Der Feed als Kulturtechnikvon Annekathrin Kohout9.4.2018

Start mit Facebook, Twitter, Tumblr

[aus: Pop. Kultur und Kritik, Frühling 2018, Heft 12, S. 10-17]

Rückblickend ging es im Social Web der 2000er Jahre ziemlich stupide zu. Auf schuelerVZ oder Facebook klickte man sich durch Profile, sah sich an, was andere als Hobbys oder Lieblingsfächer eingetragen hatten und welchen Gruppen sie beigetreten waren. Ganz gewiss waren letztere besonders aufregend, weil sie mit Namen wie »Wenn ich groß bin, heirate ich Willy Wonka« oder »Wer braucht schon Schule, wenn es Google gibt« ein wichtiges i-Tüpfelchen des gesamten Profils, seinen Schönheitsfleck, darstellten. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich in ungefähr 25 Gruppen, darunter »Ja, du lachst. Das ist oft so. Leute lachen, und dann sind sie tot«. Gruppen waren eine wichtige Technik zur Selbstdarstellung im Netz, mit ihnen ließ sich die eigene Persönlichkeit und eine Haltung vielfältiger zum Ausdruck bringen als durch das simple Auflisten von Lieblingsfarben, Schulfächern oder Hobbys. Gruppen haben die Nutzer*innen außerdem online gehalten: stets wurden lustigere und praktischere gesucht oder angelegt.

Beispiel für studiVZ-Gruppen, 2008

Heute spielen Gruppen keine große Rolle mehr. Vielmehr erregt der Feed auf den Startseiten der Sozialen Netzwerke die größte Aufmerksamkeit. Sie sind zumeist die ersten Seiten, die im Internet aufgesucht werden. Von den dort eingehenden Verlinkungen geht es zu Nachrichtenseiten oder Blogs, Einkaufsangeboten oder Spielen. Bei Facebook nennt man diese Front- oder Startseite ihrer wichtigsten Funktion entsprechend »Newsfeed«, bei Twitter heißt sie »Timeline«, bei Tumblr »Dashboard«, bei fast allen spricht man aber auch einfach nur von »Feed« oder noch allgemeiner von »Algorithmus«. Denn letzterer bestimmt die dort angezeigten Inhalte wesentlich mit.

Im Newsfeed sammeln sich Kontakte und Interessen, Inhalte von befreundeten Personen, aber auch von solchen, die man kaum kennt, aber schätzt, und schließlich jenen, die man aus strategischen Gründen »Freund« nennt. Außerdem Inhalte von Zeitungen, Zeitschriften, Blogs – auch von Gruppen (bei Facebook) – und natürlich sehr viel Werbung. Der Facebook-Newsfeed oder die Twitter-Timeline vermitteln ihren Nutzern das Gefühl, einen Überblick zu erhalten und gleichzeitig etwas ganz Spezielles oder Persönliches zu erfahren. Der Feed ist der wichtigste Austragungsort für das soziale Leben im Internet und der Zugang zum restlichen World Wide Web. Ein langer Eingangsflur, von dem aus unzählige Türen abgehen.

Eingeführt wurde der Newsfeed von Facebook im September 2006. Bis dahin konnten die Inhalte von Freunden, wie auch bei den damals vergleichbaren Sozialen Netzwerken aus Deutschland (schuelerVZ, studiVZ oder meinVZ), zwar eingesehen werden, allerdings mussten Nutzer*innen dafür direkt die Profilseiten der jeweiligen Personen besuchen. Auf dieser statischen Seite mit einer mehr oder weniger definierten Menge an Informationen hielt sich die Aufenthaltszeit der Besucher*innen in Grenzen, recht schnell war alles angesehen. Mit dem Newsfeed wurden fortan auf einer eigenen Seite – zudem der Startseite von Facebook – alle Inhalte von Freunden und gegebenenfalls (bei entsprechenden Sichtbarkeitseinstellungen) von abonnierten Fremden oder Nachrichtenseiten in Echtzeit und chronologisch angezeigt. Durch die Funktion des »Infinite Scroll«, mit dem die Seite immer – unendlich – weiter geladen werden kann, wurden und werden Nutzer*innen für eine lange Zeit auf der Seite gehalten. Das gilt auch als Grund für die Einführung des Feeds auf der Frontseite. Seit 2006 wurde der Newsfeed viele Male verändert – nicht nur sein Algorithmus, sondern auch sein Aufbau, die Formate der angezeigten Inhalte und die Interaktionsmöglichkeiten. Gegenwärtig gibt es zahlreiche unterschiedliche Formate, darunter »Facebook Live« (eingebettete Live-Übertragung von Kameraaufnahmen), »native videos« (Videos, die direkt im Sozialen Netzwerk erstellt und im Feed sofort abgespielt werden), »instant articles« (schnelle, interaktive Artikel für Leser in der mobilen Facebook-App und im Messenger) oder »Canvas ADs« (Fullscreen-Anzeigen im mobilen Facebook Newsfeed) – und viele mehr.

