Hohe Kultur (2)von Thomas Hecken28.2.2017

Hohe und niedrige Metaphern – ‚high culture‘, ‚low culture‘ u.a.
Teil 2 der Serie von Merkur-Blog und pop-zeitschrift.de

‚High‘ und ‚low‘ können in bestimmten Aussagen als orientational metaphors (George Lakoff/Mark Johnson) fungieren. Sie gehören zu den Metaphern, die selten als solche bemerkt werden und doch bzw. gerade deshalb oft gebraucht werden: ‚niedrige Beweggründe‘, ‚Hochstimmung‘. Die beiden orientational metaphors treten in vielen Varianten auf: ‚Jetzt ist er endgültig unten angekommen‘, ‚sie strebt nach oben‘, ‚ein erhebender Moment‘, ‚Niedergeschlagenheit‘.

Sehr oft ist es im ‚höheren‘ Bereich gut, im ‚niedrigeren‘ schlecht (Ausnahme wäre etwa der ‚Hochmut‘, aber auch hier bleibt im Sprichwort unumstritten, dass er zu einem ‚Niedrigen‘ beiträgt, welches wie gewohnt negativ konnotiert ist: ‚Hochmut kommt vor dem Fall‘). Das Schlechte und Böse befindet sich unten, das Gute und Wahre oben, im ‚Ideenhimmel‘. Wenn es bei Eichendorff originell heißt: „In die schöne Welt hinunter / Lockt dich dieses Stromes Gruß“, ahnt man, dass die Fahrt kein gutes Ende nehmen wird, so schön die Versuchung auch sein mag.

In der Rede über Kunstwerke und Kulturgüter macht sich das ebenfalls zuverlässig bemerkbar. Im Einklang mit den anderen Verwendungen der Metaphern bekommt das, was als ‚hoch‘ bezeichnet wird, traditionell fast immer einen äußerst positiven Wert verliehen, was als ‚niedrig‘ eingestuft wird, findet sich im unteren, negativen Bereich der kulturellen und künstlerischen Wertungshierarchie wieder.

So weit, so klar. Das Urteil legt fest, was hoch und was niedrig ist, die ‚Hoch‘-Wertung ist ein Lob, eine Anerkennung, eine Huldigung, die ‚niedrige‘ Bewertung ein Tadel, eine Bestrafung, eine Verdammung. Das Urteil kann sich auf einzelne Werke beziehen, muss es aber keineswegs. Es kann sich auch auf bestimmte, große Einheiten von Werken und auf die Gattung selbst richten: high art, low art, hohe Kunst, niedere Kunst.

Im Sprachgebrauch war das sehr oft der Fall. Dann zählte etwa der Film schlechthin oder der Western – oder später noch zumindest der B-Movie-Western – zur niederen Kunst, die Oper, das Drama, das Gedicht galten als ‚Sitze‘ hoher Kunst.

Überwiegend wies die Verwendung von ‚hoch‘ und ‚niedrig‘ im Sprachgebrauch genau diesen Bezug auf Gattungen und Arten auf. Ein einzelnes Werk wird, wenn es nicht rein in seiner Eigenschaft als Mitglied eines hohen oder niedrigen Genres gerichtet wird, höchst selten als ‚hoch‘ oder ‚niedrig‘ bezeichnet. Ein Künstler, den man der hohen Kunst zuschlägt, wird mit seinem einzelnen Werk nicht zu einem Teil der niedrigen Kunst, selbst wenn dieses einzelne Werk als mäßig, missraten, katastrophal etc. beurteilt wird. Umgekehrt steigt jemand, der prinzipiell dem Bereich der niederen Kunst zugerechnet wird, nicht in die Hochkunst auf, wenn sein Werk als relativ (relativ zu anderen Werken der niedrigen Kunst) akzeptabel gilt.

