Medien der produktiven Unbestimmtheit: Telegrams Sticker
In dem vorherigen Artikel dieser Serie ging es um die Frage, was soziale Medien seien. Die Antwort verweigerte der Artikel mit dem Hinweis, dass soziale Medien in einem kooperativen Prozess entstehen, oder mit den Worten von Schüttpelz/Gießmann: „[…] kooperativ erarbeitete Bedingungen der Kooperation“ (2015, 10) sind. Was als soziales Medium fungiert, ist daher etwas, das in der Praxis erarbeitet werden muss, und was in der Forschung deshalb jeweils aufs Neue herauszustellen ist.
So wurde insbesondere auch darauf hingewiesen, dass neuere, im gegenwartskulturellen Alltag zu sozialen Medien werdende Phänomene wie Twitters Fav bzw. Like sich nicht nur dadurch auszeichnen, dass ihre Geschichte eine der technischen Stabilisierung ist, sondern dass ihre Praxis sich auch durch eine Instabilität auszeichnet, durch die ihre Bedeutungsermittlung zu einem situativen, kooperativen Prozess wird (die sich ihrerseits natürlich wieder stabilisieren kann).
Stärke des Likes ist es darum nicht so sehr, eine Bedeutung zu übermitteln, sondern entweder einen Ausgangspunkt zu bieten, von dem aus er leicht zum kooperativ ‚erwirtschafteten‘ sozialen Medium werden kann, das Bedeutungsaushandlung erlaubt oder – und das ist deutlich häufiger der Fall – mit dessen Hilfe Bedeutung in ganz besonderer Weise vage gehalten und so für die Situationsteilnehmerinnen und -teilnehmer höchst unterschiedlich bleiben kann; ganz ähnlich wie bei der von Star/Griesemer beobachteten Kooperation ohne Konsens (1989).
Kurz: (1.) Dass ein Soziales Medium entsteht, ist eine praktische, kooperative Leistung, die nicht auf technisch-symbolischer Ebene endgültig entschieden wird, und (2.) besteht diese Leistung nicht unbedingt in einer ‚Übertragung‘ von Bedeutung, Sinn etc., sondern gerade bei neuesten sozialen Medien wie dem Like darin, genau dies vage zu halten.
Emojis und Sticker
Emojis, auch darauf wurde hingewiesen, erscheinen als ähnlich prägnant wie der Like: Während die meisten älteren Smiley-Emojis etwa noch meist konkrete Emotionen wie Lachen verbildlichen, gehen die neueren unter ihnen – die Tierchen, Gemüsesorten oder verschiedenste Automobile – mit einer Semantik einher, bei der es geradezu ausgeschlossen ist, dass sie Mittel zum Zweck der Informationsübermittlung, Konsenserzeugung etc. sein sollen: Sie erscheinen eher als Ding denn als Medium, aber eben als ein solches Ding, das ohne Weiteres zum Medium werden kann.
Mit einer Übertragung von Karl H. Hörnings Arbeiten über den Zusammenhang von Technik und sozialer Ordnung in unseren medienwissenschaftlichen Gegenstandsbereich könnte man sagen: Sie stabilisieren nicht unbedingt Bedeutung, sondern fungieren als „Produzent[en] und Provokateur[e] von Unbestimmtheiten“ (Hörning 2005, 308).
Vor diesem Hintergrund befasst sich der vorliegende Text mit Stickern der Messenger-App Telegram, die auf den ersten Blick eine erweiterte Form von Emojis sind. In Abb. 1 sieht man etwa das Sticker-Set „Just Zoo it“ in seiner Übersicht sowie das bereits verschickte Hundegesicht, das dem Emoji „Dog Face“ (Unicode U+1F436) entspricht. D.h., jeder Sticker ist dem Unicode eines Emojis zugeordnet. Während Emojis aber nur ‚top down‘ in großen Firmenzentralen entwickelt werden können, kann Sticker prinzipiell jeder produzieren. Daraus hat sich ein ganz eigenes Phänomen entwickelt, das mehr geworden ist als Emojis mit anderen Physiognomien.
