Stille Filmmusik?
Blaise Pascal und die Leere
Mit der Faszination am Sternenhimmel verknüpft sich oftmals eine tiefe Nachdenklichkeit. Bereits Blaise Pascal (1623–62) flößte „die ewige Stille dieser unendlichen Weltenräume […] schreckliche Angst ein.“[1] Zu einer Zeit der wissenschaftlichen Neuerungen wurde seine Neugier schon in jungen Jahren durch das pädagogische Prinzip der knappen Unterforderung nach Michel de Montaigne (1533–92) angeregt.[2] Pascal wurde daher sein Leben lang vom wissenschaftlichen Interesse an dem luftleeren Raum getrieben. Doch trotz seines rationalen Sachverstandes erfasste ihn zeitlebens auch eine religiöse Ehrfurcht, in der er bereits als hochsensibles Kind Zuflucht suchte und später in der Strömung des Jansenismus[3] auslebte. Entsprechend beinhaltet seine apologetische Schrift- und Notizensammlung „Pensées“ (1663) Argumente zur göttlichen Gnade[4] in einer Zeit, in der die Physik Umwälzungen erfuhr.
Evangelista Torricelli (1608–47), ein Schüler Galileis, erneuerte die alte Vorstellung vom Horror vacui, d. h. der Vorstellung, dass die Natur leere Räume nicht dulde. Stattdessen bewies er, dass Luft ein Gewicht hat und ein Vakuum experimentell zu erzeugen war. Zuvor galt die Physik für den Raum bis zum Mond, im translunaren Raum füllte eine geistige Substanz – der Äther, Quinta essentia, wurde auch als Kraft Gottes verstanden – den leeren Raum.[5] Der experimentelle Nachweis, dass es leeren Raum geben kann, negierte diesen theologisch-physikalischen Zusammenhang – der Begriff des Leeren wurde enttheologisiert und Pascal folgte der Prämisse, dass die Wahrheit durch Experimente zu ergründen war.[6]
Dennoch blieb er gespalten zwischen empirischer Forschung und emotionalem Gottesglauben. Verloren war fortan die „anthropologische Behaglichkeit der aristotelischen Physik, die die Leere nicht kannte.“[7] Stattdessen beängstigte die neue Physik eine Unwissenheit über die Leere zwischen stofflicher Ebene und dem Nichts. In seiner kosmologisch situierten Anthropologie verortet Pascal den Menschen als „Mitte zwischen Nichts und All“[8], der die Unendlichkeit niemals begreifen kann, „gleichermaßen unfähig, das Nichts zu fassen, aus dem wir gezogen wurden, wie das Unendliche, von dem wir verschlungen werden.“[9]
Das Sound-Design von Gravity
Im Film Gravity (USA, UK 2013) sieht sich die Astronautin Dr. Ryan Stone (Sandra Bullock) hautnah mit dieser Leere des Weltalls konfrontiert, freischwebend, da ihre Station durch Satellitentrümmer zerstört wurde. Der Film von Regisseur Alfonso Cuarón und der Soundtrack von Steven Price wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Doch wie funktioniert Musik im Weltraum, wo doch die Luft zur Übertragung des Schalls fehlt? Regisseur Cuarón wollte die Absicht der Filmmusik möglichst realistisch mit der Stille verbinden:
„We knew we needed to express silence. We didn´t want the score to be descriptive, but psychological and emotional. We composed a score which is expressive of surroundings. Here the music is moving around you all the time.“[10]
Sound-Designer Glenn Freemantle beschränkte sich deshalb auf durch Kontakt und Berührung der Astronauten übertragene Geräusche – hörbar sind die Vibrationen über den Körper und die Luft im Raumanzug.[11] Mittels der Abmischung in Dolby Atmos folgen die Musik und das Sound-Design der Position der Filmfiguren, bewegen sich ständig und interagieren. Die Zuschauer werden dadurch in diese unendliche Weite mit eingebunden.
