Von Monstern und schwankenden Gestalten – Erscheinungsformen zeitgenössischer Kapitalismuskritik Sammelrezension zu Büchern Frank Schirrmachers, Robert und Edward Skidelskys, Michael Sandels und Harald Welzersvon Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff11.6.2013

Marktschreier

2030 wird ein sattes Jahr. Wir werden nur noch 15 Stunden arbeiten – pro Woche, wohlgemerkt. Übertrieben ambitionierte Karrieristen zählen zur gesellschaftlichen Minorität. Das gewissenhafte Gros hingegen wird »wesentlich wissbegieriger, als es heute opportun ist, nach dem wahren Charakter dieser ›Zielstrebigkeit‹ fragen.« (144) Antwortend erkennen wir selbstverständlich die Liebe zum Geld als »widerliches, krankhaftes Leiden«, das wir lieber den »Spezialisten für Geisteskrankheiten« überlassen (143). Geiz empfinden wir fortan als »Laster […] das Eintreiben von Wucherzinsen [als] ein Vergehen.« (145) Wir werden Menschen sein, »die die Zwecke wieder höher werten als die Mittel und das Gute dem Nützlichen vorziehen. Wir werden diejenigen ehren, die uns lehren können, wie wir die Stunde und den Tag tugendhaft und gut vorbeiziehen lassen können, jene herrliche Menschen, […] die sich nicht mühen und die nicht spinnen.« (145-146) Ökonomen werden bescheidene, sachkundige Leute werden – ›Dentisten‹ etwa. Kurzum: 2030 werden wir »das wirtschaftliche Problem« gelöst haben.

Uns wird sich eine Welt offenbaren, in der der Genuss von fruchtiger Marmelade nicht mehr in protestantisch-asketischer Manier auf Übermorgen verschoben wird. Schließlich wissen wir alle, dass für den am Curriculum werkelnden Zukunftsplaner »Marmelade nicht Marmelade« ist. Stattdessen wittern wir eine eigentümliche Wahrheit hinter seinem ehrgeizigen Streben: »Indem er … seine Marmelade immer vorwärts in die Zukunft schiebt, versucht er, seinem Akt des Kochens Unvergänglichkeit zu verleihen.« (144) Im Endeffekt wird er nie in ihren zuckrig-klebrigen Genuss kommen – und stattdessen kochen bis in alle Ewigkeit.

Hinter dieser imaginierten Zukunft voll überbordender Marmeladenfülle verbirgt sich kein geringerer als Visionär Sir John Maynard Keynes. Bereits 1928 beantwortete der Ökonom, Mathematiker und Politiker die Frage nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten »für unsere Enkelkinder« mit einem langfristigen Optimismus.[i]

»Ego. Das Spiel des Lebens« von Frank Schirrmacher

2013 offenbart uns Frank Schirrmacher, diese »Antwort war falsch« (290). In »Ego. Das Spiel des Lebens« widerlegt er die Keynes’schen Glückseligkeitsfantasien angesichts des gegenwärtigen Krisenstakkatos von Immobilien- über Banken- bis zur Eurokrise. Statt den »herrliche[n] Menschen, die fähig sind, sich unmittelbar an den Dingen zu erfreuen« (145) und die den mühelos schwingenden »Lilien auf dem Feld« (145) gleichen, erkennt er im Zeitgenossen weniger Lilie denn »Cyborg«, ein Homunkulus mit dem Gencode 1 und 0. Wie konnte das passieren?

Bereits Adam Smith, Moralphilosoph und Begründer der klassischen Nationalökonomie, hatte die Grundbedingung alles modernen Zusammenlebens klar umrissen: »Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe«.[ii] Wer auf dem Markt handelt, handelt rational, wenn er nur auf sein eigenes Begehren schaut. So wird der Eigennutz legitimiert, standardisiert und zu guter Letzt – zum Wohle aller –idealisiert.

Doch genau diese fundamentale, selbstinteressierte Vorteilssuche stößt dem FAZ-Herausgeber missliebig auf. Schirrmacher zufolge führt das Smith’sche Zusammenspiel selbstinteressierter Einzelner weder zu einem sinn- noch zweckmäßigen Gemeinwesen. So macht er die Ursache aller sich gegenwärtig zuspitzenden Krisen im zentralen Baustoff des kapitalistischen, »stahlharten Gehäuses« aus: dem Ego. Auf Smiths Logik rekurrierend, fragt er scharfzüngig pointiert, »ob die Doktrin des »rationalen Selbstinteresses«, also des vernünftigen Egoismus, nicht gerade im Begriff ist, puren Irrsinn zu produzieren?« (45)