Mit der Einführung des Newsfeeds sollten also mehr Funktionen in das Soziale Netzwerk integriert werden, damit Nutzer*innen die Seite nicht verlassen müssen, um bestimmte Informationen zu erhalten. So wenig es heute noch vorstellbar ist, ohne Newsfeed an bestimmte Inhalte des Internets zu gelangen, so ungewöhnlich erschien dies im Jahr 2006. In einem frühen Artikel in der »Time« (06.09.2006) mit dem Titel »Inside the Backlash Against Facebook« versucht die Autorin Tracy Samantha Schmidt das Feed-Prinzip recht unbeholfen als eine glitzernde Wäscheleine zu beschreiben (»looks like a glitzy laundry list«). Sie berichtet außerdem von den unzähligen Reaktionen auf das neue Feature, das vielen Nutzer*innen zu transparent erschien. Die Vorstellung, dass alles, was man postet, auf den Newsfeeds von allen Freunden angezeigt wird, dementsprechend es auch jeder lesen könne, stellte für viele einen zu großen Eingriff in die Privatsphäre dar.

Die wohl markanteste und zugleich immer wieder kontrovers diskutierte Veränderung erfolgte jedoch durch die zunehmende Personalisierung des Feeds. Da in den ersten Newsfeeds alle abonnierten Inhalte chronologisch angezeigt wurden, zugleich Nutzer- und Angebotsseiten immer zahlreicher wurden und sich die Inhalte damit vervielfachten, regte sich Kritik an der Unübersichtlichkeit der Seite. Der Feed wurde als überwältigend und überladen empfunden. Mit altmodischen Metaphern wie der »Datenflut« wurde dieser Wahrnehmung Ausdruck verliehen. Heute ist der Newsfeed durch unzählige Veränderungen am Algorithmus nicht mehr chronologisch und auch nicht mehr vollständig, sondern eine personalisierte Auswahl, die mithilfe der auf Facebook und Partnerseiten erhobenen Daten erstellt wird. Deshalb gilt er als Entstehungs- und Austragungsort der in den letzten Jahren vielerorts problematisierten Filter-Bubble. Wenn der Begriff auch umstritten ist, so kann nicht geleugnet werden, dass der Newsfeed oder die Timeline für immer mehr Menschen der Ort ist, woher sie ihr Wissen und ihre Informationen beziehen, was wiederum die Grundlage für ihre Meinungsbildung darstellt.

Im Zuge der Kritik an der Filter-Bubble und der Art und Weise, wie in den Sozialen Netzwerken Informationen bezogen und konsumiert werden, geriet zusehend auch die Verantwortlichkeit von Facebook (als größtes Soziales Netzwerk) in den Fokus der Berichterstattung. Wer darüber verfüge, welche Informationen zu welchen Personen gelangten, müsse diese Macht auch reflektieren und verantwortungsbewusst damit umgehen. Die jüngste Veränderung des Newsfeed-Algorithmus ist nicht zuletzt eine Reaktion auf derartige Vorwürfe und Ansprüche. In einem Facebook-Posting vom 12.01.2018 kündigt Mark Zuckerberg die anstehende und bereits laufende Umstellung an: »Iʼm changing the goal I give our product teams from focusing on helping you find relevant content to helping you have more meaningful social interactions. […] The first changes youʼll see will be in News Feed, where you can expect to see more from your friends, family and groups.« Am 29. Januar gibt Zuckerberg eine weitere Änderung bekannt: Zukünftig sollen weniger globale Nachrichten beim einzelnen User angezeigt werden, sondern lokale. Der schon mal als künftiger Präsidentschaftskandidat gehandelte Zuckerberg gibt sich hier als Kommunitarist zu erkennen: »Local news helps build community – both on- and offline. Itʼs an important part of making sure the time we all spend on Facebook is valuable.«

https://www.facebook.com/zuck/posts/10104413015393571

Seit der Bekanntgabe tauschen sich User*innen im gesamten Social Web darüber aus, ob und wie sich diese Änderungen bemerkbar machen. Ich kann die allgemeine Einschätzung, die Veränderungen seien stark spürbar, leider nur bestätigen; für mich erscheint wegen der Umstellung weniger bedeutsamer ›Content‹ auf dem Newsfeed. Zwar möchte das Netzwerk, wie Zuckerberg in diversen journalistischen Beiträgen zitiert wird, mit den neuen Einstellungen ›zu seinen Wurzeln‹ zurückkehren, jedoch nutzen viele Facebook seit Jahren nicht mehr (nur) zur Verständigung mit Freunden, sondern zur Vernetzung mit Fremden und auch als Nachrichtendienst.