Was aber waren die Bestimmungsgrößen, um zur Einschätzung ‚hohe/niedere Kunst‘ zu gelangen? Oft ästhetische und poetologische Kategorien: Die Werke der hohen Kunst sind schön, erhaben, kreativ, originell, formvollendet, überraschend, avantgardistisch, modern oder zeitlos, ihr Widerpart das jeweilige Gegenteil und anderes (kitschig, seicht, klischeehaft, standardisiert, effektvoll etc.).

Es gingen aber häufig weitere (zusätzliche oder mit ersteren versuchsweise verschmolzene) Gesichtspunkte in die Bewertung ein, die außerhalb von Ästhetik und Poetologie liegen; Dann werden die guten Wirkungen der Werke hoher Kunst auf Bildung, Moral, Persönlichkeit und die schlechten Wirkungen der niederen Kunst (Verrohung, Mittelmäßigkeit, entfesselte Sinnlichkeit, Konzentrationsunfähigkeit etc.) festgestellt.

Häufig kam Folgendes hinzu: Als Rezipienten der Werke niederer Kunst wurden bestimmte Gruppen und Klassen ausgemacht, das Volk, die niederen Schichten, Jugendliche, Frauen, Ungebildete; sie eint u.a., dass sie allesamt über wenige oder gar keine Machtmittel verfügen. Das wurde unter Titeln wie ‚populäre Kultur‘ oder ‚Massenkultur‘ angezeigt, wodurch oftmals besonders die große Zahl der Mitglieder solcher Klassen hervorgehoben werden sollte: Quantität schlägt hier nicht um in Qualität.

Die Gleichung von populärer Kultur und minderwertiger Kultur bleibt aber zumeist auch dann bestehen, wenn die Werke, die zur populären Kultur gerechnet werden, tatsächlich nur wenige Abnehmer finden. In dem Fall bleibt als Argument übrig, dass das Werk auf viele Abnehmer zielte, in der Marktkonkurrenz jedoch nicht alle Angebote erfolgreich sein können.

Zusammenfassend kann man darum sagen, dass die Begriffe ‚hoch‘ und ‚niedrig‘ im Bereich der Kunst und Kultur sich häufig auf Werke bestimmter Gattungen richten, die man im einen Fall grundsätzlich hoch und im anderen Fall niedrig bewertet. Die ästhetischen und/oder politischen, moralischen Kriterien, die dabei zur Anwendung kommen, sieht man dabei zumeist von bestimmten Schichten erfüllt oder enttäuscht, so dass mit der Einstufung ‚high/low‘ ebenfalls soziologische Klassifizierungen und soziale Einschätzungen verbunden sind.

Im Unterschied zu früheren Jahrzehnten (bis ungefähr in die 1980er Jahre) finden sich aber die Metaphern ‚hohe Kultur‘, niedrige Kultur‘ heute nur noch selten. Manchmal ist zwar noch von ‚hoher Kultur‘ die Rede, nicht aber von ‚niederer Kultur‘, weil dieser Ausdruck mittlerweile offenkundig als allzu abwertend und beleidigend empfunden wird und darum denjenigen, der ihn verwendet, gefährlich exponiert.

Daraus erklärt sich wohl auch zum Teil der Gebrauch von ‚low‘ im akademischen Bereich; das angloamerikanische Wort klingt im deutschen Zusammenhang weniger scharf, selbst wenn es nun einmal nichts anderes als ‚niedrig‘ bedeutet. Schärfer klingt die Klage über das ‚Unterschichtenfernsehen‘, die vor einigen Jahren recht häufig zu hören war. Obwohl die angesprochenen TV-Programme sich seitdem sicherlich nicht grundlegend geändert haben, ist dennoch zumindest dem Begriff nach das ‚Unterschichtenfernsehen‘ wieder verschwunden.