Eben jenen »Irrsinn« sieht Schirrmacher heraufbeschworen durch den Informationskapitalismus. Einem System, das in Zeiten der Digitalisierung und Globalisierung des Börsenhandels  – immer im ›wohlverstandenen‹ Eigeninteresse – Güter und Finanzprodukte handelt, die es womöglich gar nicht gibt, geben wird oder von denen der Mensch gar nicht wusste, dass er sie braucht. Der Informationskapitalismus wird zu einem »Geisteszustand« (10), dem Schirrmacher umfängliche Handlungs-Allmacht attestiert: »Er tut und plant große Dinge. Er will Gedanken lesen, kontrollieren und verkaufen. Er will Risiken vorhersagen, einpreisen und eliminieren.« (10)

Spätestens hier beginnt für Schirrmacher der Ausverkauf des Guten, Wahren und Schönen – und erreicht seinen Kristallisationspunkt letztlich in einer umfassenden Dynamik der gegenwärtigen Verabsolutierung von Informationen. Auch der Mensch kommt unter den Hammer, wird als Human Capital vermessen und zur Zahl degradiert: »Die Informationsökonomie bewertet Gefühle, Vertrauen, soziale Kontakte genauso wie Aktien oder Waren« (15). Der Unterschied zu früheren Zeiten ist, dass wir »zum ersten Mal in der Geschichte, die technischen Mittel [haben], dies immer perfekter zu tun.« (15)

Schirrmacher erklärt diesen Wirkmechanismus, indem er den Einzug der Spieltheorie in den Alltag nachverfolgt. Hatte ihr Know-how im Kalten Krieg die atomare Auseinandersetzung verhindert, fanden Rational-Choice-Theorien mitsamt ihren Apologeten Nash und Co. in der Folge in den Unternehmen und an der Börse neue, heißere Schlachtfelder. Ihre Szenarien wurden aktualisiert und als Raster auf Menschen und Märkte projiziert. Für Schirrmacher hat das Spiel des »beautiful mind« also erst nach Fukuyamas Ende der Geschichte richtig begonnen. Denn im Informationskapitalismus gelte nun tatsächlich: Homo homini lupus est.

Solche Thesen bergen fragwürdige Provokanz. Mit Kapitelüberschriften wie »Massaker«, »Android«, »Death Dating« oder »Massenwahn« bemüht sich Schirrmacher auch um eine verschwörungstheoretische Leserschaft. Doch wenn dem metaphorischen Bestarium zu viel Bedeutung beigemessen wird, verkennt man eine zwar dystopisch anmutende, aber stringent argumentierte Gegenwartsanalyse.

Schirrmachers Ego-Buch gründet auf einer einzigen, theoretisch wie lebenspraktisch eingängigen Beweisführung. Er beschreibt die Radikalisierung des »ökonomischen Imperialismus«, der nun auch in Grenzbereiche und Werthaltungen vordringt, die zuvor vom Imperativ der Effizienz verschont blieben. Das Räderwerk der kapitalistischen Maschinerie erhöht nach Schirrmacher im Wettbewerb der potenzierten Egomanie seine Drehzahl. Mit smarten Design wisse es auch die letzten Ethiker und Traditionalisten für sich zu vereinnahmen. Solche Veränderungen hätten nicht nur zu neuen Geschmacksmustern oder zur Revision tradierter Tugenden geführt – vielmehr konvertierten sie Zielvereinbarungen ganzer Gemeinwesen. Kurzfristiges Wachstum löse sich vom übergeordneten Sinn und manifestiere die Apotheose einer marktkonformen Demokratie.

Die voranschreitende, totale Ökonomisierung hat schwerwiegende Folgen für das individuelle und gesellschaftliche Selbstverständnis: »Der Informationskapitalismus stellt zusammenhängende Lebensläufe und Identitäten von einzelnen Menschen infrage, er hat die Realwirtschaft für seine Zwecke eingespannt und ist nun im Begriff, konstitutionelle und völkerrechtliche Ordnungen umzuschreiben.« (12) Sowohl für den Einzelnen als auch für die Staaten führe dies zu »amputierten Souveränitätsrechten« (12). Gerade die großen Informationsströme (Big Data), die als Ansätze zur Lösung der globalen Komplexitätsfalle bestimmt wurden, seien Teil der operativen Logik des »statistische[n] Monstrum[s]« (285), das die Gesellschaft auf ein »System der sozialen Insekten« (285) reduziere.

Schirrmacher erkennt im allumfassenden Transparenzstreben sozialer Netzwerke die rückhaltlose Einebnung des Menschen in ein mathematisches Modell. So hätten Ökonomen »den Seelenhaushalt des modernen Menschen zu ihrer Sache gemacht« (9) und begehrten nun einen neuen Menschen, der den alten, faustischen Traum nach unendlichem Wissen zu vervollkommnen vermöge.

