#ilovedick – Selfies mit Textreferenz
Prolog (Public Readings)
“the only thing better than taking selfies with this book is reading it on the subway
and the only thing better than reading it on the subway is reading it, generally speaking“[1]
Wir sehen zwei Frauen an einem überfüllten Flughafen im Wartebereich. Beide sitzen in synchroner Körperhaltung mit überschlagenen Beinen. Sie halten sich ein Buch vor den Kopf. Dieses Buch ist „I Love Dick“ von Chris Kraus (1997). Im Bild wird die US-amerikanische Neuauflage von 2006 präsentiert. Die Anonymität der abgebildeten Frauen wird durch das Buch gewahrt.
Gleichzeitig entsteht in Verbindung mit der Coverabbildung – Jean Baudrillards Fotografie „Treilles, 1996“ – eine gewisse Doppelung: In beiden Fällen ist ein aufgeschlagenes Buch zu sehen, das Notiz-/Tagebuch in der Fotografie und „I Love Dick“, auf dessen Cover es sich wiederfindet. Baudrillards Fotografie mit dem Titelverweis auf die Weinlaube vermittelt einen nostalgischen Eindruck: ein aufgeschlagenes Notiz- oder Tagebuch, Füller, eine Schüssel, lose Seiten, ein Aschenbecher aus Glas. Die ganze Szenerie ist in das von rechts einfallende Licht der Spätabendsonne getaucht. Die Baudrillard-Referenz wird über diese Inszenierung am Flughafen, die über die sozialen Netzwerke verbreitet wurde, aktualisiert: Was ist der Status des virtuellen Doubles unserer Lebensrealität, oder ist die Frage obsolet geworden? War sie es immer schon?
Sicher ist, dass die bei Baudrillard abwesende Leserin nun anwesend ist. Doch die im Bild festgehaltene Szene zeigt nicht zwei Leserinnen, die sich als Rückzug vor dem Flughafenstress in die Lektüre vertiefen. Es ist ein Statement, eine bewusst gesetzte Provokation, gut sichtbar und durch die kollektive Handlung abgesichert gegen irritierte Reaktionen der Außenwelt. Dieses Foto ist der Beweis: Wir waren da, um uns viele Menschen, wir hatten das Buch dabei und haben es allen gezeigt. Worum es also geht ist eine Außenwirkung und nicht die individuell spezifische Auseinandersetzung der Leserinnen mit dem Text. Es geht um ein Bekenntnis.
„I Love Dick“ ist ja auch erstmal ein verlockender Titel für öffentliche Auftritte und kleine Provokationen. Es gibt in den sozialen Netzwerken zahlreiche Empfehlungen, sich mit ihm im öffentlichen Raum in Szene zu setzen: in der U-Bahn, im Zug oder im Flugzeug, Hauptsache der/die Leser*in ist nicht allein.
Dabei entstehen Selfies, damit Nachahmer*innen gefunden werden und der Mut der Täterin vom Zuspruch der sozialen Netzwerke beglaubigt und bewundert wird: „I LOVE DICK screams the unashamed, provocative cover in pink and green [die englische Erstauflage von 2015]. A large part of my motivation in buying it was a secret glee at the prospect of reading it on public transport, compounded in contrariness when a man on twitter grumbled he found the big bold title “unnecessary and annoying (…)”[2], schreibt eine Bloggerin.
Eine andere Frau berichtet von schiefen Blicken anderer Frauen mittleren Alters – eine Altersgruppe, die auf den Selfies bisher weit unterrepräsentiert ist.[3] Auf der anderen Seite gibt es auch Leser*innen, die dankbar für das Internet sind, sonst hätten sie den Titel persönlich in der Buchhandlung abholen müssen: „Feeling very grateful to the internet today for saving me the horror of having to order in this title in person #itsnotporn.“[4]
#ilovedick (Autofiktion)
Vor 20 Jahren erschien Chris Kraus’ mittlerweile omnipräsenter, allseits besprochener und gerade als Fernsehserie adaptierter Kultroman “I Love Dick” erstmals, und zwar in der von Kraus selbst kuratierten Reihe Native Agents bei Semiotext(e). Bei „I Love Dick“ handelt es sich um einen Briefroman (und um einen Theorie-/Kultur-/Kunstkritikessay), dessen Auslöser „Dick“ ist.
