Pornographievon Thomas Hecken15.10.2016

Der ganze Unterschied

[zuerst erschienen in: Simone Sauer-Kretschmer (Hg.): „Körper kaufen. Prostitution in Literatur und Medien“. Ch. A. Bachmann Verlag, Berlin 2016, S. 105-115]

Der Begriff ‚Pornographie‘ – mindestens die Kurzform ‚Porno‘ – dürfte fast jedem Deutschen bekannt sein, obwohl es sich um ein Fremdwort handelt. Die lebensweltliche und mediale Bedeutung sexueller Darstellungen sorgt für diese Kenntnisse. Fast gänzlich unbekannt wird aber höchstwahrscheinlich sein, was in lexikalischen Einträgen längerer Art gerne zu Beginn steht: Dass der erste Bestandteil des Kompositums ins Deutsche übersetzt ‚Dirne‘ lautet (altgriechisch: ‚pórnȇ‘).

Dieser Ausgangspunkt soll im Folgenden genutzt werden, um einige Aspekte des Zusammenhangs von Pornographie und Prostitution aus literaturwissenschaftlicher Sicht herauszustellen. Vollständigkeit wird also nicht angestrebt, die Auswahl verdankt sich den mehr oder minder zufälligen Kenntnissen des Verfassers – und dem Bemühen, möglichst interessante Thesen und Beispiele anzubringen.

Für den griechischen Begriffsgebrauch aufschlussreich sind Athenäusʼ „Deipnosophistae“ aus dem dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. In den Dialogen des „Sophistenmahls“ sprechen die Gelehrten im 13. Buch ausgiebig über Prostituierte. Einer von ihnen, Myrtilus, wird von jemandem aus der Runde, Cynulcus, darum mit dem Titel „Pornograph“ belegt. Das ist abträglich gemeint, wie auch Cynulcusʼ Hinweis auf Myrtilusʼ Lebenswandel belegt: „you, you sophist, spend your time in wineshops, not with your friends (ἑταίρων), but with prostitutes (ἑταιρῶν), having a lot of female pimps about you“.

Im gleichen Atemzug wird erwähnt, dass Myrtilus bei den Kneipenbesuchen stets gewisse Schriften mit sich führe: „[…] and always carrying about these books of Aristophanes, and Apollodorus, and Ammonius, and Antiphanes, and also of Gorgias the Athenian, who have all written about the prostitutes at Athens.“ Kurz darauf erfolgt die Titulierung ‚pornographos‘: „You, you teacher of love, are in no respect better than Amasis of Elis, whom Theophrastus, in his treatise On Love, says was extraordinarily addicted to amatory pursuits. And a man will not be much out who calls you a pornographer [πορνογράφος].“[1]

Das hindert Cynulcus aber nicht daran, selbst aus einschlägigen Schriften vorzutragen. Ihn stört an den Prostituierten, von denen er glaubt, dass Myrtilus sie aufsucht, nur, dass sie extravagant und teuer sind und die Männer darum ins Verderben stürzen; ebenfalls stört ihn, dass sie überall sichtbar sind (darum wohl auch der Vorwurf der Pornographie, die solche Sichtbarkeit noch steigert). Gegen billige Prostituierte in speziell dafür vorgesehenen Häusern hat er aber rein gar nichts einzuwenden, wie man einem Zitat Philemons, das Cynulcus beifällig anführt, entnehmen kann; gepriesen wird hier eine entsprechende Maßnahme des Gesetzgebers Solons:

„You [Solon], seeing that the state was full of men,
Young, and possessed of all the natural appetites,
And wandering in their lusts where theyʼd no business,
Bought women, and in certain spots did place them,
Common to be, and ready for all comers.
They naked stand: look well at them, my youth, –
Do not deceive yourself; are you not well off?
Youʼre ready, so are they: the door is open –
The price an obol: enter straight – there is
No nonsense here, no cheat or trickery;
But do just what you like, and how you like.
Youʼre off: wish her good-bye; sheʼs no more claim on you.“[2]

All das ist aber nur noch (Alt-)Philologen ein Begriff. Im 20. Jahrhundert hat sich die Bindung von ‚Pornographie‘ an Prostitution sehr weitgehend verloren (der Begriff der Pornographie fand nach vereinzelten Vorläufern im 18. Jahrhundert erst im 19. Jahrhundert etwas stärker im deutschsprachigen Raum Verbreitung, dort manchmal noch mit Bezug auf ‚pórnȇ‘). Die Begriffsverwendung hat sich mittlerweile von akademischen und juristischen Schriften abgelöst und ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen.

