskussion schnell auf die Frage gelenkt, inwiefern eine Ideologie der Begegnung möglicherweise quer zur gesellschaftlichen Teilhabe steht.

Im Selbstlob der ›Willkommenskultur‹ mündet der deutsche Kulturbegriff in einer Sentimentalisierung von Politik, die sich durchaus mit Politikverdrossenheit und Staatsabwehr verträgt, meint der Soziologe Wolf Lepenies. Bereits der Begriff ›Willkommenskultur‹ zeugt vom deutschen Temperierungsproblem: Während man in anderen Ländern ›Zivilisation‹ nach französischem Vorbild findet, beruhend auf Aufklärung, rationalem Kalkül und Pragmatik, definiert sich Deutschland über seine ›Kultur‹, in der Geist und Moralität zu einer harmonischen Einheit verschmelzen – kurzum: »Der kalten Zivilisation steht die warme, seelenvolle Kultur gegenüber.« (»Die Welt«, 26.01.2016)

Lepenies bezieht sich in seiner Kritik auf Helmuth Plessners bekannten Essay »Grenzen der Gemeinschaft« aus dem Jahr 1924, der unter dem Eindruck jener Gemeinschaftsideologien entstand, die etwa in Gestalt der Jugendbewegung, aber auch kommunistischer und nationalistischer Gruppierungen die ›Kälte‹ gesellschaftlicher Ordnungen attackierten und ihr ein Gegenideal glühender Gemeinschaftlichkeit entgegenhielten. Auch wenn Plessner auf die ruinösen Effekte dieses Gemeinschaftskultus hinweist, geht es ihm nicht nur um eine einfache Aufwertung der Kälte.

Vielmehr macht er die temperierte Distanz jenseits von Hitze und Kälte stark, die er im Wesen des Gesellschaftlichen begründet sieht. Distanz darf nicht mit kränkender »Indifferenz, Kälte, Rohheit« verwechselt werden, sie zielt vielmehr auf höfliche Reserviertheit, die sowohl vor zu viel Nähe wie zu großer Ferne schützt. Gelingen soll »die virtuose Handhabung von Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen.«

Dass dieser wohltemperierte Zustand den Deutschen fremd ist, führt Plessner auf den historischen Grund zurück, dass Deutschland eine »Verspätete Nation« ist, die das 17. Jahrhundert verpasst hat. Der adelig-bürgerliche Zivilisationsschub der Frühen Neuzeit sei in Deutschland in eine Epoche konfessioneller Kriege und wirtschaftlichen Abstiegs gefallen, weshalb sich hierzulande nie eine Kultur der Höflichkeit etablieren konnte. Darum macht die ›Willkommenskultur‹ aus einer gesellschaftlichen Aufgabe noch heute eine Frage der Gemeinschaft.

Nun ließe sich einwenden, dass Temperierungsmetaphern nichts spezifisch Deutsches sind; tatsächlich findet man sie fast überall auf der Welt. Die Wärme- und Kälte-Kodierungen beruhen in vielen Sprachen auf ähnlichen Semantiken, aber ihre kleinen Nuancen legen mitunter prägnante Differenzen im politisch-kulturellen Klima frei.

Am Beispiel Großbritanniens kann man sehen, was es bedeutet, wenn die politische Kultur durch das Ideal mäßig kühler Temperierung bestimmt wird. Mit dem ›British Cool‹ bzw. ›Cool Britannia‹ entsteht Mitte der 1990er ein Begriff, der genuin britische Pop-Phänomene vom Britpop über die Spice Girls bis hin zu Zeitschriften und Modedesignern fasst. Er steht aber auch von Anbeginn in vielfältigen Beziehungen zur Politik des ›New Labour‹ unter Tony Blair.

Der Slogan referiert augenzwinkernd auf den patriotischen Song »Rule, Britannia« und setzt ihm den Entwurf eines globalisierten Großbritannien entgegen – ökonomisch stark, kosmopolitisch und kreativ. Das ›Cool‹ wurde auch zum Ausdruck der (finanz-)kapitalistischen Kälte Londons sowie der bürokratischen Kälte Brüssels.