Dieser „Dick“ dient, auch wenn er sich auch auf eine reale Person zurückverfolgen lässt, vor allem als Projektionsfläche, als oberflächlicher Anlass des Schreibens. „Dick“ schreibt nur ein einziges Mal zurück, und auch in diesem Fall nicht direkt an „Chris“, sondern an ihren Mann „Sylvère“. Gerade die Konstruktion des Gegenübers dient im Verlauf des Romans zunehmend der Selbstermächtigung, da „Chris“ sich so der fiktionalen Kraft des Begehrens nach Wissen, dem eigenen Denken und Fühlen hingeben kann, ohne sich dabei jedoch mit den Realitäten dieses Begehrens aufzuhalten.
„I Love Dick“ ist zu einem Internet-Phänomen geworden. Eine Tatsache, die Kraus wohl bekannt ist, obwohl sie sich selbst nach eigenen Aussagen wenig in den sozialen Medien bewege[5]: “The book creates a community of young women that doesn’t really need me – it’s a great thing.” [6]
1998 wurde „I Love Dick“, und das ist wichtig um die gegenwärtige Rezeption zu perspektiveren, u.a. von David Rimanelli im Artforum als exhibitionistisches Memoir abgetan: “Arguably a highly self-conscious, painstakingly written experimental novel, the book reads like straight spillage, as if Kraus were simply telling her story and sharing her ideas with her husband, her friends, her analyst, anyone who will listen. Maybe she’s just talking to herself.”[7] Eine Kritik, welche den Darstellungsaspekt in Kraus’ Schreiben völlig missachtet, eine verstörende Ignoranz, denn der Text ist durchzogen von selbstreflexiven Passagen und Querverweisen, die sie für ihr Projekt heranzieht. Immer mit dem Ziel, gerade das universelle in der weiblichen Erfahrung zu ergründen und zur Darstellung zu bringen.
“The letters were naïve and spontaneous, but the final format was very intentional. There’s nothing really that personal about I Love Dick. Who hasn’t had an affair? Who hasn’t had a crush?“[8]
Mittlerweile scheinen die meisten Menschen auf den sozialen Netzwerken in intensive öffentliche Selbstdarstellungsprozesse verwickelt zu sein. Ein Vorgang, in dem sich gleichsam niemand mehr der Erkenntnis verweigern kann, dass das öffentliche Ich, die Figur, die nach außen mittels diverser Posts, Referenzen etc. konstruiert wird, eine bewusst gestaltete Konstruktion ist. Und als solche betrachtet werden sollte. So wie die Sprache werden dazu vor allem zunehmend Fotografien verwendet (z.B. bei Instagram), die besonders akkurate Rückschlüsse auf die Personen dahinter zu erlauben scheinen. Das liegt vor allem an ihrem Authentizitätseffekt, der maßgeblich in den anhaltend starken Projektionswünschen der Betrachter*innen gründet.