Bleiben wir bei der User-Perspektive und erweitern sie auf die zahlreichen benachbarten Sozialen Netzwerke (denn nur wenige nutzen ein einziges) und ihre Feeds: Wie sieht das Leben aus mit einem Facebook-Newsfeed, einer Twitter-Timeline, einem Tumblr-Dashboard und einem Instagram-Feed (mal ganz abgesehen vom Soundcloud-»Stream«, den »Hot Posts« auf Reddit, den »Neuesten Updates« auf Snapchat oder, hin und wieder, dem »Neuesten« auf Jodel)? Es gibt – bei entsprechender Follower- oder Freundesanzahl – immer etwas Neues. Auch wenn man die jeweilige App nach nur einer Minute wieder öffnet. Es gibt stets neue Links, Bilder, Nachrichten, die sich verfolgen lassen und auf die eventuell sogar reagiert werden muss. Oder die man sich zumindest merken sollte, weshalb man sie speichert (Facebook) oder auf »gefällt mir« klickt (Twitter), um schließlich so viel abgespeichert zu haben, dass es ohnehin nicht mehr gelesen wird. Es muss also immer darum gehen, zu begrenzen, auszuwählen, zu sortieren und zu ordnen. Es führt kein Weg daran vorbei, als Nutzer*in den Feed zu gestalten, damit er nutzbar wird und überhaupt erst sinnvoll ist.

Es gibt darum gute und schlechte Newsfeeds, die jeweils Ausdruck der Medienkompetenz sind – denn es gibt viele Formen der Einflussnahme auf die Beschaffenheit des Feeds, die sich von Sozialem Netzwerk zu Sozialem Netzwerk unterscheiden. Facebook gibt einen ungefähren Einblick in die Kriterien, die für die Auswahl der Verlinkungen auf dem Feed verantwortlich sind, so werden etwa Beiträge von Freunden gegenüber denen von Unternehmen priorisiert; Absender, aber auch Formate, mit denen man viel interagiert, werden häufiger angezeigt; Beiträge, die viele Klicks, Likes und Kommentare erhalten, tauchen bei mehr Menschen im Newsfeed auf.

Umgekehrt bedeutet das: Jeder kopflose Klick beeinflusst den Feed negativ. Mit gezielten Klicks kann hingegen gestaltet werden. Facebook hat zudem Funktionen eingebaut, mit denen grundsätzlich Einfluss auf den Newsfeed genommen werden kann. Denn, so heißt es auf der eigens zur Optimierung des Feeds eingerichteten Hilfeplattform: »Wir wissen, wir bekommen es nicht immer richtig hin, und letztlich entscheidest du, was dich interessiert und welche Beiträge du sehen möchtest, darum bieten wir dir spezielle Einstellungen, mit denen du dein Benutzererlebnis personalisieren kannst.« Was Nutzer*innen tun können: In den Facebook-Einstellungen lassen sich Freunde und Betreiber auswählen, die zuerst angezeigt werden sollen; Personen und Betreiber können »entfolgt« beziehungsweise »entabonniert« werden. Dabei bleibt man jedoch befreundet, sprich vernetzt; direkt im Feed können unbeliebte Beiträge und Werbung einer bestimmten Art aber ausgeblendet werden.

Bei Twitter spielt der Feed, die »Timeline«, eine etwas andere Rolle. Sie wird stärker als bei Facebook über die Zusammensetzung der Kontakte definiert, die sich zudem chronologisch für Fremde nachvollziehen lässt. Hin und wieder schaue ich mir zum Beispiel an, wie andere ihre Timeline zusammengestellt haben: Wem sind sie zuerst gefolgt? »Spiegel Online« oder Justin Bieber? Freunden und Bekannten oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens? Wer folgt nicht nur Gleichgesinnten, sondern auch politischen Gegnern? Was man hingegen nicht sehen kann: Wer entfolgt wurde. Zudem ist es auf Twitter in verschiedenen (häufig intellektuellen) Milieus zum Statussymbol geworden, nur einer kleinen, ausgewählten Anzahl an Personen und Institutionen zu folgen (und im Idealfall auf der anderen Seite eine große Followerschaft aufzuweisen) – weil es auf eine vermeintlich gut durchdachte Timeline verweist.