Für die Verbreitung des Wortes hat aber seine Verwendung im Strafrecht anfänglich eine bedeutende Rolle gespielt. Popularisiert wurde das Wort ‚Pornographie‘ in Deutschland durch juristisch-politische Debatten und Verordnungen. In der BRD geschah dies im Zuge der großen Strafrechtsreform (mit umfänglichen medialen Berichten über einzelne Anklagen und Prozesse) beim Wechsel des Begriff der ‚Unzucht‘ zu ebendem der ‚Pornographie‘.[3]

Nun darf man nicht annehmen, dass den Künsten nach alter Rechtsprechung jede Behandlung ‚unzüchtiger Themen‘ verboten gewesen sei. Das lange grundlegende Reichsgericht-Urteil in Sachen Kunst versus Unzucht gestand den vorbildlichen Künsten die Fähigkeit zu, dank ihrer Formgebung sogar Darstellungen von „Vorgängen geschlechtlichen Charakters“ so „durchgeistigen“ und „verklären“ zu können, dass „beim Betrachter die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird“ (Urt. v. 6. November 1893; RGSt 24, 367). Im Umkehrschluss heißt das aber: Alle Werke, die solche ‚Durchgeistigung‘ nicht vornehmen, sind unzüchtige Werke (und demnach keine Kunstwerke).

Die Strafrechtsreform bringt hier Änderung. Dieser Wechsel wurde Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre vollzogen, um den modernen Anforderungen der Kunstfreiheit und teilweise gewandelten Moralvorstellungen zu genügen. Hieß es im §184 StGB bis 1973 noch, verboten sei die Verbreitung „unzüchtiger Schriften“, ging man im Zuge der großen Strafrechtsreform dazu über, von „pornographischen Schriften“ zu sprechen.

Wegen der Einführung des Pornographie-Begriffs glaubte man, Werke der Kunst von Pornographie, die ohnehin nur noch für Jugendliche verboten, dadurch allerdings Erwachsenen schwer zugänglich ist, ein für alle Mal geschieden und ihnen dadurch den freien Vertrieb gesichert zu haben. Der Sonderausschuss zur Strafrechtsreform nannte all diejenigen Darstellungen pornographisch, die nur darauf abzielen, einzig durch die Erregung eines sexuellen Reizes die Grenzen der allgemeinen Wertvorstellungen zu überschreiten (BT-Dr VI/1932).

Angesichts dieses recht unbestimmten Kriteriums verwundert es jedoch nicht, dass die Gerichte ihre Möglichkeiten zur Aus- und Umdeutung nutzten, bis schließlich das Bundesverfassungsgericht sein bis heute maßgebendes Urteil sprach. Der Zusammenhang mit dem Thema ‚Prostitution‘ ist dabei erstens ein zufälliger, zweitens aber systematisch begründbar:

  1. Der einschlägige Entscheid des Bundesverfassungsgerichts ergeht aufgrund einer Klage gegen die Indizierung des Romans Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt.
  2. Über den Zufall hinaus, dass die abstrakten Überlegungen der Verfassungsrichter am Fall eines Prostitutionsromans entwickelt wurden, besteht ein Zusammenhang, den man gut für literarästhetische und kulturwissenschaftliche Betrachtungen nutzen kann.

Im Einzelnen: Das Bundesverfassungsgericht korrigiert den Spruch des Bundesverwaltungsgerichts, bei Josefine Mutzenbacher handele es sich nicht um ein Werk der Kunst. Es bestätigt in diesem Zusammenhang die Auffassung des Bundesgerichtshofes über die Vereinbarkeit von Kunst und Pornographie. Die Auffassung des Gesetzgebers, pornographische seien im Gegensatz zu unzüchtigen Schriften nie Anwärter auf den Kunst-Titel, wird damit verneint. Kunstfreiheit umfasse auch die Freiheit der Wahl eines jugendgefährdenden Themas sowie dessen frei gewählte künstlerische, literarische Verarbeitung, führt der Erste Senat des Verfassungsgerichts am 27. November 1990 aus. Zwar „mag es zweifelhaft sein“, ob ein Werk schon deshalb zur „Kunst“ zu schlagen sei, wenn auf dem Buchumschlag ‚Roman‘ steht oder es von einem berufsmäßigen Schriftsteller verfasst worden ist. Als „die der Kunst eigenen Strukturmerkmale“ führt das Gericht jedoch keine schwerwiegenderen auf: Zur Kunst zählt ein Werk für das Gericht, wenn es das „Ergebnis freier schöpferischer Gestaltung [ist], in der Eindrücke, Erfahrungen und Phantasien des Autors in der literarischen Form des Romans zum Ausdruck kommen“  (BVerfGE 83, 138f).