Was sich Ende der 1990er anscheinend schwer entziffern ließ, die Autofiktion, gehört mittlerweile zum Basis-Repertoire der sozialen Mediennutzung, bei der sich die Grenze zwischen dem Ich und seiner Darstellung zunehmend aufzulösen scheint. Die Autorin Joanna Walsh fasst während eines Gesprächs mit Kraus zusammen: „I think we all have this feeling now that there’s a very fine line between ourselves and a fictionalisation of ourselves.“[9] Eine Beobachtung, der Kraus zustimmt. In Texte zur Kunst vermuten Anna Dyes und Anna Voswinckel aus einer leicht pessimistisch angehauchten Perspektive sogar: „Dass die autofiction als Selbstfindungsratgeber gelesen wird, verhalf dem Buch „I Love Dick“ vielleicht erst zu seinem langsamen Durchbruch.“[10]
Adressieren
„Who is the „I“ that is talking, and who is it talking to? is the question that haunts all novice writers. By writing to Dick __, I realized the first part of the question was a red herring. It didn’t matter at all who the “I” was, the “I” gives birth to itself in writing. All writing is always performance, and performance is shaped by the audience. I needed badly to talk to someone at that time in my life, and posited Dick __ as the perfect listener.”[11]
Die Briefe in „I Love Dick“ sind an ein konstruiertes Gegenüber gerichtet und gehen von einem initialen Begehren aus, von dem sie sich jedoch zunehmend entfernen. “I Love Dick” ist keinesfalls die Suche nach dem Selbst im Anderen, sondern zeigt den Prozess einer Identitätsbildung durch den Akt des Schreibens und dessen Inszenierung als performativen Akt. Das Adressieren des Gegenübers dient vor allem der Selbstpositionierung der Autorin Chris Kraus und ihrer Abgrenzung von den externen Lesarten ihres Verhaltens, ihres Begehrens usw.
Das Adressieren eines imaginierten Gegenübers spielt für „I Love Dick“ eine besondere Rolle, nicht das Gegenüber selbst als vertraute Person. Das ist erst einmal auch die Voraussetzung der kommunikativen Handlung in den sozialen Medien, bei denen die Gestaltung einer Nachricht immer auf ein potentielles Gegenüber zugeschnitten wird – mit dem Unterschied, dass das Gegenüber Viele sind. Trotz der initial vorhandenen Anonymität der Adressatin/des Adressaten löst sich diese in Likes, Re-Posts und Kommentare auf und bleibt so geheim nicht.
Das legt die Vermutung nahe, dass sich mit der Zeit eine gewisse Kenntnis der Zielgruppe herstellt, auf welche die Posts zugeschnitten werden. (Oder die Adressatin/der Adressat ist und bliebt abwesend und in ihrer/seiner Abwesenheit die perfekte Projektionsfläche.) Die virtuellen Reaktionen drücken Zustimmung und Verständnis der Nutzer*innen untereinander aus und zeichnen einen Dialog in Form von digitalen Spuren, Verlinkungen, Reposts etc. nach. Dabei unterscheidet sich der Kommunikationswert der Posts – vom Katzenvideo über #foodporn bis zum Selfie mit dem aktuellen Lieblingsbuch. Dabei ist davon auszugehen, dass diese Nachrichten komplexer sind als sie auf den ersten Blick erscheinen.
#ilovedick (Selfies mit komplexer Textreferenz)
Sich mit einem bestimmten Buch in Form eines Selfies in Szene zu setzen deutet auf ein hohes Identifikationspotential des Textes für die Einzelne/den Einzelnen hin. Für „I Love Dick“-Selfies hat die Autorin Emilly Gould sogar einen tumblr-Account eingerichtet, dessen Aktivitätshöhepunkt im Jahr 2013 mit 9 Posts allerdings schon lange hinter ihm liegt.[12] Tavi Gevinson, die Gründerin des Rookie-Mag, postete ein Foto von „I Love Dick“ – natürlich ein Geschenk von Lena Dunham – und machte sich am 23. Juni 2013 via Twitter auf die Suche nach Chris Kraus, um ihr zu schreiben.[13] Auch Jessica Gysel, die Gründerin des Magazins Girls Like Us, machte anlässlich ihres Interviews mit Kraus ein Selfie.
Schon die mündliche Rezeptionsgeschichte von „I Love Dick“ ist geprägt durch persönliche Geschichten zur Begegnung mit dem Werk und der Klage, dass Buch nicht schon viel früher gelesen zu haben. Über fehlenden prominenten Beistand kann sich der Text jedenfalls nicht beklagen. Die Neuauflage von 2005 traf den Puls der Zeit und ermöglichte endlich den seit der Erstveröffentlichung verdienten Platz als Schlüsselroman zum Verständnis des Denkens aus einer marginalisierten Position heraus und die Befreiung aus dieser Begrenzung durch den kreativen Akt des Schreibens.