Die Scheu, mit Blick auf ‚Kultur‘ den Ausdruck ‚niedrig‘ zu gebrauchen, zeigt noch mehr an als eine höfliche Zurückhaltung. Sie ist auch ein Zeichen dafür, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl derjenigen, die an wichtiger Stelle über die Bewertung und öffentliche Unterstützung von Kulturgütern zu entscheiden haben – Politiker, geisteswissenschaftliche Akademiker, Journalisten, Verleger, Lektoren, Kuratoren, Sponsoren, Buchhändler, Rundfunkräte, Theater- und Museumsbesucher –, heutzutage vielen Gegenstände der sog. ‚Massen‘-, ‚Populär‘-, ‚Unterhaltungs-‚ und/oder ‚Popkultur‘ positiv gegenübersteht oder sie zumindest nicht mehr allgemein verurteilt.

Zu Renegaten werden sie wegen ihrer mitunter anzutreffenden Begeisterung für Rockmusiker, Werbespots, Gifs, Mangas, Modefotografien, TV-Serien etc. jedoch nicht. Diese Annäherung schließt keineswegs zwangsläufig eine grundsätzliche Abwendung von der (früher so genannten) ‚hohen Kunst‘ ein. Thomas Mann oder Flaubert, Tschechow-Aufführungen oder Expressionismus-Ausstellungen verschwinden deshalb nicht von ihrer Lektüreliste oder aus ihrem Terminkalender.

In der US-amerikanischen Soziologie hat sich für die Gruppe derjenigen, die bestimmte Künstler aus der klassischen Musik wie dem Pop, Jazz wie Heavy Metal gleichermaßen schätzen und hören, die Bezeichnung omnivore (‚Allesfresser‘) eingebürgert. Habe es zuvor eine exklusive Bindung von high-status Americans an die Hochkultur gegeben, zeichne die „statushohen“ Amerikaner nun verstärkt aus, dass sie – weiterhin im Gegensatz zu den Bevölkerungsgruppen mit „niedrigem“ sozialen Status – aus allen Bereichen, auch denen der lowbrow– und middlebrow-Kultur, auswählten (Richard A. Peterson/Roger M. Kern, Changing Highbrow Taste. From Snob to Omnivore, in: American Sociological Review 61 [1996], S. 900-907).

Hier zeigt sich die Kraft der Metapher ungebrochen: Bei den amerikanischen Soziologen sind die Leute, die über Vermögen und Macht verfügen, selbstverständlich „high-status Americans“, und für die unterschiedlichen Geschmäcker benutzen sie ebenfalls die Metaphorik des Hohen und Niedrigen (hinzu kommt noch das Dazwischenliegende): „lowbrow“, „middlebrow“, „highbrow“. Der empirische Befund ist nun, dass der gegenwärtige „highbrow taste“ bzw. die „high-status Americans“ sich gewandelt hätten: Der Geschmack der ‚highbrows‘ finde jetzt seine Vorlieben überall, auch bei ausgewählten Werken der ‚lowbrows‘ und ‚middlebrows‘. Die ‚lowbrows‘ und ‚middlebrows‘ hingegen blieben ihrem Schichtengeschmack treu.

Dadurch bleibt die Unterscheidung von ‚hoch‘ und ‚niedrig‘ erhalten, sie wird aber nicht mehr durch die Unterscheidung von Literatur und Dichtung, Film und Theater, neuer Musik und leichter Musik, Jazz und Rock, Rock und Pop etc. bestimmt, weil die Schicht der omnivores potentiell aus all den mit diesen Kategorien erfassten Werken sich jeweils für ihre Favoritenliste bedient (gemäß des älteren Diktums Leonard Bernsteins: „there is no such thing as U- und E-Musik, only good and bad music“).

Essayistisch ist die Gruppe der „Allesfresser“ als Trägergruppe einer neuen Nobrow-Culture gefasst worden. Das ist tatsächlich sehr avanciert. Zwar kommt zur Geschmacksdiagnose der omnivores kein neuer Befund hinzu: An die Stelle der alten Unterscheidung zwischen der „elitären“ Kultur der (Bildungs-)Aristokratie und der „kommerziellen“ Kultur der Massen sei eine „hierarchy of hotness“ getreten. „Nobrow is not culture without hierarchy, of course, but in Nobrow commercial culture is a potential source of status, rather than the thing the elite define themselves against. […] Dominique de Menil side by side with Courtney Love“ (John Seabrook, Nobrow. The Culture of Marketing. The Marketing of Culture [2000], London 2001).