„Der gesamte Film dreht sich um die Hauptfigur, und deshalb ist auch ist auch die Tonspur komplett aus ihrer Perspektive gestaltet. […] Wenn die Kamera bei ihr im Helm ist, während sie wild durch das All schleudert, dreht sich auch der Sound passend dazu.“[12]
Stille Filmmusik? Eine Analyse
Der Film steckt voller Überraschungen und spielt mit den Ängsten der Zuschauer – nicht nur mithilfe von Schreckmomenten, den sogenannten „cat scares“[13]. In der Stille des Weltalls ist ein zerbrechendes Spaceshuttle nicht hörbar, sodass der Komponist Price diese Leere füllen musste. Er tat dies, indem er mithilfe seiner Musik die Gefühle der Charaktere vermittelte.[14] Dafür mischte er akustische und elektronische Klänge als Ausdruck für das Eindringen der künstlich-mechanischen Erkundungsmission in die freie Natur des Weltraums. Price verarbeitete Instrumente wie ein Cello (z. B. im Track „The Void“) oder eine menschliche Stimme durch Klangsynthese, um einen völlig neuen Klang zu generieren. Für „Above Earth“, den ersten Track auf dem Soundtrack und zugleich die Eröffnungsmusik im Film, verlangsamte Price das Projekt, an dem er arbeitete, auf ein 60tel der ursprünglichen Geschwindigkeit. „Basically, what you’re hearing is the space between the notes.“[15] Zunächst erklingen weiche Akkorde (g-Moll und F-Dur im Wechsel) mit Synthesizer und einem dezenten Chor, doch sofort wächst darin unterschwellig ein aufdringlicheres Geräusch, erinnernd an eine abstürzende Flugzeugturbine. Allmählich steigern sich dazu elektronische Klänge mit einem angespannten Grundrauschen, das nach 38 Sekunden kurzzeitig an die Grenze der zumutbaren Lautstärke geht:
Price spielt hier mit extremen Kontrasten, denn das Rauschen reißt ebenso schnell ab und es folgt Stille. Die Analyse des Frequenzspektrums zeigt zwar, dass nach zwei Sekunden bei -93 Dezibel anschwellende Bassklänge einsetzen, doch ist der langsam einsetzende Ton erst nach fünf Sekunden annähernd hörbar und nach wiederum etwa sieben Sekunden harmonisch ergänzt, um anschließend in einer Ambient-Fläche auszuklingen:
Der Film beginnt mit schwarzem Bild, dazu leise Pieps-Geräusche elektronischer Geräte. Nüchterne wissenschaftliche Fakten werden präsentiert: 600 km über der Erde schwankt die Temperatur zwischen +258 und -148 Grad Fahrenheit. „There is nothing to carry sound. No air pressure. No oxygen. Life in space is impossible.“ Der dramatische Höhepunkt des Rauschens (Musikbeispiel 1) und die abrupte Stille erklingen hier bereits nach elf Sekunden. Nachdem kurz der Filmtitel erscheint, reißt die Musik urplötzlich ab und das ruhige Bild der Erde, die von der hellen Sonne beschienen wird, füllt den Bildschirm.
Statt der Ambient-Fläche, erklingen Funksprüche in die Stille hinein. Um dem Anspruch des Regisseurs nach Authentizität gerecht zu werden, wurden die mehrfach im Film zu hörenden Funksprüche von vier tatsächlichen NASA-Mitarbeitern eingesprochen.[16] Diese elf Sekunden erzählen wie eine Ouvertüre bereits die Grundsituation des Films: Panisches Chaos und danach der Herauswurf in die stille, lebensfeindliche Umgebung des Weltraums. Abstrakter gedacht ist es der Nervenzusammenbruch der Protagonistin, erdrückt vom Stress rauschen ihr die Ohren und lassen sie in Ohnmacht fallen, aus der sie sich im Laufe der Filmreise mühsam herauskämpft.