„In [2005/6] something about I Love Dick fell right into the heart of the same energy and spirit of blogging. [Popular bloggers] picked up on the book and it kind of became part of that group and that was almost 15 years after it had come out, but it had this new life and then it kind of went on from there. When it came out [again] in ’06 it was as if it was an entirely new book.“[14]
Die Grenzen zwischen öffentlich und privat hatten sich längst aufzulösen begonnen und die virtuelle Pflege eines Paralleldaseins gehörte zum Ausdruckskanon jedes sich in der Gegenwart behaupten wollenden Individuums. Die Kommunikationsmittel des Romans, das Fax, das Festnetztelefon, der geschriebene Brief im spuckebefeuchteten Umschlag, lagen schon in angenehm nostalgischer Ferne und die digitale Kommunikation in den neuen Netzwerken war noch aufregend genug um sich mitreißen zu lassen.
Fest steht, dass dieser Text so nicht mehr entstehen würde, das zumindest meint Kraus selbst: „We have email and it would have been over within two days.“[15] Der Projektionsraum der Gegenwart ist eingeschränkt durch Online-Profile, Status-Updates und eine sich ständig erweiternde Selbstgestaltung, die es der/dem parasitären Nutzer*in der sozialen Medien nicht erlaubt, es sich gemütlich zu machen und sich ihren/seinen Projektionen hinzugeben.
Neben den gut dokumentierten Leseakten in der Öffentlichkeit, gibt es auch „I Love Dick“-Selfies im privaten Raum, überwiegend am Schreibtisch im Schlafzimmer von Frauen im Teenageralter bis in die frühen 30er. Diese Selfies sind nicht mit dem Smartphone, sondern mit der Laptopkamera aufgenommen (auch wenn die Hashtags weiterhin häufig auf den Genuss der öffentlichen Lektüre verweisen). Diese oft verpixelten und schlecht ausgeleuchteten Selfies vermitteln einen intimen Eindruck. Auffällig ist die Platzierung des Romans meist in direktem Verhältnis zum Mund der Leserin. Das suggeriert erstmal eine Nähe zwischen Portraitierter und Roman, kann aber auch durch die Einschränkung des Bewegungsradius aufgrund der Laptopkamera bedingt sein. Wird der Roman direkt vor den Mund gehalten, in Kombination mit eindringlich schauenden, weit geöffneten Augen, entsteht der Eindruck als solle „I Love Dick“ für sie sprechen. Es wird suggeriert: Dieser Text spricht für mich, das ist genau das, was ich sagen will. Auch wenn der Kopf an den Roman angelehnt wird und die Fotografierte verträumt in die Kamera schaut, wird eine starke innere Verbindung zum Text kommuniziert.
In anderen Selfies tritt auch die bewusste Referenz auf die Doppeldeutigkeit des Titels zutage: ein durch Perspektive oder Lippenstift überdeutlich ins Bild tretender Mund in direkter Nähe zum Cover ist auch ein Spiel mit der sexuellen Komponente des Titels. Dabei entscheiden dann Details wie Nagellackfarbe und Körperhaltung vor der Kamera sowie Ausleuchtung der Szenerie darüber, wie selbstbewusst die Akteurin von den Betrachtenden eingeschätzt wird und ob die Inszenierung eher sexuell selbstbewusst oder naiv sexualisierend rüberkommt.
Instagram zensiert mittlerweile #ilovedick, anscheinend aufgrund des Interpretationsspielraums des Hashtags – die Fans verwenden nun #chriskraus.[16] Bei Twitter ist #ilovedick noch möglich, wobei sich aufgrund der Erstausstrahlung der Fernsehserie im Mai diesen Jahres vor allem Bilder aus der Fernsehserie von Jill Soloway unter dem Hashtag finden lassen. In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage, inwiefern die Posts von Screenshots der Serie die Referenz auf den Quelltext ablösen werden.