Ungewöhnlich ist aber der Versuch, sich zumindest in einem Punkt von der üblichen Metaphorik zu verabschieden. Nicht mehr ‚highbrow‘, sondern „nobrow“. Auch wenn mit ‚brow‘ die phrenologische Dimension erhalten bleibt und damit auch die Assoziation zu ‚high‘ und ‚low‘ aufgerufen wird, geschieht dies nur, um sie durchzustreichen: ‚no‘.

Durchgesetzt hat sich das Kunstwort Nobrow jedoch bezeichnenderweise nicht. Sehr gut, mitunter äußerst gut etabliert haben sich hingegen Begriffe, die dem räumlichen Schema treu geblieben sind, bei deren Gebrauch jedoch in einer radikalen Umkehr die Werte oftmals vertauscht werden. Ein kleines Beispiel dafür ist ‚Lo-Fi‘, der (‚langweiligen‘, ‚sauberen‘) High-Fidelity eigensinnig als interessanter, anzustrebender Sound entgegengesetzt.

Es ist kein Zufall, dass Lo-Fi der Popkultur entstammt. In starkem Zusammenhang mit Pop- und Rockmusikszenen stehen auch die Paradebeispiele für eine Umwertung von ‚hoher‘ und ‚niedriger Kultur‘. Gemeint sind natürlich ‚Underground‘ und ‚Subkultur‘ – wie viele haben schon diese Wörter als Ehrenzeichen getragen, zum Beweis, dass im Reich der Werte jede Gelegenheit einmal ergriffen wird, die scheinbar selbstverständlichsten Einschätzungen zu verkehren.

Dadurch bleibt das Schema von ‚hoch‘ und ‚niedrig‘ zwar vollkommen intakt, es findet aber eine Umwertung statt: Das Positive ist auf einmal ‚unten‘ angesiedelt, nicht oben. Die starke Verwendung der Metaphern ‚Underground‘ und ‚Subkultur‘ in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ist darum ein deutlicher Indikator für den Verlust der Bedeutung der Rede über ‚hohe Kultur‘. Hier trifft sie auf einen gefährlichen Gegner, der sich überhaupt nicht zu ihrer üblichen Form ‚erheben‘ möchte, sondern ganz entschieden weit unter ihren bislang angestammten Orten – den in die Höhe strebenden Konzertsälen, Theatern, Bibliotheken – verbleibt. Dort unten soll nun das Gute bzw. das Interessante sein.

Markiert 1968 darum sogar das Ende der hohen Kultur? Die Antwort darauf muss negativ ausfallen. In dieser Konstellation (mit den Antagonisten von ‚under‘ und ‚sub‘) kann hohe Kultur keineswegs verschwinden, sich in nichts bzw. Nobrow auflösen. Wie leicht zu sehen, benötigt der Underground die hohe Kultur. Logisch: ohne oben kein unten, ohne high art keine Untergrund-Kunst (oder -Antikunst).

Der wahre Feind der hohen Kultur ist deshalb noch nicht gefunden. Zwar haben die Untergrund-Verfechter und ihre (sie aus der Ferne bestaunenden) liberalen Anhänger erfolgreich dafür gesorgt, dass die Rede von der ‚hohen Kultur und Kunst‘ kaum mehr zu hören ist, durch ihren starken Glauben an die Bedeutung der Kunst und Kultur (und sei es eine Anti-Kunst und Gegenkultur) haben sie aber für einen historischen Moment der positiv beglaubigten Kultur neue Kraft verliehen. So hoch stand die Kunst selten im Kurs wie bei ihrer Herabwürdigung durch den Underground.

Gefunden wurde bei der metaphorischen Reise also nur eine neue Form der hohen Kultur: der Underground, die kulturrevolutionäre Avantgarde, die formbewusste Subkultur. Unsere Reihe muss noch weitergehen.

 

Hohe Kultur:
Teil 1: Einleitung