Unsere These ist, dass dieses für neuere soziale Medien typische Charakteristikum, eben nicht so sehr der Übertragung (etwa von Emotionen), sondern vielmehr der Erzeugung produktiver Unbestimmtheiten zu dienen, bei Stickern noch deutlicher hervortritt als bei Emojis. Daher handelt es sich bei Stickern nicht bloß um Emojis mit anderer Gestalt, sondern um Medien ganz verschiedener und spezifischer, von den Emojis größtenteils unabhängiger Praktiken, von denen wir hier einige, aus unserer Sicht zentrale, vorstellen.
Wenn Sun Sun Lim (2015) in einem der wenigen bislang veröffentlichten Artikel zu dem Thema schreibt: „Users can strategically and dynamically choose the best means by which to express their emotions, opinions, and intentions to attain communicative fluidity“, ist damit also nur eine unter vielen Praktiken adressiert, und zwar die nächstliegende, die, wenn man sie als einzige beschreibt, an der Sache vorbei geht.
Es geht nämlich nicht nur um viel mehr, sondern es geht auch darum, dass soziale Medien grundsätzlich anders funktionieren, als Lim es beschreibt: Was sie beschreibt, ist gerade das am wenigsten Charakteristische an Stickern. Sie denkt sie eher als eine Art Erweiterung von Sprache, einem viel erfolgreicheren sozialen Medium, und zwar einer eher naiven Vorstellung davon (denn natürlich gibt es auch Sprachpraktiken, die der Erzeugung produktiver Unbestimmtheit dienen).
Nun können wir im Rahmen dieses Aufsatzes weder darstellen noch belegen, welche Funktionen Sticker in konkreten Interaktionen übernehmen. Stattdessen möchten wir im Folgenden darlegen, wie man allein an den Artefakten selbst (damit befasst sich das nächste Unterkapitel) und ihrer Produktion (die ist Thema des darauffolgenden) sehen kann, dass bei Stickern sehr vieles anderes im Vordergrund steht, als die interaktive Vermittlung von Emotionen.
Dabei soll demonstriert werden, dass es sich um ein Phänomen handelt, das zwar technisch auf den Unicode-Standards der Emojis basiert, sich aber praktisch davon losgelöst hat. Das heißt, selbst wenn man bei Emojis noch die ‚Übertragung‘ von Emotionen als zentral erachtet, so ist dies spätestens bei den Stickern nur noch eine Praktik unter vielen anderen, die weitaus charakteristischer für das Phänomen sind. Dies ist vor allem dann entscheidend, wenn man sich fragt, welche Formen von Sozialität sich mit solchen Technologien entwickeln.
Kulturelle Selbst- und Fremdbeschreibung
Im Chat funktionieren Sticker auf den ersten Blick ganz ähnlich wie Emojis: Es sind Emojis zugeordnete Bilder, die man in einen Chat einfügen kann. Während Emojis allerdings als Teil des Textes abgesendet werden können, bleibt der Sticker immer singulär, d.h. von geschriebener Sprache und auch von Emojis oder anderen Stickern losgelöst: Von lachenden Smileys kann man z.B. mehrere in einer Reihe verschicken, der Sticker steht aber immer einzeln. Er fügt sich also nicht einfach in die sprachliche Kommunikation ein.
In unseren ersten Begegnungen mit Stickern haben wir deshalb ganz unterschiedliche Empfindungen gehabt: Der einen erschien es als alberne Störung der Kommunikation, dem anderen als willkommene Praktik der Kommunikation mit Telegram-Novizen, mit denen man kein Gesprächsthema hat: man muss nicht über etwas chatten, sondern kann einfach Sticker zeigen.
