Pop, Kunst, Tierbabys und Spielhallen
Das ist Tokio vom Kaiserpalast aus betrachtet, der leeren, da nicht öffentlich betretbaren, Stadtmitte. Das Foto ist keinesfalls bearbeitet; dass die Bäume anstatt mit Wasser mit grüner Farbflüssigkeit gesprenkelt wurden, halte ich aber für wahrscheinlich. In Tokio liebt man es, wenn das Natürliche so aussieht, als sei es vollkommen künstlich. Ja, das Künstliche besitzt einen sehr hohen Stellenwert und steht keinesfalls – wie bei uns – für das Unechte, Manipulierte, Nichtauthentische etc.
Man sieht es zwar nicht gut auf dem Foto, aber der perfekt getrimmte saftgrüne Rasen reicht exakt bis zum Baumstamm: Da ist kein Stück Erde, geschweige denn ein kleiner Hügel ringsherum zu sehen! Dadurch wirken die Bäume, als seien sie gezielt auf der Fläche platziert worden – und nicht, als hätte sich Natur brutal ihren Weg ans Tageslicht gebahnt.
Diese wunderschönen Trauben kosten jeweils 17.280 Yen. Das sind 140,48 Euro! Dafür besitzt keine der Trauben auch nur EINEN kleinen bräunlichen Fleck und schon gar keinen Riss, aus dem Flüssigkeit herausläuft und durch den Schimmel droht. Adé Naturprodukt, dass du so unbeherrschbar und fehlerhaft bist! Diese Traube hingegen ist schlichtweg perfekt, als sei sie aus Glas oder Kunststoff. Im Geschmack unterscheidet sich das makellose Obst angeblich nicht von seinen Artverwandten. Unter wohlhabenden Japanern sind die Trauben ein typisches Gastgeschenk: Nach dem Essen werden sie von der Tischgesellschaft gemeinschaftlich bestaunt und dann verspeist.
Japan ist bekannt für seine Plastikgerichte, die sich üblicherweise in der Auslage fast aller Restaurants befinden. Damit wird für das angebotene Essen geworben: Je realistischer es aussieht, umso mehr zieht es die Passanten in das Lokal. Weil sie so teuer sind, gelten die Plastikgerichte aber auch als Statussymbol für die Restaurants, manche haben fast die gesamte Speisekarte dreidimensional umgesetzt.
Natürliches wird auch als indiskret oder gar als Zumutung empfunden. Da selbst die Japaner bisher nichts gegen den menschlichen Stoffwechsel unternehmen konnten, haben sie ihre Toiletten dergestalt eingerichtet, dass direkt neben der Klobrille eine ganze Palette an Knöpfen installiert ist, mit denen man Geräusche, meist Spülgeräusche, auslösen kann. Man betätigt die Knöpfe, bevor das Geschäft beginnt, um es zu übertönen. Dabei kommt es erstaunlicherweise, obwohl Tokio eine der größten Städte der Welt ist, ohnehin nur selten vor, dass mehrere Menschen zugleich in einem Toilettenraum sind. Ich weiß einfach nicht, wie, aber die Japaner schaffen es stets, sich unsichtbar zu machen. Sie sind immer und zu jeder Zeit diskret und zurückhaltend; es ist nie sehr laut (außer im Restaurant, wo geschlürft und geschmatzt wird), und einzelne Menschen beanspruchen fast keinen Raum für sich.
Die Tokioter U-Bahnen sind übrigens – Überraschung! – bis auf wenige Stoßzeiten auch hin und wieder völlig leer. Und wie sauber es ist! Das gilt für ganz Tokio – obwohl es nirgends Mülleimer gibt; und wenn, sind sie geleert. Ich hege die Vermutung, dass es Undercover-Straßenreiniger gibt. Einmal habe ich, nach circa einer dreiviertelstündigen Suche zu Fuß, einen Mülleimer entdeckt, das Papier von meinem Matcha-Eis darin entsorgt, plötzlich bewegte sich ein Mann neben mir (seit wann hatte er da gestanden?) automatisch und wie in einem Computerspiel zum Papierkorb, entnahm meine entsorgte Verpackung und verschwand damit.
In Tokio sind gefühlt alle Tiere Babys und süß. Bei uns gibt es ja durchaus auch hässliche Tiere, viele sogar, und wenig Babys, aber in Tokio sind die Tiere so perfekt wie das Obst – und oftmals zudem gut gekleidet. Es gibt ganze Läden nur mit Tierbabys, andere für ihre Kleidung. Zoohandlungen kann man die exklusiven Geschäfte einfach nicht nennen. In tiptop gereinigten Glaskästen befinden sich DURCHWEG die niedlichsten und makellosesten Tierbabys, die man jemals gesehen hat. Im Hintergrund läuft instrumentale Entspannungsmusik, wie hierzulande beim Frauenarzt. Alles ist so relaxed, sauber (natürlich war in keinem der Katzenklos Kot…), so frei von Sorgen, dass man es kaum aushält, nicht zu kaufen und zu kuscheln.