Die Handlung beginnt zunächst mit einem sehr langen Zoom-Out, der in einer fast 14-minütigen Kamerafahrt fortgeführt wird. Anfangs füllt die Erde fast den gesamten Bildschirm, der Anteil des Weltraums nimmt aber stetig zu und darin wird das sich nähernde Space-Shuttle erkennbar. Visuell kommt hier Pascals philosophischer Gedanke zum Ausdruck, sich von der Erde weg in eine kosmische Perspektive zu versetzen:
„Also bedenke der Mensch die ganze Welt in ihrer hohen und weiten Herrlichkeit, er banne aus seinem Blick das Niedrige, das ihn umgibt. Er schaue das blendende Licht, das, um das All zu erhellen, wie eine ewige Leuchte gegeben ist. […] Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unmerklicher Zug in der weiten Höhlung des Alls. Keinerlei Begreifen kommt ihr nahe.“[17]
Das Bild lässt kurzzeitig eine Symmetrie entstehen, in der Erde und Weltraum jeweils eine Hälfte des Bildschirms einnehmen. Die Atmosphäre ist konzentriert, aber entspannt und selbst der prophetische Spruch „I´ve got a bad feeling about this.“[18] kann die Stimmung nicht trüben. Unterstrichen wird es durch den Country-Song „Angels are hard to find“ von Hank Williams Jr., den Astronaut Matt Kowalski (George Clooney) über Funk laufen lässt. Zunächst wird der Szene durch diesen diegetischen Musikeinsatz lediglich ein Subtext hinzugefügt: Die Zuschauer können sich leichter mit den Protagonisten identifizieren – die Musik suggeriert, dass in deren Welt (obwohl im unwirklichen Weltraum schwebend) alles in Ordnung ist.[19]
Gleichzeitig baut sich eine Erwartung auf, die im tatsächlichen Verlauf der Handlung aufgehoben wird.[20] Die unpassende Musik für die visuelle Umgebung des Weltraums erzeugt eine Irritation beim Zuschauer, auf der sich weitere Spannung bilden kann. Doch der Blick auf den Songtext verrät einen weiteren, emotionaleren Subtext der Musik: Im Song besingt Williams eine verlorene Liebe und bittet Gott darum, bei der Suche nach einer neuen behilflich zu sein. Das kann als Prophezeiung gedeutet werden, denn es wird sich herausstellen, dass Dr. Stone in der Stille des Weltalls mit den Erinnerungen an den Verlust ihrer Tochter konfrontiert ist. Nicht zufällig bricht die Musik auf ihre Bitte hin bei der Textzeile „It´s my fault I lost the first one you sent to me.“[21] ab. Die Country-Musik ist hier als Kommentar angelegt, ähnlich wie in John Carpenters „Dark Star“ (USA, 1974).[22]
Ohne Filmmusik wird der Fokus folgend auf das Sound-Design gelenkt, d. h. hörbar sind jetzt die Geräusche durch den Anzug von Dr. Stone, die mit Rädchen hantiert, Metallstreben berührt u. ä. Auf Kowalskis Frage, was sie hier oben am meisten genieße, antwortet die Astronautin: „The silence. I could get used to it.“[23] Im weiteren Verlauf des Films wird ihr die völlige Stille Todesangst einjagen. Die Dramatik steigert sich langsam, zunächst erklingt nach knapp sieben Minuten zum ersten Mal über den Funkkontakt mit der Erde die Information, dass es einen Zusammenstoß von Satelliten gab und Schrottteile mit 20.000 km/h umhereilen – diese würden aber nicht in den Radius des Shuttles gelangen. Nach zehn Minuten setzt die Musik unterschwellig ein und es erscheint die Warnmeldung „Mission abort!“. Es ist zwar dieselbe Kamerasequenz, doch die Kamerabewegung wird hektischer, indem sie den Flugbewegungen Kowalskis folgt. Die Spannungssteigerung in der Musik nimmt zu, bis ein Crewmitglied („Man down!“[24]) und das Shuttle von ersten Trümmerteilen getroffen werden.
