Frühlingslektüre Rezension zu Rainer Metzger, »Swinging London: The Sixties. Leben & Kultur 1956-1970«von Thomas Hecken1.5.2013

»Mehr Jugendliche, mehr Wohlstand, und mehr Massenkommunikation«

Die berühmte Titelgeschichte über Swinging London illustriert »Time« Anfang 1966 mit Fotos von Diskotheken, Boutiquen, Galerien und jungen Frauen in kurzen Röcken, Bell Bottom-Hosenanzügen, bunten Plastik-Capes. Aus heutiger Sicht: das Übliche.

Im Artikeltext heißt es dazu: »everything new, inhibited, kinky is blooming at the top of London life […] a new art of living – eccentric, bohemian, simple and gay […] the haystack hair, the suspiciously brilliant clothes, the chatter about sex and the cheery vulgarity […] the latest In look for girls is the very skinny look, striped jersey dresses, a lot of yellow […] beautiful gals with long blonde hair and slimly handsome men go gracefully through their explosive, hedonistic, totally individualistic dances, surrounded by mirrors so that they can see what a good time they’re having.«

Auch das klingt gewöhnlich. Aufhorchen lässt allerdings bei der Aufzählung »eccentric, bohemian, simple and gay« der Zusatz »a new art of living«. Dass so etwas neu gewesen sein könnte, vermag man sich heutzutage, nach so vielen Pop-Boheme-Minigenerationen, kaum noch vorzustellen, man ist geneigt, es routiniert als konventionelle Werbephrase abzutun.

Dass es um mehr gegangen sein muss, kann man aber den weiteren Sätzen der Titelgeschichte entnehmen, die von wesentlich stärkerer Emphase geprägt sind. Mit den Diskotheken und den gelben Kleidern geht es um eine ganze Weltanschauung. »Time« hebt nun im Text zur Deutung an, dass die permissiv-belebende Stimmung eine viel tiefere Dimension besitze, als es die überschäumende und farbenfrohe »pop culture« selbst, mit der diese Belebung verbunden sei, auf den ersten Blick erahnen lasse. Der Grundton dieser bunten Oberfläche lautet demokratischer Wandel, lautet »new society«, Bruch mit dem alten arroganten »Establishment«. »Pop culture« sei eine Kultur »liberated by affluence«, geprägt durch eine neue Generation, charakterisiert durch verringerte Schranken zwischen den sozialen Klassen; sogar die traditionelle Geschlechterhierarchie gerät dabei ins Wanken, fasst ein Star der neuen, von der Mod-Bewegung herkommenden Generation für »Time« zusammen: »›Youth has become emancipated‹, says Mick Jagger, ›and the girls have become as emancipated as the boys‹« (Piri Halasz: »[London: The Swinging City] You Can Walk Across It on the Grass«. In: Time, 15.04.1966, S. 30-34).

Rainer Metzger bietet in seinem von Christian Brandstätter reich – die Fotoauswahl ist großartig – bebilderten Buch »Swinging London. The Sixties, Leben & Kultur 1956-1970« die Hintergründe und Einordnungen dazu. Zwar meint Metzger übertrieben kritisch, der »Time«-Beitrag habe »eher wenig verstanden« (S. 189), er führt aber selber aus: »Mehr Jugendliche, mehr Wohlstand, und mehr Massenkommunikation sind die Ingredienzen für die Sechziger und die Pop-Kultur, die sie prägt.« (S. 46) Das hatte »Time« nicht anders gesagt.

Sonst findet die Stadt und ihre bedeutende Zeit Mitte der 1960er Jahre in Metzger jedoch einen vorzüglichen, sehr gut informierten und wohl abwägenden Autor. Von den Stones bis Archigram, James Bond bis Hapshash and the Coloured Coat ist alles mit dabei, was in unterschiedlichsten kulturellen Bereichen zum Bild der Stadt und ihrer imaginären Räume beiträgt. Anders als bei Coffee-Table-Books kann hier auch derjenige viel erfahren und lernen, der schon einiges an Kenntnissen mitbringt. Dass »Gentrification« ein Begriff ist, der 1964 von Ruth Glass mit Blick auf den Londoner Stadtteil Islington geprägt wurde, war mir z.B. neu, auch, dass Goldfinger (genauer gesagt, Ernö Goldfinger) den Trellick Tower als modernistisches Wahrzeichen mit freigestelltem Aufzugturm 1968 in North Kensington vollendete (kleinere Fehler sind mir nur beim »Cool«-Syndrom aufgefallen: »Birth of the Cool« von Miles Davis ist bereits 1957 veröffentlicht worden, und Kerouacs daueraufgeregte, geschwätzige Romane als cool zu bezeichnen, scheint mir keine gute Idee zu sein). Wichtiger ist aber natürlich, dass Metzger es versteht, die vielen verschiedenen Angaben auf lesbare und zusammenhängende Weise zu präsentieren. Metzger ordnet und interpretiert sein Material sowohl stilistisch als auch inhaltlich in souveräner, aber keineswegs anmaßender Manier.