Japan ist wahrscheinlich das Niedlichkeitszentrum der Welt, und da das Niedliche mittlerweile weit über die Landesgrenzen hinaus (und nicht nur der Meinung von Sianne Ngai nach) zu einer der bedeutendsten ästhetischen Kategorien geworden ist, erweist sich das Land einmal mehr als Trendsetter.
Obwohl die Tokioter Taxis Glauben machen, man befände sich in den 1970er Jahren…
Es muss in Japan deutlich mehr Tier-Influencer geben als hierzulande. Wer Tieren auf Instagram folgt, ich inklusive, empfindet die Kostüme und daraus entstehenden Gags meist ganz kurzweilig und witzig. In echt sind die kleinen Anzüge aber nicht sehr glamourös. Auch die Entstehungsbedingungen zu sehen, macht weniger Freude.
Wenn die Tiere nicht verkauft wurden und keine Karriere als Influencer gemacht haben, arbeiten sie offenbar in einem der äußerst populären Tier-Cafés (es gibt für sämtliche Tierarten Cafés in Tokio: für Katzen, Igel, Eulen etc.). Tierschützer brauchen sich (im Gegensatz zu den Fotoshootings der Tier-Influencer) darüber keine Sorgen machen, ich habe es selbst überprüft, die Katzen werden nicht nur – offensichtlich – gut gepflegt, sondern auch vor kuschelgierigen und grabschenden Tourist*innen non stop beschützt. Trotzdem: Bei all dem tauchen auch schon mal kulturpessimistische Gedanken auf und man kommt kaum umhin, etwaige küchenpsychologische Thesen aufzustellen: Ist das kontrollierte Kuscheln nicht ein Ausgleich für fehlende Körperkontakte im Alltag, hilft es nicht gegen die Einsamkeit des Lebens in einer Megastadt? NATÜRLICH NICHT. Vielleicht nicht. Jedenfalls sind dort nur Touristen zugegen.
Als Außenstehende lässt sich über Tokio oder Japan kaum ein Urteil fällen. So diskret, fokussiert und spirituell vieles auf der einen Seite ist, auf Aufmerksamkeit und Kontemplation bedacht (z.B. bei einer Teezeremonie), so laut, schnell und dezentriert ist es auf der anderen Seite. Wie die Stadt selbst nicht Zentrum und Peripherie besitzt – so sind unsere Städte ja meistens organisiert –, gibt es auch ein Nebeneinander und eine Gleichzeitigkeit von Laut und Leise, Schnell und Langsam, Konsum und Religion, Pop und Klassik. In den Tempeln kommt beides immer sehr schön zusammen, wie im Bild zu sehen ist (der Tempel befindet sich hinter den Buden).
Es gibt ihn wirklich, den Friedhof der Kuscheltiere, und er befindet sich direkt in einem der größten und bedeutendsten Schreine in Tokio: dem Meiji-Schrein. Tausende Kuscheltiere, alte wie neue, traditionelle wie popkulturelle, stapeln sich an mehreren Orten der gut besuchten Anlage. Auf erklärenden Schildern steht „Thanks Dolls“. Große Tüten voller Puppen geben Japaner (keine Touristen) an einer Sammelstelle des Tempels ab. Von Zuständigen, die weiße Kittel tragen und damit den abgenutzten Sachen eine gewisse Sterilität verleihen, wird das Mitgebrachte dann mit großer Sorgfalt im Kuscheltierfriedhof platziert. Aber warum nur? Profan ausgedrückt, legitimiert die Sammelstelle das Ausmisten gebrauchter Gegenstände. Nicht nur Puppen, sondern auch alte Kleidung oder Küchenutensilien können – in anderen, weniger repräsentativen Tempeln – abgegeben werden. Dahinter steckt die spirituelle Idee, dass alle Gegenstände eine Seele haben: Werden sie aber nicht mehr verwendet, wird aus der guten Seele ein böser Geist. Deshalb müssen alte Dinge ausgemistet werden (außerdem sind die japanischen Wohnungen sehr klein, gleichzeitig wird sehr, sehr viel konsumiert). Und da Ausmisten keine leichte Angelegenheit ist, wie wir von Marie Kondō gelernt haben, kann man alte Sachen den Göttern zum Geschenk machen.