Ein interessanter Effekt des Newsfeeds ist, dass er zur Interaktion mit Inhalten anregt: zu Kommentaren, Diskussionen, Reaktionen, Klicks. Themen können entdeckt werden, häufig kommt man so von einem Diskurs zum nächsten. Neulich habe ich mir Amazon Echo zugelegt. Einerseits hat sich Alexa als überaus hilfreich erwiesen – ich nutze z.B. die Morgenroutine, bei der die künstliche Intelligenz mir die Nachrichten vom Deutschlandfunk abspielt, das Wetter ansagt und danach zu mir spricht: »Guten Morgen, liebes Vögelchen – Los, schnapp dir den Wurm!«. Das habe ich ihr so beigebracht, es eingestellt. Außerdem habe ich ein paar Smart-Home-Features installiert, sodass Alexa mir verschiedene Lichter anmachen kann, wenn ich sie danach frage. Andererseits aber blieb der Sprachcomputer bisher eher eine Spielerei. Zwar ist zu Beginn genug Kreativität für die ein oder andere lustige Frage vorhanden (»Alexa, was hältst du von Siri?«), nach einiger Zeit erschöpft sie sich aber. Anders als auf den Social-Media-Feeds kommt man bei Alexa nicht von einem Thema zum nächsten, wird nicht von ihr angehalten, weiter zu fragen oder Neues zu entdecken, an Diskussionen zu partizipieren. Alexa macht Grenzen bewusst, wo unbegrenzte Möglichkeiten da sind. Der Newsfeed gibt einem hingegen das Gefühl, aktiv zu sein, interessiert zu sein, engagiert zu sein. Er lässt ein positives Selbstbild entstehen, wohingegen Alexa ein kreatives Loch sichtbar macht oder Ohnmachtsgefühle aufkommem lässt.

Im Feed kommen die Informationen zu den Nutzer*innen, sie müssen nicht eigens aufgesucht werden. Das ist alles andere als belanglos, musste man doch bis vor einem Jahrzehnt entsprechenden Aufwand betreiben, um an Wissen und Informationen zu kommen. Zwar lassen sich Vorläufer jener Dienstleistung, die der Newsfeed erbringt, benennen: Man denke an frühe Formen mobiler Berichterstattung wie die reitenden Boten des Mittelalters oder das sog. und in der Vor-Internetzeit etablierte Presse-Clipping, bei dem für Auftraggeber ausgewählte Zeitungsausschnitte zur Medienbeobachtung gesammelt, aufgearbeitet und zu einem Mediensample zusammengestellt wurden. Solche Formen der Informationsdienstleistung waren allerdings teuer und daher exklusiv, nur Prominenten oder sehr wohlhabenden Persönlichkeiten vorbehalten. Durch Datensammlung und entsprechende Algorithmen konnte diese Exklusivität aufgelöst werden. Allerdings kommen im Newsfeed oder in der Timeline weitaus mehr Informationen als nur Medienberichte zusammen. Aber die Bewegungsrichtung ist dieselbe: Die Informationen kommen zu den Nutzer*innen, nicht umgekehrt.

Diese Frage nach der Bewegungsrichtung hat Boris Groys in seinem Aufsatz »Die Topologie der Aura« (in dem 2003 publizierten Sammelband »Topologie der Kunst«) zum Anlass genommen, um das Problem der Definition von Original und Reproduktion zu lösen – das sich in der Kunst insofern als Problem darstellt, als man Originale aus Reproduktionen schafft (»Der Akt der Kunstproduktion ist selbst zu einem Akt des Shoppings geworden«) und umgekehrt. Er schreibt in Anlehnung an Walter Benjamin: »Wenn man sich zu einem Kunstwerk begibt, ist es ein Original. Wenn man das Kunstwerk zwingt, zu einem zu kommen – ist es eine Kopie.« Daraus ließe sich nun schlussfolgern, das Internet und damit auch der Newsfeed sei als eine Welt der Reproduktionen anzusehen. Groys verneint dies allerdings sogleich. Für ihn operiert das World Wide Web nicht mit Kopien, sondern, wie das Museum, ausschließlich mit Originalen – weil jede Seite eine eigene Adresse (URL) zugewiesen bekommt und damit ein Ort ist, den man aufsuchen muss.