In einer Gesellschaft, in der »alles zum Markt wird« (145), bleibt der Homo Oeconomicus für Schirrmacher kein theoretisches Modell. Dank technologischer Aufrüstung und allumfänglicher Vernetzung dringt er als mathematische Kreatur »in jedes Menschen Hirn und Haus« (150). Er wird zur praktischen Realität, formt das Individuum zu einem Unternehmer seiner selbst, der – obgleich nach Kant »aus krummem Holz geschnitzt« – nun marktkonform begradigt wird. Als »Double« des Menschen – in Schirrmacher-Jargon: »Nummer 2« – geht die zeitgemäße Form des homo oeconomicus aus einem schizophrenen Gemisch aus Egoismus, Gewinnmaximierung und Angst hervor.

Er wird zum ständigen Begleiter, zum alter Ego: »Nummer 2 trifft Entscheidungen für uns, macht Deals, schaut in die Zukunft, lobt uns, beschenkt uns, bestraft uns.« (58) Dieser Allgegenwart einer richtungsweisenden, unsichtbaren Hand im Rücken kann sich der Mensch nicht entziehen. Für Schirrmacher wird er zu einer realen Marionette, einem Opfer der beglaubigten, weil widerstandslos übernommenen, »Metaphysik des Marktes«, die weniger ein diesseitiges Paradies, als vielmehr ein mephistophelisches Schauspiel offenbart: »Und vor allem: Nummer 2 wettet auf uns und setzt dabei immer öfter unserer Existenz aufs Spiel. Er fängt leider an, ein Monster zu werden.« (58)

»Wie viel ist genug?« von Robert und Edward Skidelsky

In »Wieviel ist genug?« präsentieren Edward und Robert Skidelsky den Markt ebenfalls als »Monster«, das »an die Kette« gelegt werden müsse (13); es fuße, so fassen sie anfangs in Schirrmacher’scher Manier zusammen, auf »Gier, Neid und Geiz« (13). Wie Michael Sandel (»Was man für Geld nicht kaufen kann«) wittern sie »moralische Mängel« (16), während sie die systemimmanente Funktionslogik des gegenwärtigen Kapitalismus für instabil halten. Formal gestaltet sich die Argumentation der Skidelskys als assoziativer Abriss der philosophisch-ökonomischen Ideengeschichte, die in Keynes ihren Ausgangspunkt findet.

Über das Trio Mill-Marx-Marcuse gelangt der Leser hin zu Mandevilles Bienenfabel und Moralphilosoph Adam Smith, dessen klassisch-liberale unsichtbare Hand den historisch-chronologischen Weg in MacIntyres Zeitalter ›after virtue‹ weist, auf das eine nuanciert kritische Diskussion gegenwärtiger BIP-Alternativen (Glücksindizes) folgt. Des Buches finaler Fokus liegt auf Sens und Nussbaums populärem ›capability approach‹, einem der wichtigsten Ansätze zur Darstellung und Messung gesellschaftlicher Wohlfahrt der vergangenen Jahrzehnte. ›Capabilities‹ jedoch reichen den Skidelskys nicht, denn: »Wenn das Ziel der Politik nur durch Befähigungen definiert wird«, verlieren wir aus dem Blick, »wie wir vorhandene Ressourcen gut nutzen«. (202)

Die Skidelskys sind sich der Gefahr »diktatorisch hinsichtlich des Guten zu sein« (202) bewusst, wissen jedoch in gleichem Atemzug um die Notwendigkeit der Definition von Wahrheiten, die aus Gründen des Guten für universell gehalten werden können. In Zeiten einer flüssigen Moderne, in denen ein unüberwundener nietzscheanischer Nihilismus die Formulierung eines langfristig wert-vollen telos zur tagtäglichen Selbst-Aufgabe macht, formulieren sie »Basisgüter«, die sie für »universell«, »final«, »sui generis« sowie für »unverzichtbar« halten.

Persönlichkeit, Freundschaft, Muße, Harmonie mit der Natur, Respekt sind nur einige Beispiele. Einem radikalen Fokus auf die eigene Präferenzordnung stellen Vater und Sohn Skidelsky also Ideale entgegen, die intersubjektive Abhängigkeit und Sozialität – das Mit-Sein – zum essenziellen Fragment des architektonischen Ganzen machen. Idealerweise offenbart sich hier ein Alterntivfundament, das weniger brüchig ist als die indoktrinäre Allgegenwarts-Postulierung des homo oeconomicus. Die Liste der Skidelsky-Basisgüter ließe sich ggfs. Ergänzen, in jeder Hinsicht jedoch kann sie zu fruchtbarer Diskussion anregen und den Fokus auf den Horizont der Aktualisierung wünschenswerter Potenziale richten, die Schirrmachers Dystopie schon Realität gewordener egoistischer Nutzenmaximierer entgegenstehen.