In ihrer Not muss Dr. Stone ein Kabel lösen, um sich aus den rotierenden Shuttleresten zu befreien. An dieser zentralen Szene[25] setzte der Regisseur den ersten erkennbaren Schnitt. Erzeugte die Kamera bis dahin mittels digitaler Montagetechniken die Illusion einer einzigen, 13-minütigen Kamerafahrt, unterstreicht hier der bewusste Schnitt die Situation von Dr. Stone, abgeschnitten vom Shuttle. Diese Szene wurde als Aufhänger im Filmtrailer benutzt, allerdings reduziert um die tieffrequenten Streicher-Sounds im Film:
Nun beginnt die Panik, denn Dr. Stone trudelt unkontrolliert in den Weltraum hinaus. Ein ambivalentes Angstszenario wird entworfen: Einerseits die Hilflosigkeit in der scheinbar endlosen Leere des Alls, in dem es keine Möglichkeit gibt, sich festzuhalten. Andererseits klaustrophobisch eingesperrt in den engen Raumanzug, dessen Sauerstoffvorrat aber lebensnotwendig ist. Die Kamera rückt näher, lenkt den Fokus auf Dr. Stones Empfindung, bis das Bild schließlich nach exakt 15 Minuten fließend in die Perspektive innerhalb des Helms eintritt – zum ersten Mal wird der Zuschauer hautnah an die Protagonistin geführt und kurzzeitig zeigt die Kamera die verzweifelnd suchende Egoperspektive. Die Musik betont das schnell schlagende Herz durch hektisches Pulsieren.
Astronaut Kowalski findet die in der Leere treibende Frau und zieht beide mittels Schubdüsen am Anzug in Richtung der noch intakten ISS. Der Track „Don´t Let Go“ erklingt elf Minuten lang, während Ryan Stone Matt Kowalski ihre Beweggründe für diese Mission offenbart. Sie wollte der Erde entfliehen. Der Country-Song[26] taucht wieder auf, verbunden mit warmen Sonnenstrahlen, die dem Zuschauer und den Protagonisten neue Hoffnung suggerieren. „Don´t Let Go“ löst den Country-Song vollständig ab,[27] d. h. die Musik wechselt auf die nicht-diegetische und damit emotionalere Ebene. Im Moment, wenn Dr. Stone offenbart, dass sie eine Tochter hatte, erklingt ein trauriger Akkord (gis-Moll).[28] Komponist Price variiert hier anschließend über Fis-Dur (mit der verminderten Quarte Bb als Bass-Ton) zu E-Dur und nutzt einen klassischen Sprung zur Paralleltonart H-Dur und Subdominante cis-Moll. Die Zuschauer können dadurch emotional ohne großen Aufwand gefesselt werden. Diese harmonische Episode mit dem Monolog von Dr. Stone klingt nach zwei Minuten wieder aus, als verschwinde sie wie ein Nebel in der Stille des Weltalls. Abgelöst wird sie vom statischen Rauschen und geht über in bedrohlichere Musik, denn der Sauerstoffvorrat neigt sich dem Ende zu und die Zuflucht der ISS ist noch weit entfernt.
Die Musik untermalt diese Szene mit wechselnden Gefahrenmomenten, ausgehend von dezenten Ambient-Klängen zu einem hektisch-treibenden nervösen Klangbild. Das Tempo schwankt, abhängig von den Emotionen der Charaktere – Musik und Film interagieren. Komponist Price sieht an dieser Stelle die Synthese beider Elemente besonders gelungen.[29] Der letzte Dialog mit Kowalski wird zum symbolischen Gespräch mit der sterbenden Tochter, denn Dr. Stone muss loslassen und einen Menschen der Totenstille übergeben:
„You have to let me go. – No. – The ropes are too loose. I´m pulling you with me. Let me go or we both die. – I´m not letting you go! We´re fine! – Ryan, let go. – No, no. You´re not going anywhere. – It´s not up to you.“[30]
Kowalski opfert sich, um Dr. Stone nicht mit in die Leere des Alls zu ziehen. Er löst die Verbindung und sie muss ihre existenzielle Reise fortan alleine meistern.