In Tempeln muss man Geld, Liebe, Gesundheit nicht erbeten, sondern kann sie sich in Form von Glücksbringern kaufen. Auch Zukunftsprognosen können erworben werden. Falls sie einem nicht zusagen sollten, gibt es keinen Grund zur Panik: Man kann sie einfach an eine dafür vorgesehene Wand knoten (siehe Bild) und sich eine neue Prognose holen.
Deutlich mehr Menschen suchen ihr Glück allerdings nicht in Tempeln, sondern in Spielhallen: der größte Anbieter ist Pachinko & Slot, seine mehrstöckigen Hallen befindet sich beinahe an jeder Straßenecke und sind rund um die Uhr besucht. Unzählige Automaten stehen in langen Reihen, vor ihnen sitzen meist Männer in Anzügen. Die Geräuschkulisse aller Automaten ergibt ein fast unerträglich lautes Rauschen. Patchinko ist kein junges Phänomen, schon in Roland Barthes „Reich der Zeichen“ (1970) erhält der Spielbetrieb ein eigenes Kapitel, in dem es heißt: „Man sagt, der Umsatz der Patchinko sei ebenso groß wie der Umsatz sämtlicher Kaufhäuser Japans. (Oder sogar noch größer.)“ Natürlich hat man in den letzten Jahrzehnten versucht, die illegalen Spielhallen mit strengeren Gesetzen unter Kontrolle zu bringen. Deshalb kann man auch kein Geld mehr gewinnen, sondern lediglich merkwürdig aussehende Schnitzfiguren. Zwei Häuser weiter können diese dann an einen „Sammler“ weiterverkauft werden.
Alle Erwachsenen spielen in Tokio. Neben Patchinko & Slot gibt es unzählige Spielhallen, die beinahe ausschließlich aus Greifarm- und/oder Capsule-Automaten bestehen. Diese sind mit den verschiedensten Gewinnen bestückt: Von Kuscheltieren, gruseligen Masken bis hin zu technischen Geräten. Zudem gibt es Spielzeuggeschäfte, angesichts deren Duncan’s Spielzeugladen aus „Home Alone 2“ mickrig aussieht. Siebenstöckig und bis zur Decke voll mit allerlei Figuren und Spielen, alle bewegen sich und geben Laute von sich, die noch lange nach dem Besuch im Geschäft im Kopf weitersummen.
Dieses Foto zeigt das Tor zum Stadtteil Akihabara, dem „Mekka“ der Mangakultur. Hier habe ich gelernt, dass Popkultur und Porno in Japan sehr eng miteinander verbunden sind. Daran macht sich bemerkbar, dass es keine emanzipatorischen Bewegungen gegeben hat. Wenn man sich nichtsahnend und in Erinnerung an die Kindheit schwelgend Sailor-Moon-Spielfiguren ansieht, dann glaubt man plötzlich, der Kampfspruch „Im Namen des Mondes werde ich dich bestrafen!“ könnte auch aus „Fifty Shades of Grey“ stammen – fällt der Blick doch auf direkt daneben platzierten Sexspielzeuge und Hardcorepornos.
Tokio ist nicht nur das Niedlichkeitszentrum der Welt, sondern dort befindet sich auch ein bedeutendes Popkulturzentrum: der Nakano Broadway. Entwickelt wurde die Anlage während des Wirtschaftswachstums 1966, als ein idealer Wohnkomplex, der in den unteren Geschossen Geschäfte, Restaurants und Dienstleistungen aller Art integrierte, außerdem Luxusapartments, und auf dem Dach Gärten, Poolanlagen und Parkplätze bereitstellte. Zudem war die Errichtung des Nakano Broadway getragen und mitfinanziert durch die erfolgreichen Olympischen Spiele von 1964 und stellte eine Zukunftsvision des urbanen Lebens dar. Die Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren wirkte sich auch auf den Nakano Broadway aus; erst während der Bubble Economy in den späten 1980er Jahren gelangte der Komplex zu seinem heutigen Erscheinungsbild: einem Paradies für sogenannte Otakus (Nerds/fanatische Fans).
Auf vier sagenhaft großen Etagen gibt es Geschäfte für japanische Mangas, Animes, Comics, Video Games, Idols, Cosplay, Capsule Toys – aber auch Läden mit Fan-Produkten aus der internationalen Popkultur, nicht nur der Gegenwart, sondern ebenso der Geschichte. In Retro- und Pop-Antik-Geschäften findet man originale Merchandise-Artikel vom Filmstart von E.T. aus dem Jahr 1982 – zum Beispiel. Oder M&M-Aufsteller aus den 1950ern (da gab es das Produkt noch nicht einmal in Europa!). Oder die erste Elvis-Barbie. Oder Mickey Maus-Figuren sämtlicher Jahrzehnte. Oder die allerersten Star-Wars-Spielfiguren, die von Kenner 1977–85 produziert wurden. Oder, oder, oder.