Auch können die Skidelskys plausibel aufzeigen, dass die marxistische Sicht der Konsumwünsche nicht zwangsläufig korrekt ist: »Werbung«, so schließen sie unter Rückbezug auf den Soziologen André Gorz, »kann Begierden gestalten, aber nicht aus dem Nichts erzeugen«. (51) Dass die gegenwärtig so schwindelerregend-farbüberschwängliche Konsumlandschaft den kaufenden Kosmopoliten trotzdem so erfolgreich in seine (ver-)sorgenden Arme schließt, führen die Skidelskys auf zwei Faktoren zurück: Erstens führt Ruhelosigkeit dazu, dass verspürte Unzufriedenheiten situativ immer sofort durch etwas Neues überdeckt und behoben werden müsse: »Wie ein Jucken, das durch Kratzen gelindert werden will«. (53) Schenkt man den Skidelskys Glauben, erreicht der erwähnte Arm der Großkonzerne auch das kleinste Kitzeln, und widerspricht so Keynes These vom nahenden Ende einer Sättigung unserer Bedürfnisse.

Dafür sorgt überdies ein zweiter Grund: die inhärente Knappheit derjenigen Güter, die in radikaler Rarität nur für die Geldelite zu erwerben sind, alte Meister zum Beispiel. Hier hat das Angebot seine natürliche Begrenzung bereits erreicht, da sein Entstehen ein einmalig-historisches Ereignis manifestiert, dessen Produkt zwar verkäuflich, jedoch zeitlos-knapp ist. Die Aura, die sich irgendwo zwischen den Farbpunkten eines Signac oder hingeklecksten Streifen eines Pollock verbirgt, schwebt in ihrer absoluten Einzigartigkeit weit über der Ford’schen Fließbandproduktion. So wird sie zum begehrten Luxusgut.

Um es mit den Worten der Skidelskys zu sagen: »Wir sind unserer Natur nach niemals mit dem zufrieden, was wir haben und so mühen wir uns weiter ab, unsere übersättigten Sinne zu stimulieren.« (53) Was hier sehr nach Thomas Hobbes’ anthropologischem Bild des gierigen Zwitterwesen irgendwo zwischen Wolf und Mensch klingt, wird sogleich relativiert: Die Skidelskys attestieren uns eine naturgegebene »Neigung« zur Unersättlichkeit, die jedoch nur dann zu Tage tritt, wenn sie adäquat »befeuert« wird. (60) Wir sind nicht per se Wolf.

»Was man für Geld nicht kaufen kann« von Michael Sandel

Michael Sandels Kritik in »Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes« erweist sich als brauchbare Ergänzung. Gewohnt ans westliche Moralbewusstsein appellierend, präsentiert er zeitgenössische Fallstudien, die den vorrangig amerikanischen Markt im Kleide äußerster Perversion präsentieren: Der Bettler, der vom Reichen fürs Schlangestehen bezahlt wird, Wetten auf den Tod eines HIV-Kranken, gekaufte Universitätstitel, Zellen-Upgrades im Knast für nur 82 Dollar pro Nacht – sogar eine »Entschuldigung« kann man heutzutage von einem professionellen Apologizer für sich erledigen lassen. Eingebettet in ein Debord’sches Entertainmentspektakel werden unschuldige Neugeborene in Sandels Kabinett der Markt-Kuriositäten nichtwissend gegen Geld zu Namensträgern von Firmennamen à la Pepsi Paul und Metro Max – und ein vorher üppig behaarter Schädel zur blankrasierten Werbefläche von New Zealand Air. (Macht nur 777 Dollar!)

Sandels Schrift spekuliert auf des Lesers Empörung, der sich – in kontinuierlicher Konfrontation mit Schirrmachers Markt-Monster – selbst in der Rolle des potenziellen Opfers wähnt. Ironischerweise schließt »Was man für Geld nicht kaufen kann« mit der Frage: »Gibt es (…) moralische Werte, die man für Geld nicht kaufen kann?« Die Antwort ist der Inhalt des Buches selbst, der wohl jeden Leser – nach Konfrontation mit seinen vielen sokratisch-hermeneutischen Fragemomenten – zu einer Affirmation zwingt. Ein radikaler Appell an eine singuläre Verantwortung für das globale Ganze, wie sie Harald Welzer formulieren wird, bleibt aus.

Sandel liefert keine Handlungsanweisungen oder gar ein Programm. So verbleibt der Leser eher entrüstet über zeitgenössische Formen von wachsendem Wucher, der sich vermehrt in den Feldern des neutral geglaubten Sozialen und Zwischenmenschlichen niederschlägt. Sandels Diskussion jedoch vermag das notwendige theoretische Vokabular zu vermitteln, auf das zurückgegriffen werden kann, um die Frage nach dem Grund für unser Aufbegehren gegenüber entfesselten Märkten argumentativ fundiert beantworten zu können.