Den Brexit deutet der Soziologe Craig Calhoun in der Huffington Post folgerichtig als eine Zurückweisung jenes ›Cool Britannia‹. Mehr noch: Gesteuert war jene Zurückweisung nicht durch rationale Kosten-Nutzen-Abwägungen, sondern durch Überhitzung: Suggestiv sei das »Leave«-Lager vorgegangen, um die Wähler zu einer emotionalen, expressiven Entscheidung zu bringen, indem patriotisches Ressentiment und die Wut einer abgehängten Mittelklasse – der Verliererin des ›Cool Britannia‹ – angestachelt worden seien.

Verwirklicht wird die Abkehr vom Cool aber unter der Federführung einer Politikerin, die ihrerseits zum Symbol einer neuen Kälte geworden ist: der Konservativen Theresa May. Nigel Farage etwa charakterisiert May im Gegensatz zu ihrer als »open, straightforward and even friendly« gelobten Konkurrentin Andrea Leadsom als »very cold«, drastischer noch: »Mrs May might as well be made of alabaster« (»Mail On Sunday«, 09.07.2016). Viele Rundfunkanstalten und Zeitungen teilen diese Einschätzung und titeln zur Beschreibung Mays wahlweise »Cold, competent and determined« (BBC), »cool, tough, strategic« (The Daily Beast), »cool, collected and steely« oder ernennen sie gleich zur »›Ice Queen‹ of Westminster« (»Daily Express«, 12.07.2016).

Theresa Mays Kälte speist sich aus drei Quellen: Erstens ist es ihre Flüchtlingspolitik, die sogar die Zahl der EU-Einwanderer deutlich begrenzen will. Der strikte Kurs einer konservativen Britin animiert viele Journalisten zur Frage, ob Großbritannien nun die nächste ›Eiserne Lady‹ blühe. Im Gegensatz zu Margaret Thatcher aber – und das ist die zweite Kältequelle – mangele es May an Charisma: Übersachlich, reserviert sei sie, ja: sphinxhaft und unberechenbar.

Diese Züge wiederum regten in Verbindung mit gewissen biografischen Details zu ausführlichen Merkel-Vergleichen an. Als May Mitte Juli nach Berlin reiste, um Merkel im Kanzleramt zu besuchen, nannte Spiegel Online das Duo »eisern pragmatisch«, begegnet seien sich »zwei Regierungschefinnen, die ihre Lage kühl analysierten, bedacht auf den eigenen Vorteil«. Kühle Distanz einerseits, bescheidene Anpackmentalität andererseits einten sie.

Die dritte Kältequelle Mays hebt sie aber deutlich von Merkel ab: May ist eine Stilikone, bereits zwei Modestrecken in der »Vogue« haben sich ihren Looks gewidmet. Unter den Titelzeilen-Alliterationen befindet sich eine weitere, besonders vielsagende: »Cool, calm and kitten-heeled« (»The Times«, 03.07.2016). Vielsagend ist sie, weil sie May als gleichzeitige Verabschiederin und Bewahrerin des Cool-Britannia-Modells ins Bild setzt: Britische Politik wird auf selbstverständliche Weise mit britischen Popreferenzen verschaltet, wenn May im karierten Vivienne-Westwood-Hosenanzug oder anderen Edelpunkaccessoires – etwa mit schwarzem Lacküberzug, Nieten und Leopardenmustern versehenen Kitten Heels von L.K. Bennett – auftritt.

So ist es zu erklären, dass in den May-Titelzeilen die Attribute ›cold‹ und ›cool‹ eine Verwandtschaft bilden, ineinander übergehen: Kälte ist nicht nur eine Pathologie, sondern in Coolness übersetzbar. Im deutschen Temperierungsmodell ist nur die Wärme ambivalent – zwischen Herzenswärme und Überhitzung –, die Kälte aber durchwegs negativ konnotiert. Am englischen Modell zeigt sich, dass eine Politik der Temperierung auch Ambivalenzen des Kalten aufweisen kann.

 

Weitere Hinweise zu Heft 9 von »Pop. Kultur und Kritik« hier.

 

Elena Beregow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie, Universität Hamburg.