Pop-Begriff und Pop-Theorie – der deutschsprachige Beginn
Zum Abschluss unserer kleinen einjährigen Reihe mit Fundstücken aus der Pop-Geschichte etwas zur deutschsprachigen Semantik von ‚Pop‘.
Heute hat es ‚Pop‘ längst geschafft, das ‚Volk‘ vollkommen vergessen zu machen, selbst wer ‚populär‘ sagt, hört das ‚Volk‘ darin kaum einmal mehr mit.
In den 1950er Jahren war das noch anders. Selbst die unmittelbare nationalsozialistische Vergangenheit führte nicht dazu, sich von der ‚Volks‘-Rede zu verabschieden. Die Ausstrahlung des ‚Volkstümlichen‘ war noch so stark, dass bundesdeutsche Übersetzungen des amerikanischen Worts „popular culture“ nicht „populäre Kultur“ lauteten.
David Riesmans stark rezipiertes Buch „The Lonely Crowd“ fasst 1950 „jazz, soap opera, the movies, and television“ unter dem Oberbegriff „popular culture“ zusammen (David Riesman [with Reuel Denney and Nathan Glazer]: The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, New Haven 1950, S. 361).
In der deutschen Übersetzung, die 1958 in Rowohlts renommierter Reihe „Neue Enzyklopädie“ erscheint und als deren Herausgeber Helmut Schelsky fungiert, steht an der Stelle „volkstümliche Unterhaltungsmittel“ (David Riesman [in Zusammenarbeit mit Reuel Denney und Nathan Glazer]: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Reinbek bei Hamburg 1958, S. 312).
Adolf Hitler hatte am Tag vor der Eröffnung der Ausstellung „Entartete Kunst“ anlässlich der gleichzeitig stattfindenden „Großen Deutschen Kunstausstellung“ festgestellt: Das Volk sei das „Seiende und das Bleibende“ , es ist also per definitionem (bzw. in nationalistischer Sicht substantiell) dem Fremden und dem Wandel der Zeit, der „Flucht der Erscheinungen“ entgegengesetzt – „und damit ist auch die Kunst“, wie Hitler weiter mit platonischen Begriffen ableitet, „als dieses Seienden Wesensausdruck, ein ewiges Denkmal, selbst seiend und bleibend.“ (Adolf Hitler: Eröffnungsrede zur Großen Deutschen Kunstausstellung (1937). Teilabdruck in: Charles Harrisson, Paul Wood [Hg.]: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Ostfildern-Ruit 2003, S. 527-530, hier S. 529.)
Selbst in einer der ersten deutschsprachigen Verwendungen von ‚Pop‘ in einem Buch (vielleicht sogar der allerersten) bleibt ein Nachhall davon erhalten. In „Knaurs Jazzlexikon“ aus dem Jahr 1957 heißt es erläuternd zum Eintrag „Pop“: „Abkürzung für ‚popular‘ […], wörtlich: volkstümlich“. Und weiter: „Pop“ werde
„gebraucht in Verbindung mit ‚tune‘ […] und ‚song‘ als ‚pop tune‘ oder ‚pop song‘. Bezeichnet einen volkstümlichen Liedgesang, der zwischen Volkslied und Kunstlied liegt. Er ist nur in den seltensten Fällen ein Schlager oder Gassenhauer und verdankt seine Entstehung und Verbreitung im Jazz den ‚popular tunes‘ der Kreolen und Neger der Südstaaten, insbesondere von New Orleans, in denen sich vielerlei Züge aus französischen und anderen europäischen Liedern mit bestimmten Eigenschaften der negerischen Folklore mischten. Daneben hat auch die Minstrelsy mit ihren ‚coon songs‘ zum Repertoire und Melodietypus der ‚popular tunes‘ beigetragen, desgleichen der Ragtime. Aus all diesen verschiedenen Quellen gespeist wurde dann die volkstümliche Liedform der zwanziger und dreißiger Jahre im Bereich des Jazz, wozu dann noch die gesungenen Refrains und Verse der modischen Tanzformen kamen, z.B. Charleston, Boston, Shimmy, Foxtrott u.a. Die ältesten unter ihnen haben sich als sogenannte ‚evergreens‘ erhalten und dienen meist als Repertoire für Interpretationen im traditionellen Jazzstil. Der Schlager ist dagegen ausschließliche Tagesproduktion und gehört in das Gebiet der kommerzialisierten Tanz- und Sweetmusik.“ (Stephen Longstreet/Alfons M. Dauer: Knaurs Jazzlexikon, München und Zürich 1957, S. 249.)
Auch ganz zu Beginn der deutschsprachigen Begriffsverwendung war also das Bedürfnis vorhanden, „Pop“ als das ‚Bleibende‘ von der „kommerzialisierten Tanz- und Sweetmusik“ abzusetzen, mit der Pointe, dass hier jene afroamerikanischen Traditionen, welche die Nationalsozialisten vernichten wollten, der modischen, kapitalistischen „Tagesproduktion“ entgegengesetzt werden.