Er resümiert, dass das Argument des Laissez-faire, das in erster Linie die Entscheidungs- und Wahlfreiheit des Einzelnen zum über alles erhabenen Prinzip erhebt,  »zwei Arten von Einwänden« auf sich zieht: »den der Unfairness und den der Korruption.« (229). »Der erste Einwand«, so Sandel, akzeptiere »das Prinzip der Entscheidungsfreiheit, fragt aber, ob jede Marktentscheidung wirklich freiwillig erfolgt.« (229) Wenn eine Heroinabhängige sich gegen Geld von einer privaten Organisation im Bundesstaat North Carolina sterilisieren lässt, zweifelt der Leser gerechtfertigterweise an der universellen Gültigkeit des Prinzips »autonomer Entscheider«. Hier wird jemand, um es mit Sandels Worten zu sagen, »durch die nackte wirtschaftliche Notwendigkeit … gezwungen« (230).

Interessant ist, dass Vater und Sohn Skidelsky mit Sandel ein Team bilden, wenn es darum geht, den Wirtschafts-Nobelpreisträger Gary Becker kritisch unter die Lupe zu nehmen – Sandels Vergrößerungsglas ist hier sogar noch ein wenig schärfer geschliffen als das aus dem Hause Skidelsky. Aus Sicht der Skidelskys findet sich in Beckers Logik der Opportunitätskosten für Freizeit ebenjener Schlüssel zur Lösung des Problems, das Keynes offensichtliche Nichtübereinstimmung mit der Realität aufmacht: Warum hat die Produktivitätssteigerung nicht zu mehr Freizeit geführt, wie in Keynes’ Vision von 2030 so wundervoll imaginiert?

Zunächst einmal hatte Keynes unterstellt, dass kein erhebliches Bevölkerungswachstum mehr stattfinden würde. Darüber hinaus hatte er in der Freizeit ein intrinsisch erstrebenswertes Gut gesehen. Becker hingegen betrachtete Muße vielmehr als Kosten des Nichtarbeitens: Kalkuliert und aufsummiert als Bemessung desjenigen Verlustes, den wir schmerzlich ertragen müssen, wenn wir dasjenige Geld, das wir bekommen könnten, arbeiteten wir, nicht bekommen. In dieser Hinsicht also gibt es keinen triftigen Grund für die Annahme, dass mit steigendem Wohlstand die Arbeitszeit zurückgehen würde: Denn je mehr wir verdienen, desto teurer wird unsere Freizeit.

Gleichzeitig, so fügen die Skidelskys hinzu, wird Freizeit nur dann zum adäquaten Kompensator für den Verlust an potenziellem Einkommen, wenn wir ihren Nutzen maximieren: Wir kaufen uns Golfschläger, Garten- und Grillausrüstung sowie Globetrotter-Allwetterkleidung, werden also zu dem, was Harald Welzer »Freizeitidioten« tauft (149). Irgendwann lassen wir uns dann von Red Bull ins All schießen – nur um dann wieder aus dem sphärischen Schwebezustand heraus in die Schwerkraft zurückzukehren. Gesponsert vom Markt äußerster Phänomenalitäten werden wir also zu immer-nachfragenden Konsumenten. Gleichzeitig schließt sich mit der notwendigen Arbeit, die die ansteigende Nachfrage schafft, die zirkuläre Spirale eines infiniten Regresses namens Fort-Schritt.

Sandel wendet dagegen ein, dass Beckers Analyse nicht nur rein deskriptive Kraft, sondern vielmehr eine gefährliche normative Dimension besitze: Laut Becker streben die Menschen stets danach, ihr Wohlergehen zu maximieren – und das bei ausnahmslos allen Aktivitäten. Diese Annahme, »unablässig und unbeirrt angewandt, bildet den Kern der ökonomischen Annäherung an menschliches Verhalten.« (64) Der ökonomische Ansatz gilt uneingeschränkt für alle denkbaren Güter. Er erklärt Entscheidungen auf Leben und Tod wie auch »die Auswahl einer Kaffeemarke.« (64)

Becker unterstellt hierbei nicht, dass wir uns unserer kontinuierlichen Maximierungs- und quantifizierenden Komparationspraxis bewusst sind. Vielmehr geschehen diese allumfassenden Abwägungsszenarien unterbewusst. Mit einem scharfe Auge, so Becker, könne der (all-)wissende Ökonom jedoch erkennen, dass »unser gesamtes Verhalten als rationale Berechnung von Kosten und Nutzen erklärt und vorausgesagt werden kann.« (65). Implizit zieht Schirrmachers economic man so in den Alltag ein – Nummer Zwei offenbart sich in prachtvoller Wirkmächtigkeit.