Letzteres hängt auch damit zusammen, dass man zu Beginn nur eine sehr schmale Ausstattung mit Sticker-Sets hat, d.h. man bekommt ‚bessere‘ nur durch Tausch bzw. als Geschenke und kann so neue User zunächst einmal mit einem Set besonders passender, lustiger, wertiger, abstoßender etc. Stickersets ausrüsten.
In besonderer Weise erlauben Sticker also auch ein Herausspringen aus dem ‚kommunikativen Fluss‘, sie fungieren mehr als Ding denn als Medium, sie sind ein Objekt, das nicht unbedingt kommunikativen Anschluss herstellt, sondern einen neuen Einsatzpunkt. Dies muss nicht in einer Störung münden, sondern man kann sie zeigen, zum Thema machen.
Abb. 1: Das Stickerset „Just zoo it!“, links Screenshot aus Telegrams App, rechts die restlichen Sticker des Sets als Screenhot aus Telegrams Desktop-Version.
Ein in dieser Hinsicht besonders signifikantes Stickerset ist „Just zoo it“ in Abb. 1. Der Hund oben links hat nämlich als sogenanntes Meme einige Berühmtheit erlangt. Der Shiba mit dem Namen Kabosu gehörte der japanischen Kindergärtnerin Atsuko Sato, die ihn in dieser Pose im Jahre 2010 fotografiert hat. Sie stellte das Bild auf ihren Blog; zwischen August und November 2013 wurde das Meme populär, es begann mit einem tumblr-Blog namens Shiba Confessions und wurde dann auf den Image-Boards 4chan und Reddit gepostet. Schon im November nannte das US-amerikansiche MTV den so als Doge berühmt gewordenen Shiba an zwölfter Stelle in der Liste 50 Things Pop Culture Had Us Giving Thanks For This Year.
Die verschiedenen Praktiken dieses Memes können auf Know Your Meme nachgelesen werden, sowie in dem entsprechenden Wikipedia-Eintrag. Zunächst wurden dem Doge innere Monologe zugeschrieben, die bunt und in Comic Sans um seinen Kopf kreisten (Abb. 2), später dann montierte man menschliche Gesichter hinein – bekannt ist der Doge mit Nicholas Cages Gesicht.
Abb. 2: Das laut Wikipedia erste Doge-Bild.
Aus solchen Meme-Tieren besteht der ganze Sticker-Satz. Neben dem Doge finden sich etwa Grumpy Cat, Relaxing Frog, Koala can’t believe it und so weiter. Die Sticker dieses Sticker-Satzes verweisen auf eine konkrete Kulturgeschichte, von der man Kennerschaft haben kann: Man schickt keinen Hund, sondern den Doge; d.h. man verschickt eben auch sein Wissen um diese kulturelle Tradition und verhandelt so Grenzen soziokultureller Zugehörigkeit.
Mitunter kann man hier davon ausgehen, dass dies eine sehr konkrete ‚Übertragung‘ einer ganz bestimmten Komik ist (dass man etwa nicht bloß mürrisch ist, sondern grumpy wie Grumpy Cat). Gleichzeitig ist das Sticker-Set aber auch eine Hall of Fame berühmter Meme-Tiere, es fungiert auch als eine Art Museum für Bilder, Texte und Praktiken, die internetkulturelle ‚Geschichte‘ sind.
Neben diesen In- und Exklusionspraktiken, Auszeichnung von Kennerschaft und musealer Speicherfunktion spielt vor allem die Zirkulationsform der Sticker eine Rolle; man kommt nämlich, wie gesagt, gar nicht so leicht an sie heran. In erster Linie bekommt man solche Stickersätze, wenn sie jemand mit einem teilt: Postet jemand einen Sticker eines Satzes, so kann man darauf klicken und sich den ganzen Satz abspeichern.