Einer der größten Anbieter von gebrauchten Anime- und Manga-Produkten in Tokio ist Mandarake. In unterschiedlichen, jeweils anders spezialisierten Läden bietet das Unternehmen historische Sammlerstücke, VHS-Kassetten, DVDs, CDs, gebrauchte Mangas, Spielzeug und eine große Anzahl von Dōjinshi (von Amateuren im Selbstverlag herausgegebene Mangas) an. Mandarake steht daneben aber auch für japanische Subkultur; in eigenen Läden werden die Arbeiten japanischer, wie soll man dazu sagen, „Monster-Künstler“ angeboten. Die Figuren von kaijutan oder izumonster werden in den entsprechenden Geschäften in gut beleuchteten Vitrinen ausgestellt und als Kunstwerke behandelt – sind aber zugleich Teil japanischer Popkultur. Kunst und Pop referieren nicht gegenseitig aufeinander, sondern sind ein- und dasselbe.
Deshalb ist es auch ganz und gar nicht befremdlich, dass Takashi Murakami Ausstatter eines Cafés im Nakano Broadway ist. Dort werden seine lustigen Blumen nicht nur auf Hamburger getoastet oder auf den Milchschaum eines Cappuccinos gestäubt, sondern auch Fanartikel (oder sind es schon Multiples?) seiner Kunst in Form von Stofftieren, Kissen oder Stickern zum Verkauf angeboten. Ganz wie in einer Galerie steht der Preis nicht an den Objekten, sondern es muss ganz diskret eine Preisliste an der Theke erfragt werden.
In Japan haben Künstler echte Fans, was natürlich daran liegt, dass es so tolle Fanprodukte zu kaufen gibt…
In Tokio gibt es nicht nur kein Problem mit Künstlichkeit, sondern auch kein Problem mit Kopien, Reproduktionen, Wiederholungen. Natürlich leben auch in Tokio coole Kunststudent*innen, die wissen dann angeblich nicht, dass zu den zwei Hauptattraktionen ihrer Stadt eine Kopie des Eiffelturms (der sogenannte „Tokyo Tower“) und eine Kopie der Freiheitsstatue zählen. (Sie wissen es vermutlich auch deshalb nicht, weil es kein ‚camp’ gibt und nicht so einen starken ironischen Umgang mit Trash). Aber ansonsten…Hier stelle ich ein Foto von John Lennon vor der echten Freiheitsstatue nach.
Ich kann diesen Reisebericht nicht enden lassen, ohne über das Beste zu sprechen, das Japan zu bieten hat: Essen. Japanisches Essen ist das köstlichste Essen der Welt, fein und leicht, weshalb man auch immerzu essen kann und sich kaum mäßigen muss. Ich esse auch sehr gern mit Stäbchen, zumindest hierzulande, aber in Japan ist das eine deutlich größere Herausforderung, da vieles, was man an Gerichten vorgesetzt bekommt (selbst in Tokio gibt es kaum englischsprachige Speisekarten, nur bebilderte, und man zeigt dann wahllos auf irgendetwas), Konsistenzen hat, die, naja, eben wabbelig und flutschig sind. Wenn man derartige Speisen in die Stäbchen einzuspannen versucht, dann schwabbeln sie davon – und deshalb ist man stets versucht, die wabbeligen Formen mit den Stäbchen aufzuspießen. Aber wehe! Einmal erlaubte ich mir in einem Restaurant diesen Fehler und der Dame neben mir sind die Fischgedärme im Halse stecken geblieben und die Augen fast herausgesprungen! Sie erklärte mir, dass man zwei Dinge mit Stäbchen NIEMALS machen darf: Essen auf Stäbchen aufspießen und Essen mit Stäbchen weitergeben. Weil – und mit dieser aus unserer Perspektive wohl etwas makabren Geschichte endet dieser Beitrag – eine traditionelle Beerdigung in Japan wie folgt verläuft: Die verstorbene Person wird eingeäschert, allerdings bei einer Temperatur, die ausreichend Knochenreste hinterlässt; Asche und Knochen werden in eine Schale gefüllt und die Hinterbliebenen gruppieren sich darum; schließlich holt man mit den Stäbchen jeden einzelnen Knochen aus der Asche und gibt ihn reihum. Die Prozedur dauert so lange, bis alle Knochen aus der Asche sind, zum Abschluss werden die Stäbchen in die Asche gespießt.