Eine erste Rettungsinsel findet Dr. Stone kurzzeitig in Form einer Kapsel innerhalb der ISS-Trümmer.[31] Außergewöhnlich zeigt sich die klangliche Berücksichtigung der Stille, wenn die ISS durch die Trümmer zerstört wird, doch die Explosion konsequenterweise nicht durch das Vakuum des Alls sondern lediglich durch die Vibrationen des Raumanzugs übertragen werden:
Der Komponist nutzt hier erneut die Kontrastwirkung: Während der Gefahrensituation im Weltraum hört man das pochende Herz mit elektronisch-verzerrten aggressiven Tönen, die sich steigern und plötzlich verstummen, als Dr. Stone die Luke schließen kann. In der Stille der Raumkapsel ist nur noch das wilde Keuchen zu hören, denn ihr Helm ist angereichert mit CO2. Sie dreht die Luftzufuhr auf und passend zur steigenden Prozentanzeige erklingen schrittweise wieder Geräusche – die Luft als Trägerin des Schalls kehrt zurück. Wenn Dr. Stone in fötaler Position durch die Zuflucht der Kapsel schwebt, finden sich visuelle Anleihen an „2001 -Odysee im Weltraum“ (USA, 1968) und „Contact“ (USA, 1997). Gerettet ist sie noch längst nicht, doch beschreibt das Drehbuch die Ästhetik dieses ruhevollen Moments: „For a moment, Ryan simply hangs in suspension, a fly in amber, surrendering to the poetry of the planets, rotating slowly in the cabin´s womb.“[32]
Nachdem im Track „ISS“ ebenfalls die etablierte Akkord-Folge aufgegriffen wurde, erzeugt Price am Ende einen überraschenden Sound, indem er die Aufnahme einer Trompete durch einen alten Synthesizer schickte.[33] Doch der Sound zerstört das Gerät, hörbar ist das unwiederbringliche Sterben des Synthesizers.
Die Reise der Heldin durch das Abenteuer
Die Protagonistin kommt an ihren Tiefpunkt und schaltet im Moment der Hoffnungslosigkeit die Geräte ab.[34] Die Verzweiflung korrespondiert mit dem Grauen Blaise Pascals im Angesicht der Endlichkeit, „wenn ich bedenke, dass das ganze Weltall stumm und der Mensch ohne Einsicht sich selbst überlassen ist wie ein Verirrter in diesem Winkel des Weltalls.“[35] Beeinflusst vom Sauerstoffmangel kämpft ihr Unterbewusstsein um ihren Lebenswillen, manifestiert als Halluzination des verschollenen Astronauten Kowalski. Dessen Abbild erzeugt die Illusion, als würde er von außen die Luke öffnen – die Astronautin im Inneren hat allerdings ihren Helm nicht mehr auf. An dieser Stelle tritt völlige Stille ein.[36] Für 32 Sekunden, die Kowalski benötig, um die Kapsel zu betreten und den Sauerstoff zu aktivieren, werden alle Geräusche und jede Musik vom Vakuum des Weltalls geschluckt. Kowalski führt ihren inneren Monolog, den Kampf mit der depressiven Hoffnungslosigkeit und dem Verlust der Tochter. Darin formuliert sich der Kerngedanke, der sie zurück ins Leben führen wird: „You gotta plant both your feet on the ground and start living life.“[37]
Im letzten Viertel des Films gewinnt die Reise der Heldin durch das Abenteuer an Fahrt. Sie gelangt zur chinesischen Station Tiangong und schafft nach aufregender Flucht die Landung auf die Erde, allerdings in einen See hinein. Das Schicksal droht hier mit einem makaber-grausamen Scherz: War die Gravitation den gesamten Film über sehnsuchtsvoll zu erreichende Heimkehr, zeigt sie hier ihre ambivalente Seite, indem sie die Kapsel unter Wasser hält. Das einströmende Wasser schluckt kurzzeitig alle Geräusche. Doch auch diese letzte Gefahr meistert die Protagonistin, kämpft um ihr Leben und den Glauben an dessen Schönheit, der ihr die Kraft verleiht, die Gefahren ihrer Reise zu meistern und letztendlich wieder Boden unter ihren Füßen zu fühlen.