Mit fortschreitender Nutzungspraxis wächst also die Stickersammlung, die man vorzeigen, teilen, tauschen oder verschenken kann. Welche Stickersets man hat, hängt also auch davon ab, welche Freunde (oder andere Kontakte) man hat, bzw. mit welchen Freunden man auf Telegram schreibt.
Von homosexuellen Freunden haben wir eine Reihe von Stickersets bekommen, wie etwa Jaime (Abb. 3 links), eine Sammlung von Comicfiguren, in deren engen Unterhosen sich der Penis abzeichnet oder die mehrere Variationen männlicher Pärchen (z.B. mit Kind oder bester Freundin) beinhalten. Wie klischiert dies auch immer sein mag: Hier zeigt sich, dass Sticker von sozialen Minderheiten angeeignet und für bestimmte Praktiken angepasst werden können.
Gleichzeitig ist dies aber auch eine Beschreibung einer ganz bestimmten Form männlicher Homosexualität; als Selbstbeschreibung der Verwender und als Klischee für Nicht-Homosexuelle. Eine andere Form schwuler Selbstbeschreibung ist das Sticker-Set „Harry“ (Abb. 3 rechts): Verdichtet Jaime das Klischee des Boys, niedlich, dünn, jung und bartlos, karikiert Harry das Schwulen-Klischee des gefühlvollen Holzfäller-Typen, der muskulös und rau aussieht, sich aber sensibel und mitunter unsicher verhält.
Abb. 3: Schwule Stickersets: Links „Jaime“, rechts „Harry“. Screenshots aus Telegrams Desktop-Version.
Hier wird also wieder eine Mehrfachfunktion der Sticker sichtbar. So lassen sich mit Jaime etwa mehrere Formen männlicher Erektion mitteilen, so dass dieses Set die Überleitung eines Gesprächs zu sexueller Intimität erleichtert – und zwar im Modus des Jungenhaft-Putzigen und nicht des Männlich-Übergriffigen.
Deshalb gibt es bei Harry auch keine Penis- oder Masturbations-Sticker, sondern dort liegt das spezifische Ausdrucks-Repertoire im Auflösen des scheinbaren Widerspruchs zwischen holzfällerartiger Grobheit und schwuler Sensibilität. Die beiden Sets bieten insofern einerseits Anlässe für bestimmte Themen schwuler Kommunikation, fungieren aber auch als Idealtypen verschiedener Formen schwuler Selbstdarstellung.
Sticker sind natürlich nicht nur angeeignete Symbole der Selbstbeschreibung – neben netzkultureller und schwuler Selbstbeschreibung lassen sich viele andere finden –, sondern auch Ergebnisse von Praktiken kultureller Fremdbeschreibung. Von einer Deutschkurdin haben wir zum Beispiel das Stickerset „Kartoffelkinder“ erhalten (Abb. 4).
Abb. 4: Das Stickerset „Kartoffelkinder“. Screenshot aus Telegrams Desktop-Version.
Unter diesen „Kartoffelkindern“ finden sich etwa die Politiker Sigmar Gabriel (als der dicke, wohlstandsgesättige Deutsche?), Anton Hofreiter (als der alternative Sozialarbeitertyp mit besonders nicht-türkischer Frisur?), Norbert Hofer (als österreichisches Kartoffelkind und typischer Fremdenfeind?), aber auch der deutlich weniger bekannte Journalist Alexander Nabert, der auf seiner Website mit den Worten begrüßt „Hey. Ich bin Alexander Nabert und ich arbeite als Journalist in Berlin“ (er ist also der Mitte-Hipster?) oder ein Neonazi, dem beim Flagge-Hochhalten die Fettwampe unter dem T-Shirt hervorrutscht.