Schirrmachers Leistung liegt gerade darin, aufzuzeigen, inwieweit (spiel-)theoretische Spekulation Einzug in praktische Prozesse halten kann und so nicht einfach Theorie bleibt. Sein Opfer ist zwar nicht Chicago-School-Ökonom Gary Becker, aber immerhin einer, dem Becker ein beachtliches Maß an Hochachtung entgegenbringt: der frühe Game Theory-Verfechter Ken Binmore. So befindet sich auf dessen Buch »Natural Justice« eine kurze Kritik von Becker, natürlich überschwänglich positiv konnotiert. Binmores Ansatz sei »truly exciting«, weil: »it derives moral principles of fairness, equity, and other behavior from evolutionary theory.«[iii]

Für Binmore ist Moral ein Nebenprodukt der Evolution, und lässt keinen Platz für kantische universals. Schirrmacher hat das erkannt. So empfindet Becker Kants Lösungen eher als »arbitrary«, auch deshalb ist er ein Fan von Binmore. Sein knappes Zitat auf dem Buchrücken endet mit der glorreichen ökonomischen Vorhersage: »I predict it will have a significant influence on discussions of moral principles in the future.«[iv]

Game Theory hält Einzug in moralphilosophische Diskussionen – Kausalrelationen verlaufen nicht mehr eindeutig im rein deskriptiven Rahmen, der sich vom normativen entkoppelt. Auch ein Sandel wäre hier möglicherweise besorgt, nicht nur wegen Kant. In erster Linie ist er bemüht darum, normativ zu begründen, warum der Markt, inklusive seiner Gleichsetzung des Menschen mit einem rational decider, auf moralische Grenzen stößt. Wie Sandel korrekt anmerkt, helfen uns die Ursache-Wirkung-Begründungen der klassisch-politischen Positionen zwischen einem liberalen Laissez-Faire und einer keynesianistischen Interventionspolitik nicht, um das Gefühl kollektiven outrages gegenüber den perfiden Markt-Mechanismen zu erklären.

Der Harvard-Professor bemerkt, dass den Begründungsansätzen immer Rückschlüsse auf Vorstellungen des guten Lebens implizit sind: Der Markt ist so allumfassend, dass es nicht mehr nur um Zins und Zinseszins geht, sondern um das, was Jürgen Habermas vielleicht eine Gefährdung der Grundlagen unseres »gattungsethischen Selbstverständnisses« genannt hätte[v]. Zwischen weniger zornigen Zeilen als denjenigen eines Frank Schirrmacher lässt Sandel also in vergleichbarer, jedoch weniger expliziter Gesinnung erkennen, dass auch er »Marktdenken und Marktbeziehungen« in »jede menschliche Aktivität eindringen sieht«. (230) Er rekurriert – ähnlich wie die Skidelskys – zumindest implizit auf die Idee eines »intrinsisch Guten«, und ist deshalb nicht gänzlich frei vom Schimmer eines indirekt-impliziten Dogmatismus hinsichtlich des Guten. Allerdings liefert Sandel theoretisches Werkzeug zum Bau einer diskursiv-stützenden Statik, die gegen die Machenschaften maroder Märkte zu agieren weiß.

»Selbst denken!« von Harald Welzer

Harald Welzer denkt, ebenso wie Sandel, selbst. »Denken«, sagt er, »reicht allein aber nicht aus: Es muss auch etwas getan werden.« (15) So erzählt er eine praxistaugliche Gegengeschichte zum Modell der »expansiven Moderne« (60) – der aktuellen Variante des wachstumsorientierten Kapitalismus. Diese Geschichte ist »ein Mosaik aus unterschiedlichen, gescheiterten und erfolgreichen Entwürfen eines guten Umgangs mit der Welt«. (254) Für Welzer gehen solche Entwürfe aus der Auseinandersetzung zweier Lehrsätze der kritischen Theorie Adornos hervor, die – obwohl widerspruchsvoll – handlungsleitend wirken: Gab es für Adorno einerseits »kein richtiges Leben im falschen«[vi], konstatiert dieser in der Minima Moralia: »Intelligenz ist eine moralische Kategorie.«[vii] Der zweite Satz ist nach Welzer eine Entkräftung des ersten, weil er das »Selbstdenken. Die Anleitung zum Widerstand« integriert. So versucht er Adorno mit Adorno zu widerlegen und präzisiert das Selbst-Denken in einem Regelwerk für verantwortungsbewussten Ungehorsam – gegen alles Expansive.

Im fröhlichen Kontingenzbewusstsein formuliert er Regel 1: »Alles könnte anders sein« (293). Schon in diesem Momentum wird deutlich, was ihn von einem Frank Schirrmacher unterscheidet. Zwar referiert auch Welzer – wie die vorangegangenen Autoren –, dass der gegenwärtige Kapitalismus nur die Version einer »abgestandenen, geheimnis- und verheißungslos gewordenen Fortschrittsgeschichte« (284) zu erzählen vermag. Jedoch charakterisiert er das moderne Erzählwerk mit psychologisch geschultem Blick als mental brüchige Gemengenlage, die sich aus »wirtschaftlichen Abstiegsängsten, Zukunftsfurcht und politischer Indifferenz« (250) zusammensetzt. Der Aktionismus politischer Entscheidungen ergibt sich vermeintlich alternativlos einer »Kolonisierung des Denkens durch den Neoliberalismus« (251) und der »Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche« (251).