Der Film wird hier zur Metapher einer überwundenen Depression, die Erdanziehung zum dialektischen Januskopf: Die gleiche physikalische Bedingung, die den Menschen am Boden hält, hat durch die orbitale Gravitation die Trümmerteile in Bewegung gehalten und die Katastrophe erzeugt. Die Erde als Sinnbild der Bodenhaftung und der natürlichen Lebendigkeit wird durch den Frosch untermalt, der zusammen mit Dr. Stone aus dem Wasser auftaucht: „The Frog crosses in front of her, effortlessly swimming on its way to the surface.“[38] Komponist Price präsentiert hier im Titeltrack „Gravity“[39] erneut die bekannte Akkordfolge aus „Don´t Let Go“ (Hörbeispiel 4), um die heroische Heldinnenreise musikalisch konventionell zu lösen.
Insgesamt changiert die Musik zwischen wunderschönen melodischen Klängen und beängstigendem aggressiven Krach. Leider wagten es die Filmemacher nicht, gegen die von Hollywood geprägten Konventionen und Hörgewohnheiten der Rezipienten anzugehen und der Stille des Weltraums tatsächlich nur mittels Sound-Design diegetisch zu begegnen, d. h. auf Musik zu verzichten. Dennoch untermalt die zusätzliche Ebene der nondiegetischen Filmmusik die Spannungsmomente und Emotionen der Protagonisten in gelungener Weise. Steven Price greift routiniert auf dissonante Klangkulissen zurück, die durch Science-Fiction-Filme wie „2001“ und Horrorfilme wie „Rosemaries Baby (1968) längst zum musikalischen Standard[40] gehören. Zwar wagt Price keine avantgardistischen Kompositionen, doch finden sich auch musikalisch Gemeinsamkeiten zu 2001, wo das berühmte Stück „Atmosphères“ (1961) von György Ligeti (1923–2006) Verwendung fand und mittels Cluster-Klängen „ungeachtet der scheinbar statischen Klangfläche eine gespannte Unruhe und Nervosität“[41] andeutet.
Wie Andreas Weidinger aus seiner eigenen Erfahrung als Filmkomponist zugibt, ist „die Angst vor Stille, vor vermeintlicher Langeweile […] oft im Schneideraum sehr groß.“[42] Dies führe dazu, „der Kraft der Schauspieler und der Inszenierung nicht mehr zu trauen und aus Angst vor einem Ab- bzw. Umschalten der Zuschauer Musik einzusetzen, um eine emotionale Bedeutung zu suggerieren.“[43] Im Fall von Gravity sind die Schauspieler hochkarätig, die Vermeidung der völligen klanglichen Stille erleichtert die Illusion der filmischen Geschichte.
Schlussbemerkungen
In gewisser Weise eint Pascal und Dr. Stone dieselbe Angst. Für den Philosophen als abstrakte Furcht, für die Astronautin als konkrete Bedrohung des Weltalls. Während sich jedoch der eine Hoffnung in die Vorstellung an Gott projiziert, erkennt die andere ihre inhärent selbstbestimmte Kraft. Die Raumfahrt wird zur Metapher von Leben und Tod, die Filmmusik zur Vermittlerin der ambivalenten Stille: Einerseits ersehnt Ryan Stone die innere Stille als Läuterung ihres Geistes, um den Tod ihrer Tochter zu verdrängen. Andererseits konfrontiert sie die eisige Totenstille des Alls mit ihrer eigenen Existenz und dem Willen zu leben. Im Sinne Pascals flieht sie in Zerstreuung in den Weltraum, um der Konzentration ihrer eigentlichen Probleme zu entgehen. Erst durch die Konzentration auf sich selbst gelingt die Auseinandersetzung mit ihrer Trauer.