Wir sehen hier also – betrachtet man es aus Sicht der deutschen Mehrheitsbevölkerung – ein Artefakt, dessen Verwandte aus Kunstgeschichte und Ethnologie wissenschaftlich deutlich besser erforscht sind, als Telegram-Sticker: Der Ethnozentrismus des Fremden, der zum ethnografischen Datum erster Güte wird, wie Fritz Kramer feststellt: „Europäer erkennen sich in den Bildwerken, in denen Stammeskulturen sie dargstellt haben, wie in einer satirischen Verzerrung, die gerade die Züge hervorhebt, die ihnen durch Eitelkeit verstellt sind“ (Kramer 1978, 21f) – wobei es hier natürlich nicht um die Differenz zwischen Europäern und Stammeskulturen geht, sondern um die zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit in Deutschland und Österreich.
An einem in jüngerer Vergangenheit diskutierten Fall aus Ethnologie und Kunstgeschichte lässt sich gut beobachten, was Fritz Kramer beschreibt: eine Ausstellung, die Julius Lips für das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum 1931 geplant hat, dessen Direktor er damals war. Sie zeigte etwa afrikanische Darstellungen von Kolonialbeamten und eine ganze Reihe anderer Gegenstände, die unter dem Titel „The Savage Hits Back“ die Fremdheitserfahrung kolonialisierter Völker mit Kolonialisten künstlerisch verarbeiten.
Die Kunsthistorikerin und Islamwissenschaftlerin Anna Brus promoviert zu diesem Thema an der Universität Siegen und hat kürzlich eine Tagung über Lips’ nicht ausgestellte Sammlung im Rautenstrauch-Joest-Museum organisiert. An diesen Artefakten kann genau das beobachten, was Fritz Kramer oben beschreibt: Wenn man wissen will, was es für afrikanische Stammeskulturen bedeutet, die Europäer zu entdecken, geben diese Dokumente afrikanischen Ethnozentrismus darüber Auskunft, wie dies explizite Beschreibungen kaum leisten können. Dabei spiegelt sich nicht nur das ‚Subjekt‘ des Afrikaners im ‚Objekt‘ des Europäers, sondern auch das ‚Subjekt‘ des Europäers spiegelt sich im Artefakt.
Nun sind die Telegram-Sticker natürlich nicht derart bildnerisch ausgereift, wie die Figuren der Lips-Ausstellung, aber das Grundprinzip wiederholt sich hier. Dies hängt mit dem Grundverfahren zusammen, das man praktiziert, wenn man Sticker erstellt: Da die Telegram-Sticker stets eine ganze Palette verlangen, motiviert sie solche Dokumente des (satirischen) Ethnozentrismus im Speziellen sowie überhaupt Karikaturen im Allgemeinen: Man produziert nicht einzelne Bilder, sondern stets verschiedenen Gesichter eines Ganzen.
So gibt es etliche Stickersets, die Merkel, Trump, Erdogan oder Putin mit einem Satz von Gesichtsausdrücken bestücken. Sticker stellen so in der Regel Erscheinungsformen einer Sache dar, d.h. sie tendieren zur Beschreibungen einer Ganzheitlichkeit. Das System der Gesichtausdrücke Donald Trumps, die Palette der (aus einer bestimmten Perspektive) wirklich wichtigen Meme-Tiere oder die Typen von Deutschen und Österreichern, die es aus Sicht der Produzentinnen und Produzenten des Kartoffelkinder-Sets gibt, werden so als Ganze adressiert und können so zu wissenschaftlich aufschlussreichen Daten werden.
Produktion und Distribution
Diese Artefakte sind Ergebnisse ihrer Produktions- und Distributionspraktiken. Telegram selbst schreibt auf seinem Blog am 2. Januar 2015: „We’ve always felt that stickers in messaging apps sucked, because they typically provided a limited and paid experience in a walled-garden environment“. Genau diese zentralistische Begrenzung sollen Telegrams Sticker auflösen, indem man sie als Endnutzerin selbst gestalten kann.
