Konsumrezension Frühlingvon Franz Billmayer25.3.2019

Zum Relaunch des ALDI SÜD-Prospekts „Meine Woche“

Irgendwann haben Supermärkte angefangen, Werbezettel zu verteilen. Wenn ich mich richtig erinnere, begann das Anfang der 1970er Jahre. Mit bedruckten Zetteln wurde auf sogenannte Sonderangebote hingewiesen. Dabei handelte es sich um zeitlich begrenzte Preisnachlässe auf einzelne Artikel aus dem Sortiment. Mit der Zeit und der Ausweitung des Sortiments gab es auch immer mehr Angebote. Erst wurden die Zettel immer größer, bis man schließlich zu Heften übergegangen ist. ALDI SÜD verteilt seit Oktober 2018 wöchentlich ein Heft mit 38 Seiten – bis zu 18 Seiten mehr als der Prospekt von LIDL (Stand Januar/Februar 2019).[1]

Die Prospekte sind längst Periodika. Die Unternehmen haben sich damit in eine selbst geschaffene rhetorische Situation hineinmanövriert,[2] mit dem Zwang, jedes Wochenende mit einem weiteren Prospekt in den Briefkästen präsent zu sein. Fehlt der Prospekt, kommt gleich der Verdacht auf, der Händler habe ökonomische Probleme.

Wie Zeitungen legitimieren auch die Prospekte ihr Erscheinen mit dem Nachrichten- bzw. Neuigkeitswert. Mit der zeitlichen Begrenzung von Preisreduktionen auf Waren aus dem Sortiment gelingt ihnen das leicht, zumal ein und dasselbe Produkt immer wieder zum Sonderangebot und damit zur Nachricht gemacht werden. 

Etwa bis in die 1970er Jahre war das für Aldi – damals noch Albrecht – ein Problem. Der Discounter hatte sich mit sogenannten Dauertiefstpreisen vom Rest der Branche abgehoben. Weil dafür Arbeitsaufwand eingespart werden musste, wurden Produkte nicht ausgepreist, weshalb Kassiererinnen die Preise aller Artikel auswendig wissen mussten. Das Sortiment wurde dadurch klein gehalten, vom Erinnerungsvermögen der Kassiererinnen begrenzt. Es gab also wenig Neues, über das man hätte berichten können, über das man die Kunden regelmäßig informieren konnte. Einen Ausweg boten da etwas später die wöchentlichen Sonderaktionen, bei denen Artikel in begrenzter Anzahl angeboten wurden. Darüber informierte ALDI mit dann mit seinem Prospekt „ALDI informiert.“

In Erwartung auf die neuen ALDI-Sonderangebote fieberte man lange nur dem Mittwoch entgegen, bis ALDI SÜD seine Prospekte Montag und Donnerstag auslieferte. Vor einigen Jahren kam dann der Samstag dazu: Da gibt es die „Wochenend-Kracher“. 

Im Februar 2019 gibt es daneben noch die „Marken-Aktion der Woche“, die Wochenaktion „Frische-Kracher zum ALDI-Preis“, den „Schnittblumen-Dienstag“, und Freitag und Samstag die „Marken-Aktion zum Wochenende“, „Genuss zum ALDI-Preis“ und „Kühle Kracher zum ALDI-Preis“. Auf der Rückseite wird nochmal auf die Highlights der Woche hingewiesen. Damit hat das ALDI SÜD-Prospekt „Meine Woche“ jetzt zehn Rubriken, in denen die Leserinnen und Leser was Neues finden. Abgesehen von Mittwoch und Sonntag ist an jedem Wochentag irgendwas Neues geboten. Da heißt es, den Überblick bewahren.