Doch für Welzer beschreiben diese Phänomene kein allmächtiges Monster, sondern eher eine schwankende Gestalt. Daher ist er nicht an einer detaillierten Schilderung des Ist-Zustandes interessiert, geschweige denn mit der intellektuellen Durchdringung eines bloßen Verstehenwollens zufrieden. Vielmehr erprobt er sich an Robert Musils Möglichkeits-, statt seines Wirklichkeitssinns. Natürlich ist Welzers Entwurf weder ein Kompendium hoffnungsvoller Illusionen noch ein »datenbasierter Masterplan« (254). Seine Anleitung zum Widerstand enthält wirklichkeitsnahe Möglichkeiten, die abseits des »Konsum-Gulags« [!] Alternativen aufzeigen: »Statt »Wachstum« wäre für sie »Kultivierung« handlungsleitend, statt »Effizienz« »Achtsamkeit«. Gegen »Schnelligkeit« stünde »Genauigkeit«, gegen »ALLES IMMER« »Saison«, gegen »Fremdversorgung« »Resilienz« und gegen »Konsum«: »Glück.« (288f.)

So verweigert Welzer sich dem Expansionsprinzip und lädt zum Denken über ein »Leben und Wirtschaften jenseits des Kapitalismus« (288) ein. Er will mit diversen Beispielen aus der Praxis eine »moralische Ökonomie« aufzeigen, die »als Widerlager gegen die Ökonomisierung alles Sozialen« (291) wirkt. Den normativen Unterbau bildet die von Günther Anders entlehnte »moralische Phantasie«, das verantwortungsbewusste Denken im Futur zwei (291). Welzer situiert seine Fragestellung nicht im einfachen Werden mit offenem Ende, sondern stellt sie unter Rückbezug auf das Jetzt: »Wer werde ich gewesen sein?« (133) So verändern sich die Wertigkeiten, die Perspektiven und die Einstellungen zum Sein – in Gegenwart und Zukunft.

Aus diesem Blickwinkel wählt Welzer die Versatzstücke und Charaktere seiner realen Gegengeschichte aus: Es sind Protagonisten wie Heinrich Staudinger, der aus einer maroden Schuhfabrik mit zwölf Arbeitern in einer strukturschwachen Region Österreichs ein organisch wachsendes Unternehmen mit 120 Mitarbeitern machte. Das Ziel der Firma ist nicht das Geldverdienen, sondern liegt einzig darin, »das Leben in der Region besser zu machen, als es ohne sein Unternehmen wäre.« (260) Welzer erkennt in der Umdefinition des Unternehmenszweckes, der nicht den Egoismus, sondern das gemeinsame, gute Leben favorisiert, den Widerstand, der glücklich werden lässt. Für ihn sind es gerade solche Gegenmodelle, die deutlich machen, dass es nicht zu spät für ein autonomes Subjekt, sondern gerade jetzt Zeit ist. Aus Welzers Sicht muss Selbst-Denken aber immer ein Selbst-Handeln sein, sonst bleibt es folgenlos.

Jenseits der publikumswirksamen Rhetorikwolke eines Michael Sandel versagt Welzer dem Leser die kathartische Reinigung durch ein zustimmend negierendes Kopfschütteln im bequemen Lesesessel. Er wendet sich direkt an den Leser und lässt sich – in eher schlichten Momenten des Buches – gar zur Publikumsbeschimpfung hinreißen. So wirft er den Lesern vor, den ehemaligen Fortschrittsglauben des Aufklärungsgesuchs zu einem Technikvertrauen mit integrierter Glücksgarantie zu verklären: »Denn ohne Sie gäbe es solche Geschäftsmodelle nicht.« (287) In der konsumgesättigten Erlebnisgesellschaft westlicher Bauart fällt es dem Einzelnen augenscheinlich schwer, die gemütlich-marktkonforme Unmündigkeit gegen den aufbegehrenden Widerstand zu tauschen.

In diesem Kontext umreißt Welzer die Tiefendimensionenen einer säkularisierten »Wachtumsreligion« (49), in der wir weiterhin mit endlichen Ressourcen nach unendlichem Wachstum streben – obwohl allgemein bekannt ist, »dass es so nicht weitergeht« (290). Dass man trotzdem lieber im Status quo verbleibt, führt er auf einfache Verständnisprobleme zurück: Einstellung und Handeln seien nicht deckungsgleich, egal wie groß die individuelle Empörung über die offenkundigen Ungerechtigkeiten sein möge.