Über diesen kleinen Umweg zurück zum Newsfeed: Er vereint unter einer einzigen URL eine Vielzahl von Links. Diese Links müssen der Logik von Groys nach als Kopien der originalen Adressen gelten. Im Newsfeed, wo die Informationen, das Wissen, die Kunst – all das, was man verlangt – zu einem kommen, fungieren sie als Reproduktionen. Das ist deshalb interessant, weil es sich unter Autoren, Journalisten und Intellektuellen – die keinesfalls als kulturpessimistisch zu bezeichnen sind – etabliert hat, bei Publikationen im Printbereich darauf hinzuweisen, den »Kiosk« (Retrobegriff) aufzusuchen. Zum Kiosk »zu gehen«. Dort gibt es die Originale.

Der »Infinite Scroll« wiederum suggeriert, im Gegensatz zur Personalisierung und Selektion der Inhalte, man erhalte alle Informationen, wenn man nur lange genug scrolle. Hier wird der Unersättlichkeit entgegengekommen, der Sucht nach immer mehr, immer neuer Information. Manchmal wird das Scrollen dadurch regelrecht zum Automatismus. Dann blickt man nur kurz auf und bemerkt, dass gar nichts gelesen, sondern nur gescrollt wurde. Wenn man aber ehrlich ist und einen Blick zurück auf die Zeit unmittelbar vor der Einführung des Feeds auf den Frontseiten Sozialer Netzwerke wirft, war es viel schwerer aufzuhören, wenn man sich gerade Seite für Seite zum Beispiel durch eine Gruppendiskussion geklickt hatte und wusste: Irgendwann ist es geschafft, irgendwann sind alle Seiten durchgesehen. Leider wurde ab einer bestimmten Seitenanzahl nicht mehr angezeigt, um wie viele es sich insgesamt handelte, sodass immer weiter geblättert wurde, nicht mehr aufgehört werden konnte, weil ja die Möglichkeit bestand, dass es nur noch zwei Seiten sind bis zum Ende. (Meistens standen dann natürlich noch mindestens 20 bevor.) Insofern lehren der Infinite Scroll und die Timeline auch, nie fertig werden zu können, niemals ein Ende in den Blick nehmen zu können. Er ist das Sinnbild der – möchte man es negativ formulieren – ›Datenflut‹ oder des – neutraler gesagt – ›Streams‹, der nie endet und zugleich das wichtigste und sinnvollste Werkzeug, um damit umzugehen.

https://www.tumblr.com/sofrischsogut/142678061648/aquatic-metaphor

Die Berichterstattung über den Social-Media-Feed dokumentiert in den meisten Fällen, wie es Nutzer*innen möglich ist, auf anderen Newsfeeds oder Timelines häufiger aufzutauchen – also sich bestmöglich zu vermarkten und zu verbreiten. Nur sehr selten zeigt sie auf, wie man an bessere, interessantere, vielfältigere, individuellere Informationen kommen, ja wie ein Feed zum eigenen Nutzen gestaltet werden kann. Zwar wird auf einzelnen Blogs und in einem sehr einsamen Beitrag in dem von Kathrin Passig initiierten »Techniktagebuch« die Beschaffenheit des Newsfeeds reflektiert, allerdings blieb die Würdigung des Feeds als wichtigste Kulturtechnik des Social Webs bisher aus. Vereinzelt setzen sich Blogger höchstens mit der Frage auseinander, wie man den Feed mal wieder »reinigen« oder »ausmisten« könne – schließlich muss hin und wieder auch wegen einer sozialen Verpflichtung der »Folgen«-Button geklickt werden, und dann gibt es gleich ungewollte Beiträge auf der Timeline. Es sammelt sich also im Laufe der Zeit viel Überflüssiges an. Unter Blogbeiträgen wie »Räume Deinen News Feed auf!« (thomashutter.com) oder »Facebook säubern: 15 Tools für die Grundreinigung« (chip.de) werden im Internet allerlei Tipps gegeben, wie die Timeline aufgeräumt werden kann. Es ist durchaus vorstellbar, dass daraus zukünftig eine sehr sinnvolle Dienstleistung entsteht, ein Reinigungsunternehmen für Facebook-Newsfeeds und Twitter-Timelines. Auch Workshops dazu wären hilfreich. Wie wäre es zum Beispiel mit »Gestalte deinen Feed! – Für Anfänger«? Oder »Wege zur besseren Timeline«? Wer sich um die eigene Mitbestimmung bemüht, kann sich schließlich mehr als Auftraggeber – ganz wie einst ein Prominenter, der einen Clipping-Service in Anspruch nahm – und weniger als Opfer von Datensammlern oder Filterblasen fühlen.