Werden jetzt also nur noch Stills der Serie gepostet und bricht damit ein neuer Distinktionskampf aus, zwischen Originalausgabe (1997), Wiederveröffentlichung (2005), englischer Erstausgabe (2015), deutscher Ausgabe (2016) und dann der Serie (2017)? Und führt das letztlich zu einer Komplexitätsreduzierung des Textes, eine Gefahr die im Zusammenhang mit einem Hype immer besteht, oder werden über die Serie neue Leser*innen für den Roman rekrutiert?
Auch Männer inszenieren sich, allerdings sehr vereinzelt, mit dem Text. Im Instagram-Account eines Berliners scheint dieser über den Post vor allem seine Außenwirkung zu testen.[17] Der Roman scheint hier Ausdruck einer Selbstreflexion zu sein, bei der man den Eindruck nicht los wird, dass sie eine Pose ist, #doisoundlikeabimbo.[18] Diese Bilder kommen dem Standard-Postings einer Buchempfehlung näher.
Die „I Love Dick“-Posts funktionieren anders, was u.a. die teilweise beibehaltene Spiegelverkehrtheit des Schriftzugs belegt (u.a. auf dem I Love Dick-Selfie Blog von Emilly Gould). Hier scheint der Roman selbst schon nicht mehr als Text, sondern als Objekt zu funktionieren, das vor allem ins Verhältnis zur Leserin gesetzt wird und nicht mehr primär als kommunikativer Akt an die Internetnutzer*innen gerichtet ist. Die „I Love Dick“-Selfies stammen nicht von Buchbloggerinnen oder Leseratten, sondern es sind Frauen, die sich mit dem Text identifizieren und über die Posts auch als eine Gruppe sichtbar werden. Die sozialen Medien ermöglichen hier ein Gemeinschaftsgefühl, das junge Frauen, so scheinen die Posts es zu belegen, immer noch vermissen. Es geht dabei weniger um Chris Kraus als vielmehr um sie selbst. Sie scheinen sich wiederzuerkennen, verstanden zu fühlen, in einem Text, der eben genau aus dieser Suchbewegung entstand. Und den kreativen Ausdruck, das Schreiben, als Ausweg vorschlug.
„I think the sheer fact of women talking, being, paradoxical, inexplicable, flip, self-destructive but above all else public is the most revolutionary thing in the world. I could be years too late but epiphanies don’t always synchronise with style.”[19]
Nun scheint dieses Sprechen durch die bildliche Inszenierung eine neue Form angenommen zu haben. Man könnte befürchten, dass der Text so verkürzt werde, allerdings würde diese Ansicht den Leseprozess unterschätzen, der ganz sicher transformierend wirken und zumindest als Ausgangspunkt weiterer Diskussionen und Auseinandersetzungen funktionieren kann. Diese Lesart wird unterstützt durch Selbstaussagen der Bloggerinnen, die ihre Posts mit Texten wie diesen unterlegen: „Unshowered and touching the ponytail everyone hates that I’ve been wearing. Why not.“[20] Oder: “I’m nearly done [mit I Love Dick], you have to borrow it. I’ve written down so many things from it and it feels really important, but I really feel it has been too much. Like I wasn’t ready to read this far into life in general or feminism, and I don’t strictly agree with everything, but it’s been so overwhelming I can’t properly make sense of it all.”[21] Und: “Can I recommend it to you, internet? Would you read it? It’s about love and obsession and books and women and art and academia and relationships and theory all rolled up into one epistolary affair. It’s the best. It comforted me the way only a really good book can: “you are not alone; here are the words and ideas that prove it.“[22]
Bücher in den sozialen Medien in die Kamera zu halten ist im Trend[23], vor allem solche Bücher, die eine komplexe, selbstreflexive Identität erzeugen. Ein Umstand, der der Eindimensionalität des Oberflächenausdrucks und der Like-Kultur zuwiderlaufen. Auch Maggie Nelson’s autotheoretischer Roman über ihre Beziehung mit dem genderfluiden Künstler Harry Dodge „The Argonauts“ (2016) ist derzeit besonders beliebt.[24]
Handelt es sich hier um eine widerständige Geste oder um komplexitätsreduzierendes Mainstreaming bedeutsamer Texte? Geht es um eine Vereinnahmung mehr denn als um eine Auseinandersetzung? Oder ist das alles die Suche nach einem Gegenüber? Wer wird adressiert – Verbündete, zu Überzeugende, oder Gegner*innen? Ähnlich einem Statussymbol wird das Buch in die Kamera gehalten, doch was will uns die Geste sagen? Soll sie als Kaufempfehlung, als Identifizierungsmerkmal, Ausdruck des tiefen Verständnis des Textes, der eigenen Bildung, der Gruppenzugehörigkeit funktionieren?