Zwar befremdet an dieser Definition der Vorrang der Ausdrucks-Ästhetik, da unter ihr aber neben den Erfahrungen auch die Phantasien angesprochen werden – und das Gericht offenbar alles, was an Unrealistischem auf der Romanseite steht, als Phantasie gelten lässt, entsteht daraus (bislang) kein Problem, das in einer prämodernen Delegitimierung von Sprachspielen, Aleatorik, Montagen etc. bestünde.

Aber es gibt noch eine andere, hier dem Gericht wohl auch selbst bewusste, Klausel zur Einschränkung der Tragweite der Kunstfreiheit. Im Mutzenbacher-Urteil heißt es: „Für die Gewichtung der Kunstfreiheit kann von Bedeutung sein, in welchem Maße gefährdende Schilderungen in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind.“ Unmittelbar danach wird präzisiert, dass es sich um eine nicht nur mögliche, sondern unumgängliche Klausel handelt. Zwar umfasse die „Kunstfreiheit […] auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt und Sexualität thematisierenden Sujets sowie dessen Be- und Verarbeitung nach der vom Künstler selbst gewählten Darstellungsart.“ Die Bedenken Cynulcusʼ hinsichtlich der Darstellung der Prostitution dürfen darum bei der juristischen Einordnung, ob es sich um Kunst oder Unkunst handelt, keine Rolle spielen. Es gibt allerdings nach Willen des Gerichts ein Mehr oder Minder an Wirksamkeit dieser Freiheit gegenüber dem Jugendschutz: „Sie wird um so eher Vorrang beanspruchen können, je mehr die den Jugendlichen gefährdenden Darstellungen künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerks eingebettet sind.“ Zur Überprüfung dieser Anforderung müsse eine „werkgerechte Interpretation“ vorgenommen werden, um zu erhellen, ob „jugendgefährdende Passagen eines Werks nicht oder nur lose in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind“ (BVerfGE 83, 147f.).

In teilweiser Vorwegnahme solch einer „Interpretation“ nennt das Gericht als Anhaltspunkte des Kunstcharakters im speziellen Fall des Mutzenbacher-Werks die „milieubezogene Schilderung“, die „Verwendung der wienerischen Vulgärsprache als Stilmittel“, „parodistische Elemente“ und eine mögliche Interpretation der Titelheldin (als Verkörperung auf die „Unterdrückung des Geschlechtlichen“ reagierender „männlicher Sexualphantasien“); zusätzlich ist bei der Abwägung zwischen Kunst- und Jugendschutz die Aufnahme des Werkes bei Kritik und Wissenschaft zu berücksichtigen (BVerfGE 83, 138, 148), die im gegebenen Fall nicht immer negativ ausgefallen ist.

Man sieht, es gibt einigen Spielraum für ‚Interpreten‘, die einem pornographischen Titel Kunst-Eigenschaften zuweisen wollen. Was nicht bedeuten muss, dass er darum automatisch frei verkäuflich und kein Gegenstand der Nachzensur sein darf. Bei Mutzenbacher kam die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften tatsächlich trotz des Kunst-Hinweises zum Ergebnis, dass der Roman für Jugendliche nicht öffentlich sichtbar und zugänglich gemacht werden dürfe.

Das besitzt auch eine gewisse Logik, sogar ganz unabhängig davon, wie die „Passagen“ der Prostitutionssexualität im Mutzenbacher-Roman genau ausfallen. Denn Prostitution besteht im Regelfall aus wiederholten Geschäftsvorgängen, ihre Darstellung könnte demnach zur Addition und Serie neigen. Auffällig ist an dem Mutzenbacher-Urteil – auch wenn es dem Gericht wahrscheinlich selbst nicht aufgefallen ist –, dass immer von „Passagen“ und „Schilderungen“ die Rede ist: Plural; eine einzelne ‚Passage‘ würde demnach nicht ausreichen, um den Pornographie-Begriff juristisch in Anschlag zu bringen.