Dies funktioniert über den offiziellen Stickers-Bot von Telegram (siehe Abb. 5): Man nennt einen Titel, fügt alle Bilder ein, die dem Set angehören sollen, als Portable Network Graphic (PNG) ein und verknüpft jedes Bild mit einem Emoji. Dabei kann jedes Bild jedem Emoji unbegrenzt oft verknüpft werden (so könnte man etwa ein Katzen-Set komplett mit demselben Katzen-Emoji verknüpfen). Dann erstellt man eine URL, für die wiederum ein Name zu vergeben ist. Dass die meisten Sticker nicht rechteckig, sondern freigestellt sind, ist nicht unbedingt nötig, aber man tut dies in aller Regel (mit Photoshop oder Gimp z.B.), weil der Bot dies empfiehlt.
Abb. 5: Der Sticker-Bot. Screenshot aus Telegrams Desktop-App.
Anders als bei Facebook zum Beispiel oder der Messenger-App LINE gibt es keine Sticker-Shops des Anbieters. Die Verteilung läuft darüber, dass es ein paar per Default verfügbare Sets gibt, sowie einige wenige ‚angesagte‘ Stickersets, die nicht sehr leicht in den Telegram-Apps zu finden sind; der Rest muss prinzipiell ertauscht bzw. verschenkt werden.
Die Zirkulationswahrscheinlichkeit eines Stickersets scheint also dadurch erhöht zu werden, dass man sie so baut, dass sie sich besonders gut zum Schenken und Tauschen eignen, und nicht dadurch, dass sie auf einer zentralen Plattform – unter Wahrung der moralischen Standards der Plattformbetreiber – hoch gerankt werden. Welche Effekte dieses Mediensystem der persönlichen Weitergabe und auf die reale Verteilung der Stickersets hat, müsste erst noch erforscht werden. Haben wir hier also eine Popularisierungspraxis, die nichts mit den sonst üblichen zentralen Orten wie Boards oder Charts zu tun hat?
Nicht ganz. Es gibt etwa einen von dem Drittanbieter S4 Dynamics betriebenen öffentlichen Channel, den Stickers Channel, in dem Stickersets gepostet und bewertet werden (siehe Abb. 6). Bei den meisten Stickern wird ein Herz als Bewertungssymbol genutzt, das wie Twitters oder Facebooks Like-Button einfach die Häufigkeit zählt.
Manche subvertieren diese Bewertungsform aber, so wie der untere in Abbildung 6: ein Set namens „Clinton vs. Trump“. Statt des Herzsymbols kann man dieses Set mit drei Emojis bewerten: Dem „Unamused Face“ (Unicode U+1F612), dem „Pouting Face“ (U+1F621) sowie dem „Frog Face“ (U+1F438). Man bietet also zwei Möglichkeiten der Negativbewertung an und einen Frosch, d.h. man entzieht sich (beim kontroversen Thema Clinton vs. Trump) einer Bewertung, deren Ergebnisse ernst zu nehmen wären.
Was mit diesen Bewertungen geschieht, ist unklar; wir haben keine Anschlussverwendung der Bewertungsdaten gefunden, kein Ranking und auch kein Best-Of der hier am meisten positiv bewerteten Sticker. Da die Nutzerinnen und Nutzer anonym bleiben, können sie auch nicht selbst Prestigesymbole ansammeln, wie dies etwa bei Twitter mit der Follower-Zahl geht: Ein ‚guter Twitterer‘ hat viele Follower, ein ‚guter Stickerbauer‘ hat zunächst einmal gar nichts.
Überhaupt gibt es nur eine Möglichkeit, den Stickern überhaupt eine Äußerung hinzuzufügen: Wenn man den Namen des Sets vergibt. Maxim Malyshev etwa, Ersteller des Sets „Putin (@malyshev)“, nimmt seinen Twitter-Account im Titel auf und versucht so, zumindest ein wenig seines Telegram-Prestiges zu speichern. Eine andere Technik, Autorschafts-Meriten einzusammeln, ist, einen Sticker ins Set einzubauen, der den Nutzernamen und oft auch ein Logo des Autors enthält.