Wahrscheinlich von allem ein wenig, und eventuell ist zunächst einmal jeder Kulturpessimismus zur Seite zu schieben mit dem einfachen Argument: die Texte werden gelesen, die Gedanken, Überlegungen, Theorien bekommen Sichtbarkeit und der immer noch männlich dominierte Kultur-Kanon wird erweitert (wenngleich dieser natürlich dringend auch um weitere Stimmen außerhalb des weißen Westens ergänzt werden muss).
Es wäre möglich eine Parallele zwischen der Form des Briefromans, als der historisch als weiblich verstandenen Form, und dem Blog als Mittel der Selbstermächtigung, der Kommunikation und des Austauschs zwischen Frauen bzw. zwischen Personen zu ziehen, die vom dominierenden Machtdiskurs der Gesellschaft ausgeschlossen sind.
Wenn ich mir die „I Love Dick“–Selfies anschaue, möchte ich die Fragen hinter den Blicken kennen. Kraus war 39 Jahre alt, als sie „ Dick“ im Dezember 1994 traf. Und trotzdem trifft Kraus den Nerv junger Mädchen. Kraus kennt dieses Gefühl des Sich-Wiedererkennens in einem Text aus eigener Erfahrung und beschreibt etwa ihre Kathy Acker–Lektüre in Teenagerjahren so: „They were those books that kind of just go straight to your heart, where it feels like the person’s voice is in your head and speaking for you.”[25]
Diese Dringlichkeit spiegelt sich in den „I Love Dick“-Selfies. Und während sich Kraus nun in ihren 60ern Kathy Acker zuwendet, die im Erscheinungsjahr von „I Love Dick“ an Krebs verstarb, wenden sich die jungen Zwanziger „I Love Dick“ zu. Kraus hat seit dem Tod Ackers an dieser Publikation gearbeitet. Auf verschiedene Weisen scheint sich hier ein Kreis zu schließen, denn auch Acker arbeitete mit Briefen und der Rolle des Adressaten: „Often she’d choose a man, sometimes a lover, sometimes not, more often he was, as her “silent partner” when she was writing a book. She’d write intensely to that person, and share pages with him. Parts of the letters sometimes found their way into the books. Up through Don Quixote, she directed each of her books toward someone.”[26]
„After Kathy Acker“ wird im August dieses Jahres endlich bei Semiotext(e) erscheinen. Und so wie Kraus betont, dass sie sich im Rahmen dieser Recherche immer wieder auf die Nebenwege begeben habe, um andere weniger bekannte Künstler*innen zu entdecken, kann auch die gegenwärtige Chris Kraus-Rezeption Anlass sein, weitere Autor*innen aus ihrem Umkreis neu zu entdecken.[27] Die von ihr bis heute kuratierte Reihe „Native Agents“ bietet sicher eine gute Grundlage.