Diese Mehrzahl taucht auch in der Synopse unterschiedlicher Prostitutions-Begriffe auf. Thomas A.J. McGinn merkt an, dass es hunderte von Definitionen zu ‚Prostitution‘ gebe. Er hält dafür, dass eine solche Definition drei Merkmale beinhalten müsse, um die große historische und kulturelle Verschiedenheit der Prostitution angemessen zu berücksichtigen: „promiscuity, payment, and emotional indifference between the partners“.[4] Beim letzten Punkt muss man wohl anfügen, dass mit ‚emotionaler Indifferenz‘ fehlende romantische Gefühle gemeint sein dürften, nicht das Fehlen von Lust, Ekel, Überlegenheitsgefühlen, Machtgier etc.

Mit Blick auf das Verfassungsgericht-Urteil gesagt: Im Gegensatz zum Geschlechtsverkehr, der im Zeichen romantischer Liebe erfolgt, ist der Geschlechtsverkehr mit einer oder einem Prostituierten alltäglich vergleichsweise ‚lose‘ eingebunden. Kontakt über den Geschlechtsverkehr hinaus gibt es zumeist nicht, an die Stelle längerer sozialer, verbaler Interaktion vor dem Akt tritt die kurze Inspektion und Bezahlung. Exklusivität aufseiten der/des Prostituierten ist nicht vorhanden, oftmals folgt im Arbeitsalltag dieser Berufsgruppe auf einen Akt mit einer anderen Person rasch der nächste, sodass eine emotionale Bindung zu jedem Käufer ausgeschlossen oder unwahrscheinlich ist.

Für eine(n) Prostituierte(n), die (der) einigermaßen im Geschäft ist, ergibt sich daraus eine Konsequenz: So lose die Beziehung zu den einzelnen Kunden auch sein mag, so strikt ist der Zusammenhang – „promiscuity“ bedeutet Mehrzahl, bedeutet eine Serie von geschlechtlichen Akten. Für die Kunden wird das oftmals anders aussehen, die Frequenz der Akte liegt zumeist niedriger; verfügen einzelne Kunden über genügend Geld, kann die Frequenz aber auch sehr hoch sein.

Für den Schriftsteller, der mit dem Anspruch auf Wirklichkeitsnähe schreibt, kann sich daraus das Problem ergeben, beinahe notwendigerweise Pornographie produzieren zu müssen: eine Sukzession von Sex-Stellen. Und nach älterer Unzüchtigkeits-Bestimmung lag das Problem schlicht darin, dass ein auf dem Buchmarkt veröffentlichter realistischer Roman den Akt der Prostitution nur schwer ausführlich und detailreich darstellen konnte, ohne Gefahr zu laufen, juristisch belangt zu werden.

Bei Karl Heinz Bohrer findet sich ein typisches Beispiel, wie mit dem Problem umgegangen werden kann. Der Protagonist seiner Granatsplitter ist zwar offenkundig von Prostituierten fasziniert: Er lässt „seine erotischen Vorstellungen von Prostiuierten“ durch „Bücher bilden“ und hört bewundernd zu, wenn einer seiner Lehrer (der „junge Philosoph“) gegen die „verliebte Vorstellung von einem anmutigen Mädchen, ohne dass daraus etwas würde“, anredet: „Er sagte immer wieder, man müsse die Liebe ganz physisch kennenlernen, am besten im Bordell.“ Dennoch kommt das ‚Physische‘ erzählerisch nicht zu seinem antiromantischen Recht. Wohl steht der gymnasiale Held „immer wieder am Eingang“ der Bordellstraße und blickt auf die Prostituierten: „Die Jüngeren standen in kurzen Hosen und Büstenhalter rauchend auf der Straße“. Den Schritt dorthin tut er aber nicht, er zeigt sich abgestoßen von den älteren Prostituierten, die „eigentlich“ aussehen wie „müde Arbeiterinnen oder Putzfrauen, keine Spur von Erotik.“ Und an den Jüngeren missfällt ihm, was sie und wie sie im „rheinischen Tonfall“ daherreden. Kein Vergleich mit der „wunderbare[n] Erzählung von Flaubert namens Novembre“, auf deren Taschenbuch-Umschlag „das Bild eines gefühlvoll kühlen Mädchens zu sehen“ war.[5] Darum begnügt sich der Held mit dem Buch. Der Bohrer-Leser wiederum muss sich bei der Erwähnung von Novembre mit der Lektüre der knappen Angabe zum Covergirl zufriedengeben, nicht einmal hier darf er die ‚Straße betreten‘, Philosophie und Ästhetik bezwingen das Bordell, „Erotik“ schlägt Pornographie.