Um mehr Übersichtlichkeit zu schaffen, wurde „Meine Woche“ überarbeitet und teilweise neu aufgestellt. Im Editorial des Prospekts, der zum 8. Oktober 2018 erscheint, wird das thematisiert. Es heißt: „Liebe Kundinnen, liebe Kunden, damit es für Sie noch einfacher ist, Ihre ALDI SÜD Einkaufsliste zusammenzustellen, haben wir die Inhalte unseres Prospekts neu geordnet. […] Im ersten Teil finden Sie Lebensmittel und mehr für Ihren Wocheneinkauf zum ALDI PREIS. Im zweiten Teil finden Sie wie bisher unsere wechselnden Aktionsangebote rund um Themen, wie z.B. Mode, Freizeit, Gesundheit und Kinder. Sie erhalten die Artikel an den bekannten Tagen Montag und Donnerstag.“ (S.2f) 

Diese Ordnung hat sich allerdings nicht lange gehalten. Sie ist irgendwann zwischen Oktober und Januar aufgegeben worden. Wie früher schon sind die Prospekte wieder chronologisch aufgebaut – von Montag bis Samstag.

Die einzelnen Seiten von „Meine Woche“ folgen zwei unterschiedlichen visuellen Mustern. Zum einen gibt es die neuen Kracher- und Aktionsseiten, zum anderen die vertrauten Montags- und Donnerstagsseiten. Diese orientieren sich nach wie vor am Layout, das ALDI SÜD jahrelang benutzt hat.

Die Seiten sind relativ nüchtern gehalten. Neben erzählenden Stimmungs- bzw. Anwendungsbildern sind die Produkte als Freistelle abgebildet. Neben den Abbildungen werden Eigenschaften der Produkte aufgezählt. Im neuen Layout fallen die Preishinweise viermal größer aus als vor dem Relaunch.[3] Sie stehen nicht mehr auf Etiketten, sondern auf Farbflächen, die wie grob mit dem Pinsel gemalt aussehen. Wie früher setzen sich die Hintergründe aus zwei Flächen zusammen: Der Preis steht auf der satten, die Mengenangabe darüber auf der mit Weiß gebrochenen Farbe. Dazu kommen noch weitere Hintergrundflächen in derselben Optik und Dekorationen wie die ausfransende Linie. Ab und zu gibt es auch Clipart-ähnliche Zeichnungen wie im Feld mit dem Blizzi® Kinder-Haushaltshelfer-Set. 

Einzelne Produktinformationen werden durch gezeichnete Pfeile und handschriftliche Texte erweitert. Wie die gepinselten Flächen wirken sie spontan, schnell und skizzenhaft, irgendwie persönlich. Die Stimmungsfotos – Frau mit Staubsauger und Mädchen mit Kehrset – liegen wie ausgedruckte Fotografien auf den Seiten. Insgesamt machen diese Neuerungen die Seiten in der Wirkung taktiler. Sie sind visuell detailreicher und enthalten damit mehr visuelle Informationen. 

Auf den neuen Kracher- und Aktionsseiten kommt dieses Prinzip mit dem shabby look noch stärker zum Einsatz. Der Seitenhintergrund ist eine strukturierte Fläche, auf der dann eine große gepinselte Fläche liegt, durch die die Grundstruktur durchscheint – das erinnert an eine lasierte Holzstruktur. Auf dieser Fläche werden die Produkte mit kurzen Beschreibungen als Freisteller präsentiert. Auch der fotografierte Serviervorschlag ist eine gepinselte Fläche. 

Bei der Frische-Kracher-Seite in der Februarausgabe ist der Hintergrund ein verschwommenes Foto von Grasblättern.

Im Oktober 2018 hat diese Seite noch ein wenig anders ausgesehen. Auf dem roten Hintergrund liegen der Grashintergrund und auf diesem dann die leicht durchsichtigen Flächen, auf denen die Produkte präsentiert werden. In diesen shabby chic passt auch der runde Hinweis „ALDI PREIS“. Er sieht wie ein schlampiger Stempelabdruck aus. Dieser Effekt des fehlerhaften Hochdrucks ist momentan relativ weit verbreitet.

Schäbige Oberflächen sind interessant. Sie bieten mehr visuelle Reize als die perfekt-glatten. Kratzer und andere Spuren des Gebrauchs haben sich in die Oberfläche eingeschrieben. Während die perfekte Oberfläche einer neuen Kommode überall dieselbe Farbe hat, ändert sich das bei schäbigen Oberflächen von Zentimeter zu Zentimeter. Das macht sie offensichtlich so attraktiv, dass neue Möbel und Jeans schon im schäbigen Modus verkauft werden. 