Anmerkungen
[1] http://blueblueblueblue.tumblr.com/post/58036261619/the-only-thing-better-than-taking-selfies-with
[2] http://www.tyci.org.uk/wordpress/spine-3/
[3] https://twitter.com/annamburtt/status/837056605036371969
[4] http://decadent-romanticism.tumblr.com/post/87891881836/feeling-very-grateful-to-the-internet-today-for
[5] Bonnie Wertheim: Chris Kraus, Author of ‘I Love Dick,’ Returns to the Bronx, New York Times, 11.05.2017; https://www.nytimes.com/2017/05/11/style/chris-kraus-i-love-dick.html
[6] Elle Hunt: Chris Kraus: I Love Dick was written ‘in a delirium’, The Guardian, 30.05.2017; https://www.theguardian.com/books/2017/may/30/chris-kraus-i-love-dick-was-written-in-a-delirium
[7] David Rimanelli: I Love Dick., Artforum International, 1998
[8] ‚I Love Dick’s‘ Author Wants More Unlikable Female Leads, Julia Bosson im Gespräch mit Chris Kraus, Vice, 12. 05. 2017; https://www.vice.com/en_us/article/i-love-dicks-author-wants-more-unlikable-female-leads
[9] I Love Dick: Celebrating the Unsayable, Joanna Walsh im Gespräch mit Chris Kraus, Script (Auszug), 16.05.2016; https://medium.com/workandlife/i-love-dick-celebrating-the-unsayable-e2e2b68bd6ed
[10] Ways of Seeing. Anke Dyes & Anna Voswinckel über die Fernsehserie I love Dick, Texte zur Kunst, Heft Nr. 105, März 2017; https://www.textezurkunst.de/articles/i-love-dick-de/
[11] Chris Kraus: Stick to the Facts, S. 131–133, Texte zur Kunst, Juni 2008, Heft 70, S. 132
[12] http://ildselfies.tumblr.com/
[13] https://twitter.com/tavitulle/status/349006438963740675
[14] I Love Dick: Celebrating the Unsayable, Joanna Walsh im Gespräch mit Chris Kraus, Script (Auszug), 16.05.2016; https://medium.com/workandlife/i-love-dick-celebrating-the-unsayable-e2e2b68bd6ed
[15] Elle Hunt: Chris Kraus: I Love Dick was written ‘in a delirium’, The Guardian, 30.05.2017; https://www.theguardian.com/books/2017/may/30/chris-kraus-i-love-dick-was-written-in-a-delirium
[16] Bonnie Wertheim: Chris Kraus, Author of ‘I Love Dick,’ Returns to the Bronx, New York Times, 11.05.2017; https://www.nytimes.com/2017/05/11/style/chris-kraus-i-love-dick.html
[17] https://www.instagram.com/p/BRQhtgaDVI2/?taken-by=juergen_cannes
[18] s. Abb. oben
[19] Chris Kraus: I Love Dick, Semiotext(e), 2006, S. 210
[20] http://ildselfies.tumblr.com/image/72470839216
[21] http://ildselfies.tumblr.com/post/77840569285/teaandtits-whatsapp-to-fanny-emma-have-you
[22] http://ildselfies.tumblr.com/post/55910478425/ohcalamity-reading-delivers-on-the-promise
[23] http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/45998/
[24] Maggie Nelson Writes Books Like She’s Hosting a Party, Maggie Lange im Gespräch mit Maggie Nelson, The Cut, 31.03.2017; https://www.thecut.com/2017/03/interview-maggie-nelson.html
[25] Elle Hunt: Chris Kraus: I Love Dick was written ‘in a delirium’, The Guardian, 30.05.2017; https://www.theguardian.com/books/2017/may/30/chris-kraus-i-love-dick-was-written-in-a-delirium
[26] I Love Dick on TV. Chris Kraus’ Advice for a Young Girl (Fiona Duncan im Gespräch mit Chris Kraus), März 2017; https://www.ssense.com/en-us/interview/i-love-dick-on-TV?utm_source=4003003&utm_medium=affiliate&utm_campaign=VigLink-&utm_term=10492063
[27] ‚I Love Dick’s‘ Author Wants More Unlikable Female Leads, Julia Bosson im Gespräch mit Chris Kraus, Vice, 12. 05. 2017; https://www.vice.com/en_us/article/i-love-dicks-author-wants-more-unlikable-female-leads
Isabel Mehl promoviert am Graduiertenkolleg „Kulturen der Kritik (KdK)“ der Leuphana Universität Lüneburg über die Funktion der Fiktion in der Kunstkritik bei Jutta Koether, Chris Kraus & Lynne Tillman.