In Musils Verwirrungen des Zöglings Törless hingegen ist der Held nicht nur aus der Ferne oder in fiktiven sowie reproduzierten Welten fasziniert von einem „Weib“, das ein „Lotterleben“ führt. Lebensdaten der Frau: Tagsüber „half sie […] in der Wirtschaft und las des Abends billige Romane, rauchte Zigaretten und empfing hie und da den Besuch eines Mannes.“ Zu diesen ‚Besuchern‘ zählt auch Törless. Als Grund dafür gibt die Erzählung eine besondere Art von Lust an: Das „Weib“, Božena, „erschien ihm als ein Geschöpf von besonderer Niedrigkeit und sein Verhältnis zu ihr, die Empfindungen, die er dabei zu durchlaufen hatte, als ein grausamer Kultus der Selbstaufopferung.“ Er genießt angstvoll die Gefahr, erwischt und bloßgestellt zu werden, ihn reizt es, ins Gegenteil seiner gewohnten Lebenssphäre einzutauchen, „nackt, von allem entblößt, in rasendem Lauf zu diesem Weibe zu flüchten.“ Zwei Seiten später steht dann endlich das Wort „Dirne“.[6]

Zur Entblößung kommt es aber im Erzählbericht nur auf der metaphorischen Ebene. Sexuelle Handlungen führen zu größtmöglicher Abstraktion („Wollust“) und stehen ohnehin im Konjunktiv II: „Wäre Božena rein und schön gewesen und hätte er damals lieben können, so hätte er sie vielleicht gebissen, ihr und sich die Wollust bis zum Schmerz gesteigert.“ Der auktoriale Erzähler weiß auch, warum: Das sei so bei „jungen Leuten überhaupt. […] Denn die erste Leidenschaft des erwachsenden Menschen ist nicht Liebe zu der einen, sondern Haß gegen alle.“[7]

Nicht mit der derselben Allgemeinheit, obwohl der Ödipus-Mythos naheliegt, wird eine weitere Emotion Törlessʼ geschildert. In dem „kleinen, übelriechenden Zimmer“ muss er angesichts Boženas „plötzlich an seine eigene Mutter denken“, die für ihn doch vordergründig ein „Geschöpf“ ist, „das bisher in wolkenloser Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte“, wie Törless sich in Reflexionen zu beruhigen und vergewissern sucht. Aber das sind nur „Ausflüchte“, die das „Eigentliche“ nicht verdecken können, wie gleich erläutert wird: „Törless sättigte sich mit den Augen an Božena und konnte dabei seiner Mutter nicht vergessen; durch ihn hindurch verkettete die beiden ein Zusammenhang.“[8]

Da wäre also das Wort, das dem Verfassungsgericht viel wert ist: „Zusammenhang“. Nicht „in ein künstlerisches Konzept eingebunden“ sind diese „Passagen“ keineswegs, der Zusammenhang mit den angeblich ehernen Gesetzen der (männlichen) Jugend („Haß gegen alle“) wird ebenso deutlich erklärt wie die Faszination des ‚Niedrigen‘ hinter dem vorgeschobenen ‚Reinen‘. Da diese Psychologie den gesamten Roman prägt, darf man sogar verneinen, dass die „Passagen“ bloß „lose“ eingebunden sind, was nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls die Schutzwürdigkeit des Kunstwerks minderte.