Abb. 6: Der Stickers Channel, in dem man seine Sets vorzeigen und bewerten lassen kann. Screenshot aus Telegrams Desktop-App.
Es gibt weitere Drittanbieter, die für die Sticker-Praktiken prägend sind; Telegram ähnelt insofern dem frühen Twitter, dessen Medien-Praktiken – insbesondere die das Favens bzw. Likens (Paßmann/Gerlitz 2014) und Retweetens (Paßmann 2016) – ebenfalls primär durch Drittanbieter geprägt wurden.
Hervorzuheben wäre hier vor allem noch der RateStickerBot (Abb. 7). Hier kann man Sets auf einer Skala von 1 bis 5 Sternen bewerten. Er startet mit einem Set, bewertet man es, folgt das nächste (natürlich kann man die Sets auch speichern). Tätigt man irgendeine andere Eingabe (außer den Sternen), erscheint der so noch nicht bewertete Stickersatz noch einmal. Auch diese Bewertungsdaten werden in keine öffentliche Statistik überführt, genau genommen wird hier also noch weniger aufgerechnet als im Stickers Channel. Diese Channel sind also eher darauf angelegt, neue Sticker-Sets zu verteilen, als sie zu bewerten.[1]
Für Sticker-Sets gibt es dann wieder Webseiten von Drittanbietern, von denen man – manchmal finanziert durch Werbung – etliche herunterladen kann.[2] Zudem gibt es auch Unterseiten auf Reddit, die Übersichten über Stickersets und deren Verfügbarkeit erstellen.[3] Dies sind aber Möglichkeiten, zu denen einen die standardmäßige Nutzung der App Telegram nicht motiviert, sondern dies findet man erst heraus, wenn man danach recherchiert.
Abb. 7: Der RateStickerBot, mit dem man seine Sets in fünf Stufen bewerten kann. Screenshot aus Telegrams Desktop-App.
Fazit
Telegrams Sticker werden in einer Vielzahl von Praktiken zu ganz unterschiedlichen sozialen Medien: Mal dienen sie der Selbstbeschreibung sowohl von Minderheiten als auch von populärer Kultur, mal der Fremdbeschreibung der Mehrheitsgesellschaft durch ethnische Minderheiten. In anderen Hinsichten sind sie Prestige- und Tauschobjekte, sie sind aber auch Basis von Geschäftsmodellen werbefinanzierter Websites.
An der Bedeutungsaushandlung dieser Medien sind also eine ganze Reihe von Akteuren beteiligt: ‚kleine‘ Endnutzer, die ‚große‘ Plattform Telegram, aber insbesondere auch ‚mittelgroße‘, von Telegram teilweise abhängige Drittanbieter, die man auch als „Satellitenplattformen“ (Paßmann/Gerlitz 2014) beschreiben könnte.
Nun konnten wir zwar nicht nachzeichnen, wie Sticker in konkreten Chat-Interaktionen verwendet werden. Dass die Präzisierung emotionalen Ausdrucks die wichtigste Sticker-Praktik ist, scheint allerdings dennoch ausgeschlossen: Es wird kaum darum gehen, dass man die Art des eigenen Lachens dadurch ‚besser‘ ausdrückt, dass man es mit dem Donald Trumps, Wladimir Putins oder Angela Merkels präzisieren kann. Sondern hier kommen sehr diverse, teils gegensätzliche Interessen, Praktiken und Darstellungskonventionen zusammen.