In der analogen Welt ist der perfekte makellose Zustand eines Produkts ab dem Zeitpunkt der Fertigstellung bedroht – ihn zu erhalten kostet einen hohen Pflege- und Reinigungsaufwand. Man muss dauernd hinterher sein. In der digitalen Welt ist es umgekehrt. Dort ist die saubere und perfekte, d.h. einheitliche Fläche eines Stempels ein Kinderspiel. Dagegen erfordert der ALDI PREIS-Stempel einen gestalterischen Aufwand. Dieser Aufwand zeigt sich auch in den zusätzlichen Dekorationen, wie sie auf der Karnevalsseite von „Meine Woche“ (Kalenderwoche 9) auf Seite 14 eingesetzt werden: Farbspritzer, Luftschlangen, Masken und eine weitere Farbe bei der Werbefläche für aldifotos.de.

Und erst der Aufwand bei der Bildbearbeitung auf der Genuss-Seite! Hier wird das Fleisch vor und nach der Zubereitung auf einem Teller gezeigt, ganz dem klassischen Vorher-Nachher-Genre entsprechend, das wir aus der Werbung für Schlankheitskuren oder Schönheitsoperationen kennen.

Das neue Design dynamisiert die Seiten mit Hilfe von Raumillusionen. Das zeigt sich auch bei den Preishinweisen. Auf den Aktions- und Kracherseiten stehen sie auf breiten Pfeilen, die nach unten zeigen. Diese haben zwei Ebenen. Auf dem oben liegenden roten Element steht in weißer Schrift der Preis, auf der dahinter liegenden gelben Ebene steht in schwarz die Erläuterung zum Preis, z.B. Aktion, Saison, % oder Sortiment. Der rote Pfeil erscheint aufgrund des Farbverlaufs und des Randes plastisch. Dazu kommt, dass dieser Pfeil in den meisten Fällen die Abbildung des Produkts überschneidet – er liegt damit eine Bildebene weiter vorne. 

Bei den Montags- und Donnerstagseiten hat es vor der Überarbeitung keine Überschneidungen von Preisen und Produktabbildungen gegeben. In der Überarbeitung habe ich einige wenige gefunden, dabei liegen die Flächen mit den Preishinweisen hinter den Produktabbildungen. Aber die hellere Fläche mit den Erläuterungen liegt über der Fläche mit dem Preis.

Der Relaunch des ALDI SÜD-Prospekts „Meine Woche“ setzt mit seinem neuen Layout im Bereich der Supermarktflyer neue Standards. Aldi macht sich hier eine Strategie zunutze, die seit vielen Jahren bei BRAVO angewendet und auf hohem Niveau gehalten wird. Es geht darum, eine dichte Mischung aus Text, Bildern und Layoutelementen zu bieten, die zu Entdeckungstouren einlädt. Die Leserinnen und Leser können mit ihren Blicken zwischen den einzelnen Elementen quasi hin- und herwandern und auch noch beim zweiten oder dritten Durchblättern etwas Neues entdecken. ALDI lässt damit seinen rhetorischen Kurs des „Aldi informiert“ eine weitere Stufe hinter sich. Im Vergleich zum Logos wird das rhetorische Überzeugungsmittel Pathos gestärkt.

ALDI SÜD gibt derzeit auch andere Prinzipien aus seiner Geschichte auf: Es werden immer mehr „richtige“ Marken angeboten, die Einrichtung wird edler und man will endgültig aus der ‚billigen Ecke‘ in den Bereich ‚normaler‘ Supermärkte vorstoßen. 

 

Anmerkungen

[1] http://onlineprospekt.com/
[2] http://www.arts.uwaterloo.ca/%7eraha/309CWeb/Bitzer(1968).pdf
[3] Vgl. http://www.pop-zeitschrift.de/2016/11/30/konsumrezension-novembervon-franz-billmayer30-11-2016/

 

Franz Billmayer (*1954) ist Professor für Bildnerische Erziehung an der Universität Mozarteum in Salzburg und betreibt die Internetseite bilderlernen.at. Er hat Kunstpädagogik und Bildhauerei an der Kunstakademie München studiert, war einige Jahre Kunsterzieher an Gymnasien in Bayern, dann Professor für Kunst und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Bildhauerei an der Universität Paderborn.