In weiteren Erzählwerken deutscher Sprache wird man auf der Suche nach ‚eingebundener‘ Pornographie ebenfalls schnell fündig. Falls mit „künstlerisches Konzept“ etwas gemeint sein sollte, das die Prostitutions-Dienstleistung transzendiert, den gekauften Sexualakt über bloße Lust auf der einen und den Zwang, Geld verdienen zu müssen, auf den anderen Seite hinaus motiviert, ist die erzählte Welt voller ‚Konzepte‘. Zumindest jene Gegenwartsliteratur, die in Feuilletons besprochen, mit Preisen ausgezeichnet, in kulturell anerkannten Verlagen, von staatlichen Einrichtungen (Goethe-Institut, Schulen) vorgezeigt wird, muss man dann vom Vorwurf des ‚Losen‘ ausnehmen. Ein weiteres Beispiel[9]: Dem Protagonisten aus Rolf Dieter Brinkmanns erstem Roman kann in all seiner Verzweiflung und in seinem permanenten Gedankenkreiseln und Wahrnehmungsfuror auch der Gang zur Prostituierten nicht abhelfen. Natürlich nicht: Denn der Roman heißt Keiner weiß mehr. Lust kann diese entfremdete Sexualität nicht bereiten, die präzise Wahrnehmung verhindert es, der eigene Körper wird zum fremden Ding:

„Das Gummi wurde ihm von der Frau drübergezogen, die darauf mehrmals schnell mit der Hand über die Feuchtfilmschicht auf und ab glitt, bis sie anscheinend das ankündigende Zittern merkte, während er immer noch auf derselben Stelle am Fußende der Liege stand, die Unterhose und Hose verknäult um die Füße herum und vor sich diese sorgfältig aufgebauschte Frisur“.

Und so geht es weiter, „bis es nach ein paar ungeschickten Bewegungen bereits kam“ – als ob eine Umkehrung des Selbstverlustes stattfände, steigert sich die Beobachtungsschärfe jetzt beinahe noch – „und in das Gummi schoß, das mit einer Papierserviette vom schnell erschlaffenden Glied wieder abgezogen wurde und in den emaillierten Behälter unter dem Waschbecken geworfen wurde“. [10]

Keineswegs muss dieser entfremdete Blick, der einen Zusammenhang mit anderen (alltäglichen) Problemen schafft und zugleich fast immer eine stetige Wiederholung solcher „Passagen“ verhindert, in realistisch gemeinter Literatur dem Kunden vorbehalten bleiben. Wer Prostitution als Beruf ausübt, dem wird die Wahrnehmung von Dingen außerhalb der Körper, dem wird die Konzentration auf anderes als das eigene Begehren gerade möglich, schließlich erfolgen seine Handlungen aus anderen Motiven als denen des Lustgewinns oder gar romantischer Liebe.

Pornographische Erzählungen (im Sinne Cynulcusʼ) können darum sehr leicht den Tatbestand der Pornographie (im Sinne der deutschen Rechtsprechung) vermeiden. Die Darstellung der Prostitution muss, selbst wenn sie den seriellen Charakter des sexuellen Gewerbes literarisch berücksichtigt, nicht ohne „künstlerisches Konzept“ auskommen. Dazu braucht man nicht einmal den Grad an philosophisch-psychologischer Exaltation (wie auktorial im Törless) oder Entfremdung (wie personal in Keiner weiß mehr) erreichen, sondern muss einfach in Rechnung stellen, dass der Vorgang in der Wiederholung dem emotional mäßig Beteiligten viel Raum zu Überlegungen aller Art gibt. In Clemens Meyers Roman Im Stein nutzt eine Prostituierte den Ablauf z.B. zu ausführlichen Reflexionen über Silvester, Steffi, Schweiz, Steuern etc. Hier der Anfang dieser Sequenz, die sich über acht Seiten erstreckt:

„Der Typ schraubt an meinen Brustwarzen rum. Und ich tue so, als würde mich das antörnen, sein Gefummel, dieses Teenie-Gekicher habe ich ganz gut drauf, dieses Film-Gekicher, ständig laufen Filme im Fernsehen, wo diese Ami-Girlies ganz genauso bescheuert kichern, kann man üben, kann man lernen, stehen die Gäste drauf, die meisten, in Japan bedeutet Kichern Masturbieren, hat mir mal jemand gesagt, und das stimmt sogar, ich habe im Internet geguckt und dort erstmal nichts gefunden und dann aber in der Stadtbücherei, da gab’s ein Buch über Geishas, diese japanischen Liebesdienerinnen, ich habe schon ewig nicht mehr masturbiert, vielleicht stimmt da was nicht mit mir?, aber mir geht’s ja ganz gut so weit, ich bin zufrieden, wenn man das so sagen kann, und ich stöhne und winde mich ein wenig unter ihm, damit er endlich zur Sache kommt. Ich könnte auch einfach so daliegen und die Lampe anblinzeln und warten, bis er mit der Schrauberei fertig ist. Aber ich habe ihn schon paarmal unten gesehen, ist ein Stammgast, da hat er mit der Kohle rumgeschmissen, ist meistens mit der Steffi hoch, aber die ist nicht mehr da jetzt, arbeitet jetzt in ʻner kleinen Wohnung, und ich beneide sie um die Ruhe, die sie da hin und wieder hat. Immer das Sektgetrinke unten an der Bar, und immer dieselbe Marke“[11] usf.