Während Pascal in dieser Überwindung der Zerstreuung[44] und des unruhigen Herzens die Nähe zu Gott suchte, appelliert der Film zeitgemäß an das Individuum ohne göttliche Instanz. Die Musik von Steven Price ist hierbei nicht ausschmückendes Beiwerk, sondern vertont die immerwährende Bedrohung im menschenfeindlichen Orbit und die zwischen Hoffnung und Verzweiflung wechselnden Gefühle der Protagonisten. Dr. Stone befreit sich von der physischen Fessel ihres Anzugs durch die Kraft ihres Geistes, der als mächtiges Werkzeug Antrieb und Lebenswillen verleiht. Die Raumanzüge werden zum Symbol der biologischen Unzulänglichkeit des Menschen im Angesicht der Naturgewalten, nicht nur im eisigen Weltraum. Letztendlich spiegelt sich hier die Zerbrechlichkeit des Menschen – Pascal nennt ihn das zerbrechlichste Schilfrohr, dessen Fähigkeit zu Denken ihm aber Würde und Aufrichtigkeit verleiht:
„Es ist nicht nötig, dass das All ihn vernichten würde, so wäre der Mensch doch edler als das, was ihn zerstört, denn er weiß, dass er stirbt und erkennt die Übermacht des Weltalls über ihn; das All weiß aber nichts davon.“[45]
Anmerkungen
[1] „Le silence éternel de ces espaces infinies m´effraie“, zit. nach: Wilhelm Schmidt-Biggemann, Blaise Pascal, München 1999: Verlag C.H. Beck, S. 135.
[2] Vgl. Ebd., S. 10.
[3] Die Ärzte-Brüder Deschamps vermittelten der Familie 1646 spirituelle Ratgeber des Klosters Port-Royal. Siehe dazu: Ebd., S. 14f.
[4] Vgl. Ebd., S. 29.
[5] Die Physik vor und nach Pascal beschreibt Biggemann ausführlich in: Ebd., S. 37–42.
[6] Vgl. Ebd., S. 40.
[7] Ebd., S. 42.
[8] Blaise Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), Fragment 72, übertragen und hrsg. von Ewald Wasmuth, 8. Auflage, Heidelberg 1978: Verlag Lambert Schneider, S. 43.
[9] Pascal, Pensées, Fragment 72, nach: Biggemann (wie Anm. 1), S. 135.
[10] Angela Watercutter: „The Sound of Silence: How Gravity Created a Terrifying Score for Outer Space“, in: Wired.com, 07.10.2013, online: https://www.wired.com/2013/10/gravity-space-silence-composer (zuletzt aufgerufen am 6.07.2017)
[11] Vgl. Friedrich Gerst: „The Sound of Silence“, S. 14, in: 0db, Nr. 1, hrsg. von Auditorium, S. 12–16.
[12] Alfonso Cuarón, zit. nach: Gerst: „The Sound of Silence“ (wie Anm. 11), S. 16.
[13] Benannt nach der ersten Schreck-Szene dieser Art in Cat People (USA, 1942). Manchmal auch als „Lewton bus“ bezeichnet, da das Bremsgeräusch eines Busses auftaucht. Auch hier schweigt die Musik, um Spannung aufzubauen. Siehe dazu: Guido Heldt: „Furchtbar lustig. Musik in Horrorkomödien“, S. 145, in: FilmMusik, Musik in der Filmkomödie (hrsg. von Guido Heldt, Tarek Krohn u.a.), München 2017: edition text + kritik, S. 130– 175.