Ganz entscheidend erscheint dabei die Möglichkeit, die Sets selbst zu zeigen, sei es als Gesprächsanlass, als Ablenkung oder zur Stiftung von Gemeinsamkeit (im Sinne von: ‚wir verstehen beide den Humor des Doge‘). Die Erzeugung von Bestimmtheit und sozial produktiver Unbestimmtheit scheinen sich dabei ständig zu kreuzen. Vergleicht man die vielen verschiedenen Sticker-Paletten aber mit den vergleichsweise wenigen Emojis, so wird klar: Wenn schon Emojis auch dieser Durchkreuzung von Signalen der Bestimmtheit und Unbestimmtheit gedient haben, so scheint das Spiel zwischen diesen beiden im Falle der Sticker noch unbestimmter zu sein. Es gibt zwar Sticker, die in einer konkreten Interaktion sehr viel bestimmter werden können als Emojis, aber gerade das zeigt, wie unbestimmt das Phänomen als Ganzes ist.
Anmerkungen
[1] Im Stickers Bot kann zudem die Nutzung der selbst erstellten Sticker nachvollzogen werden: Mit dem Befehl „/stats“zeigt der Bot an, bei wie vielen Nutzern der Sticker im Chat aufgetaucht ist (dazu müssen die Nutzer das Set nicht speichern oder selbst versenden). Solche „stats“ erhält man auch als Ranking aller selbst erstellten Sticker. Diese Statistiken sind aber nicht öffentlich und daher von solchen wie Twitters Follower-Zahl oder YouTubes Playcount grundsätzlich zu unterscheiden.
[2] So z.B. http://telegramhub.net oder https://www.stickerstelegram.com
[3] https://www.reddit.com/r/TelegramStickersShare/
Literatur
Hörning, Karl H.: „Lob der Praxis. Praktisches Wissen im Spannungsfeld zwischen technischen und sozialen Uneindeutigkeiten“, in: Gerhard Gamm/Andreas Hetzel (Hg.), Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt. Bielefeld 2005: Transcript, S. 297-310. Online verfügbar unter http://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-351-8/unbestimmtheitssignaturen-der-technik [19.12.2016].
Kramer, Fritz: „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, in: Ders./Christian Sigrist (Hg.), Gesellschaften ohne Staat. Bd. 1: Gleichheit und Gegenseitigkeit, Frankfurt a.M.: Syndikat 1978, S. 9-27.
Lim, Sun Sun: „On Stickers and Communicative Fluidity in Social Media“, in: Social Media + Society 1, 1 (2015), S. 1-3. Online verfügbar unter http://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/2056305115578137 [19.12.2016].
Paßmann, Johannes/Carolin Gerlitz: „‚Good‘ platform-political reasons for ‚bad‘ platform-data. Zur sozio-technischen Geschichte der Plattformaktivitäten Fav, Retweet und Like“, in: Mediale Kontrolle unter Beobachtung 3, 1 (2014), S. 1-40, Sonderausgabe Datenkritik, hg. v. Sebastian Gießmann und Markus Burkhardt. Leicht abgeändert republiziert 2016 auf pop-zeitschrift.de.
Paßmann, Johannes: „Retweet buttons before 2009: Systems and practices“. Paper präsentiert auf AoIR 2016: The 17th Annual Meeting of the Association of Internet Researchers, Panel: „App Studies: Platform Rules and Methodological Challenges“, 5.-8. Oktober 2016, Berlin.
Schüttpelz, Erhard/Sebastian Gießmann: Medien der Kooperation. Überlegungen zum Forschungsstand, in: Navigationen 15, 1 (2015), S. 7-55. Preprint online verfügbar unter https://www.mediacoop.uni-siegen.de/wp-content/uploads/2016/06/schuettpelzgiessmann_kooperation.pdf [17. Dezember 2016].
Star, Susan L./James R. Griesemer: Institutional Ecology, „Translations“ and Boundary Objects. Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, in: Social Studies of Science 19, 3 (1989), S. 387-420. Online verfügbar unter http://www.icesi.edu.co/blogs/zoogestion/files/2014/10/StarGriesemer-BoundaryObjects-SSS.pdf [17. Dezember 2016].