Im Gegensatz dazu endlich Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt, der Roman, der nach Auskunft des Bundesverfassungsgerichts zur Pornographie zu rechnen ist (und auch nach Cynulcusʼ Kriterium, denn die Erzählung stammt – man möchte sagen: selbstverständlich – nicht von einer Prostituierten, sondern von einem männlichen Autor, aller Wahrscheinlichkeit nach von Felix Salten, bekannt als Verfasser von Bambi):

„Sie öffnete mein Leibchen, schob mir das Hemd so weit herunter, daß meine kleinen Brustwarzen bloß lagen, feuchtete ihre Fingerspitzen an und spielte leise, wie mit einer leckenden Zunge daran herum. Immer schneller, immer schneller, und bald traten meine Brustwarzen, die ganz flach gewesen waren, wie die kleinen Linsen so groß hervor und wurden ganz hart. Dazu vollführte Alois jetzt seine drehenden Bewegungen, die mir die Fut ausweiteten, die mich aber verrückt machten vor Kitzel. Unter dieser Behandlung schwand mir alle Scheu, ich kreischte leise und rief: ‚Ach, mir kommt’s … mir kommt’s …!‘ und warf mich mit meinem Popo jeder Bewegung, die Alois ausführte, entgegen.“[12]

Nun aber die Pointe: Diese Sätze wie auch die zahlreichen anderen Sex-Stellen des Romans sind zwar pornographisch im Sinne der Rechtsprechung, nicht aber unbedingt im Sinne Cynulcusʼ, denn sie zeigen keineswegs die Aktivitäten einer „Dirne“, wie der Titel ankündigt, sondern ihre sexuelle Vorgeschichte (ab ihrem fünften Lebensjahr, ab dem dreizehnten u.a. mit ihrem Vater). Von ihrer gewerbsmäßigen Prostitution wird lediglich der erste Tag erzählt, beschlossen von der knappen Aussage: „Ich war nun käuflich, ein Ding für jedermann.“[13]

Wurden die ganzen Jahre der Kindheitserzählung gebraucht, um mit der benannten Freude an der (oft gewaltförmigen, von Erwachsenen ihr aufgeherrschten) Sexualität den Weg in die Prostitution zu begründen und zu legitimieren, schlägt zum Ende die Stimmung jäh um. Als hätte es die vielen Seiten mit ihrer Aufreihung an „Passagen“ nicht gegeben, wird auf einmal von der Ich-Erzählerin der Nonsens solcher Serie behauptet. Der letzte Absatz der „Lebensgeschichte“ lautet:

„Wenn man bedenkt, daß das Jahr 365 Tage hat und wenn man nur, gering gerechnet, den Tag mit drei Männern einschätzt, so macht das an elfhundert Männer im Jahr, macht in drei Jahrzehnten wohl dreiunddreißigtausend Männer. Es ist eine Armee. Und man wird es weder anraten noch wünschen, daß ich von jedem dieser dreiunddreißigtausend Schweife, die mich im Laufe der Zeit bewedelt haben, einzeln Rechenschaft ablege. Es ist auch gar nicht notwendig, daß ich es tue. Weder für mich, die ich diese Blätter nur aufschreibe, um mein Leben in seinen Hauptzügen an mir vorübergleiten zu lassen, noch für diejenigen, die in diesen Aufzeichnungen vielleicht nach meinem Tode blättern werden. Denn im ganzen ist die Liebe unsinnig. Das Weib gleicht so einer alten Rohrpfeife, die auch nur ein paar Löcher hat und auf der man eben auch nur ein paar Töne spielen kann. Die Männer tun alle dasselbe. Sie liegen oben, wir liegen unten. Sie stoßen und wir werden gestoßen. Das ist der ganze Unterschied.“[14]