[14] Vgl. Watercutter: „The Sound of Silence…“ (wie Anm. 10).
[15] Steven Price, zit. nach: Watercutter: „The Sound of Silence…“ (wie Anm. 10).
[16] Vgl. Gerst: „The Sound of Silence“ (wie Anm. 11), S. 14.
[17] Blaise Pascal, Pensées (wie Anm. 8), S. 41.
[18] Dieser stammt aus den Star Wars-Filmen auf und wird in Gravity als Running Gag mehrfach aufgegriffen.
[19] Wie Musik den Subtext einer Handlung beeinflusst, ist nachzulesen in: Andreas Weidinger, Filmmusik, Konstanz 2006: UVK Verlagsgesellschaft, S. 18f.
[20] Zum diegetischen Musikeinsatz in Filmen vgl. Tarek Krohn: „Überlegungen zum filmmusikalischen Gag“, S. 37ff., in: FilmMusik, Musik in der Filmkomödie (hrsg. von Guido Heldt, Tarek Krohn u.a.), München 2017: edition text + kritik, S. 11–42.
[21] Alfonso Cuarón: Gravity, USA 2013, DVD Gravity, Warner Bros. Entertainment 2014, Min. 04:09.
[22] Siehe dazu: Knut Holtsträter: „Science-Fiction-Film“, S. 460, in: Lexikon der Filmmusik, hrsg. von Manuel Gervink und Matthias Bückle, Laaber 2012: Laaber-Verlag, S. 459–461.
[23] DVD Gravity (wie Anm. 21), Min. 8:36.
[24] Ebd., Min. 13:07.
[25] Ebd., Min 13:51.
[26] Ebd., Min. 24:58.
[27] Ebd., Min. 26:22.
[28] Ebd., Min. 27:17.
[29] Vgl. Mike Ayers: „Secrets of the ‚Gravity‘ Soundtrack. Composer Steven Price on the score of 2013’s biggest movie“, 9.10.2013, in: Rollingstone.com, online: http://www.rollingstone.com/movies/news/secrets-of-the-gravity-soundtrack-20131009 (zuletzt aufgerufen am 6.07.2017).
[30] DVD Gravity (wie Anm. 21), Min. 31:39–32:16.
[31] Ebd., Min. 37:22.
[32] Gravity Making-Of Featurette, Min. 0:55. Online: https://www.youtube.com/watch?v=uJEkPq1WA3g (zuletzt aufgerufen am 6.07.2017).
[33] Watercutter: „The Sound of Silence…“ (wie Anm. 10).
[34] DVD Gravity (wie Anm. 21), Min. 1:00:00.
[35] Blaise Pascal, Pensées (wie Anm. 8), Fragment 693, S. 318.
[36] DVD Gravity (wie Anm. 21), Min 1:01:32–1:02:04.
[37] Ebd., Min. 1:04:11.
[38] Gravity Making-Of Featurette (wie Anm. 16), Min. 1:09.
[39] Vgl. Steven Price, Gravity, Bearbeitung für Klavier solo, Köln 2013: Alfred Publ., S. 2ff.
[40] Vgl. Peter Moormann (Hg.): Klassiker der Filmmusik, Stuttgart 2009: Reclam, S. 13.
[41] Sascha Koebner: „2001 – Odyssee im Weltraum“, S. 184, in: Moormann (Hg.): Klassiker der Filmmusik (wie Anm. 40), S. 183–186.
[42] Weidinger (wie Anm. 19), S. 26.
[43] Ebd., S. 21, Fußnote 5.
[44] Pascal versteht hierunter eher unterhaltenden Zeitvertreib (Divertissement). Siehe dazu: Biggemann (wie Anm. 1), S. 127.
[45] Blaise Pascal, Pensées (wie Anm. 8), Fragment 200/347, S. 167.
Attila Kornel promoviert zur Stille als Ambivalenz moderner chinesischer Musik am Institut für Musikwissenschaft der WWU Münster.