Als gute Maßnahme erweist sich zudem, dass Metzger die Mini-Epoche länger zieht und ausgiebig wichtige Vorläufer porträtiert, etwa die Independent Group (gerade in Deutschland, wo die Schriften von Hamilton, Banham und Alloway merkwürdigerweise nahezu unbekannt sind, kann das nicht schaden). Sicher, Metzgers Vorlieben und Kenntnisse werden wohl auch zu dieser Gewichtung beigetragen haben (Francis Bacon wird er als Kunsthistoriker wahrscheinlich besser kennen als die Polit-Aktivisten der Jahre 1967/68), wenn man aber bedenkt, dass Mary Quant ihre Autobiografie bereits Mitte der 60er Jahre veröffentlicht, geschieht dieser Schritt nicht grundlos.

Die wichtigste Aussage von Quant, der Metzger auch einige gelungene Absätze widmet, lautet: Das Vermögen, Mode-Trends zu etablieren, sei von der Oberschicht (bzw. der Haute Couture) auf selbstbewusste junge Frauen und ihre in Boutiquen günstig erworbenen oder aus zweiter Hand kombinierten Kleidungsstücke übergegangen: »Once only the rich, the Establishment, set the fashion. Now it is the inexpensive little dress seen on the girls in the High Street« (»Quant by Quant«, London 1966, S. 75).

Tom Wolfe widerspricht – vor dem Hintergrund seiner amerikanischen Erfahrung, dass sich in New York wie an kalifornischen Stränden eine »Pop Society« herausgebildet habe, in der sich Teenager, Fotografen, Rockstars, Camp-Bohemiens durchgesetzt hätten – dem zur gleichen Zeit jedoch, wenn es darum geht, die Mode als Indikator für grundlegende Änderungen anzusehen. Bei seinem Reportagebesuch in London vermag Wolfe eine solche Auflösung der Klassentrennung gerade nicht zu entdecken. An den wichtigen neuen Stellen, an denen über die Verbreitung der einzelnen geschmackssetzenden, hedonistischen Trends entschieden werde – in den Bereichen der Unterhaltungsindustrie, der Modefotografie, des Designs, des Journalismus und des Marketing –, säßen in erster Linie junge Angehörige der oberen Mittelschicht, die weit von der Szene der englischen »working-class mods« entfernt seien; nur bei einigen Beat-Gruppen sieht Wolfe Protagonisten der Arbeiterklasse auf dem Weg sozialen Aufstiegs (»The Noonday Underground«, in: »Weekend Telegraph«, ca. 1966).

Anders wiederum die berühmte titelgebende »Time«-Geschichte über das swingende London. »Time« kann sogar als Referenz Richard Hoggart aufbieten, den Begründer der humanistisch-sozialistischen Cultural Studies. »Time« erkennt mit ihm eine unblutige Revolution am Werke, die im Zeichen der Popkultur in London stattfinde; an die Stelle des alten »Tory-Liberal Establishments« und der Vertreter des Londoner Finanzplatzes sowie der Oxbridge-Absolventen trete nun eine überraschend neue Führungsschicht, eine »swinging meritocracy« aus Schauspielern, Sängern, Werbeleuten, TV-Verantwortlichen, Schreibern, Fotografen und nicht-elitären Akademikern. Gemeinsam sei den meisten von ihnen, dass sie unter 40 Jahre alt seien und dem britischen Kleinbürgertum oder der Arbeiterklasse entstammten: »Says Sociologist Richard Hoggart, 47, himself a slum orphan from industrial Leeds: ›A new group of people is emerging into society, creating a kind of classlessness and a verve which has not been seen before‹« (Halasz 1966, S. 30).

Metzger hält sich bei der Beantwortung der sozialen Frage zurück. Bei ihm bekommt man aber einen exzellenten Eindruck, was es heißt, in einer Zeit des Aufbruchs zu leben, die in doppelter Hinsicht Positives nicht nur verheißt, sondern materiell, alltäglich bietet: in politischer wie ästhetischer Hinsicht, bei der Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse wie bei kreativen Fluchten. Nicht von ungefähr stellt Metzger zu Beginn des Buches neben Richard Hamiltons berühmte Pop-Art-Liste (»transient, expendable, low cost, mass produced, young, witty, sexy« usf.) ein Zitat aus einem im deutschen Sprachraum unbekannten Werk: »Kultivierung von Muße, Schönheit, Anmut, Frohsinn, Begeisterung und all der persönlichen Belange, ob höherstehend, banal oder exzentrisch, die dazu beitragen, ein ausgefülltes Privat- und Familienleben zu gestalten.« Der programmatische Satz wurde 1956 veröffentlicht, er stammt vom revisionistischen Labour-Politiker Anthony Crosland, er steht in seinem Buch – das ist eine passende Pointe zum heutigen 1. Mai – »Die Zukunft des Sozialismus«.

 

Bibliografischer Nachweis:
Rainer Metzger
Swinging London. The Sixties, Leben & Kultur 1956-1970
Wien 2011
Christian Brandstätter Verlag
ISBN: 978-3-85033-356-6
368 Seiten
[eine Taschenbuchausgabe liegt seit Oktober 2012 unter dem Titel »Swinging London. Kunst & Kultur in der Weltstadt der 60er Jahre« bei dtv vor]