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner langen Urteilsbegründung nicht ausgeführt, ob dieser ans Ende gestellte Kommentar ein „künstlerisches Konzept“ darstellt, das die „gefährdende[n] Schilderungen“ davor in hinreichendem Maße ‚einbindet‘ oder ob es ihn als Vorwand, als Ausflucht, als fadenscheiniges Deckmäntelchen ansieht, war doch in den Szenen zuvor bei den Protagonisten vom ‚Unsinn der Liebe‘ und ihrer Eintönigkeit nichts zu spüren. Wie dem auch sei, eine Konsequenz kann man dem Roman nicht absprechen: Mit dem Eintritt ins Berufsleben endet die (sexuelle) Geschichte tatsächlich, der Roman schildert über Tag Eins hinaus auch keine außergewöhnlichen oder beispielhaften Tage mehr – Prostitution beendet hier Pornographie, schließt sie aus (die Pornographie im Sinne der Rechtsprechung, aber auch die im Sinne Cynulcusʼ).

In der Gegenwart, in der kaum noch Porno-Graphie (Geschriebenes) Leserwünsche befriedigt, sondern Porno-Videos via Internet dominieren, ist das freilich nicht mehr von größerer Bedeutung. Auf Portalen wie YouPorn sind zwar sicherlich einige oder viele Akteure zu sehen, die dem Beruf der Prostitution nachgehen, kaum aber Rollen, die unter diesem Titel firmieren. Hier gibt es fast nur noch „angehende Schaupielerinnen“, „Mütter“, „Schwiegertöchter“, „Freundinnen“ etc., die das, was sie dann tun werden, vorzugsweise „zum ersten Mal“ machen. Auch ein ‚Konzept‘ zur Vermeidung von ‚allzu losen Passagen‘: kein zweites Mal zulassen, im Clip nur eine ‚Passage‘ zeigen. Streng genommen, existiert darum fast keine Pornographie mehr – weder handelt es sich bei den Web-Kurzfilmen um Pornographie im Sinne Cynulcusʼ (es fehlen die Prostituierten) noch der Rechtsprechung (es fehlt der Plural, es fehlen die „Passagen“).

 

Anmerkungen

[1] Athenaeus: The Deipnosophists. Übersetzung von C.D. Yonge (1854). 13.567, in: http://www.attalus.org/old/athenaeus13a.html (Stand: 03.12.2014).

[2] Athenaeus: The Deipnosophists. 13.569.

[3] Ausführlich dazu: Hecken, Thomas: Gestalten des Eros. Die schöne Literatur und der sexuelle Akt. Opladen 1997.

[4] McGinn, Thomas A.J.: Prostitution, Sexuality, and the Law in Ancient Rome. Oxford u.a. 1988, S. 18.

[5] Bohrer, Karl Heinz: Granatsplitter. Erzählung einer Jugend. München 2012, S. 253f.

[6] Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törless [1906]. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 29ff.

[7] Musil: Törless. S. 30.

[8] Musil: Törless. S. 32f.

[9] Weitere Nachweise: Hecken: Eros. S. 202.

[10] Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr [1968]. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 100f.

[11] Meyer, Clemens: Im Stein. Frankfurt am Main 2013, S. 120.

[12] Anonymus: Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt [1906]. Reinbek bei Hamburg 1985, S. 46.

[13] Anonymus: Mutzenbacher. S. 160.

[14].Anonymus: Mutzenbacher. S. 161.

 

Literatur

Anonymus: Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt [1906]. Reinbek bei Hamburg 1985.

Athenaeus: The Deipnosophists. Übersetzung von C.D. Yonge (1854), in: http://www.attalus.org/old/athenaeus13a.html (Stand: 15.1o.2016).

Bohrer, Karl Heinz: Granatsplitter. Erzählung einer Jugend. München 2012.

Brinkmann, Rolf Dieter: Keiner weiß mehr [1968]. Reinbek bei Hamburg 1970.

Hecken, Thomas: Gestalten des Eros. Die schöne Literatur und der sexuelle Akt. Opladen 1997.

McGinn, Thomas A.J.: Prostitution, Sexuality, and the Law in Ancient Rome. Oxford u.a. 1988.

Meyer, Clemens: Im Stein. Frankfurt am Main 2013.

Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törless [1906]. Reinbek bei Hamburg 1978.

 

Weitere Hinweise zum Sammelband »Körper kaufen. Prostitution in Literatur und Medien«, in dem der Aufsatz zuerst erschienen ist, hier.