Welzer macht daher einen Wirkmechanismus offenbar, der einen grundlegenden Kulturwandel ermöglichen könne: »Werte verändern nicht die Praxis, es ist eine verändernde Praxis, die Werte verändert.« (290) Nur im Handeln könne man sich vom umfassenden Verblendungszusammenhang lösen, und so wird die nachhaltige Moderne aller Voraussicht nach »kein harmonisches Gespräch« (285). Neue, gesellschaftsverändernde Modelle sind allerdings nicht durch einzelne subkulturelle Singulärbewegungen zu verwirklichen. Welzer erklärt, dass es eine milieuunspezifische Übernahme von drei bis fünf Prozent, also »überall Avantgarden« (285), geben müsse, um von einer »offenen Zukunft mit anderen Mitteln« (284) erzählen zu können.

»Intelligenz ist eine moralische Kategorie« – doch neben Adornos Diktum bedürfe es eines aktiven Umdenkens: »Es gelingt nur durch praktiziertes Nichteinverstandensein. Durch Widerstand unterschiedlichster Art. Widerstand gegen sich selbst und gegen die Scheinattraktivität des weiteren Aufenthalts in der Komfortzone.« (287)

Schluss

Einen ersten Schritt in die Richtung eines »praktizierten Nichteinverstandenseins« geht überraschenderweise Frank Schirrmacher. Er schreibt: »[M]an muss sich klarmachen, dass wir einen Punkt erreicht haben, wo die Modelle unserer Rationalität uns so sehr reduziert haben, dass wir glauben, dass wir nicht mehr in der Lage sind, selbst herauszufinden, was wir wollen.« (289)

Schirrmacher zeichnet in »Ego, Das Spiel des Lebens« eine Dystopie, in der der Mensch der scheinbaren Selbstbestimmung seines Ego erliegt und dabei nicht erkennt, dass nicht mehr er, sondern der Markt, respektive Nummer 2, für ihn entscheidet. Er entlarvt den gegenwärtigen Glauben, in dem die Autonomie als das höchste Gut evoziert wird – und sich zumindest in den westlichen Gesellschaften flächendeckend etabliert hat – als Illusion und monströses Missverständnis. Denn die Marktlogik lässt für ihn kein »richtiges Leben im falschen« gelingen.

Doch bleibt Schirrmacher ungewohnt wortkarg, wenn es um eine Alternativversion, den Ausweg aus der von ihm postulierten Misere, geht: »Nach Lage der Dinge kann er nur darin bestehen, die Ökonomisierung unseres Lebens von einem mittlerweile fest in die Systeme verdrahteten Mechanismus des egoistischen und unaufrichtigen Menschenbildes zu trennen.« (286) Oder kürzer: »nicht mitspielen.« (287) Diese Aussagen Schirrmachers korrespondieren mit Welzers Vorstellung von einer vita contemplativa: »Nicht weitermachen, sondern innehalten wären Maximen für den Weg in die reduktive Moderne.« (141) Ein erster Widerstand bestünde also in Erkenntnis. Diese jedoch genügt Welzer nicht, um den Weg tatsächlich zu beschreiten.

Wo Schirrmacher in adornesker Manier den Markt vollständig in den Menschen eindringen sieht, ihm die kantische Urteilskraft raubt und Nummer 2 die »Tür« zu 1 öffnet oder schon längst geöffnet hat; appelliert Welzer gleich am Anfang an eine neokantische Empanzipation, und auch Sandels Moralphilosophie beinhaltet bekanntermaßen ein durchweg kantisch gefärbtes Autonomieideal. ›Reasoning‹ wird bei Sandel groß geschrieben, und wo es an praktischen Handlungsanweisungen fehlt, ist Welzers Leser mit einer Fülle an Möglichkeiten beglückt. Praktische Vernunft trifft hier auf reine, und Kritik gibt es in jedem Fall.

Bevor es jedoch zu Welzers Aktivitätsappell kommt, erinnern uns Vater und Sohn Skidelsky daran, dass eine fundamentale Reformulierung von kommunitären Grundwerten notwendig für die Ebnung eines gangbaren Pfades in eine noch gestaltbare Moderne ist. Die intentionale Ausrichtung des Skidelsky-Buches ähnelt zunächst derjenigen Schirrmachers. Jedoch zielen Philosoph Edward und Keynes-Experte Robert in erster Linie auf die Wiederbelebung der Wirtschaft als »eine Wissenschaft von Menschen, die in Gemeinschaften zusammenleben, nicht von interagierenden Robotern.« (17)

Im Gegensatz zu Schirrmacher sehen sie also einen deutlich schimmernden Rest an Emanzipationspotenzial. Einer poststrukturalistischen Subjektsdiffusion und auch der Rawls’schen Gerechtigkeitskonzeption der nur-negativen Freiheit stellen sie klassische Werte des Guten entgegen – und versuchen dabei auch noch, so wenig dogmatisch wie möglich zu sein. Was man hier findet, ist Wachstumskritik zum Zwecke der Erinnerung an und Rückbesinnung auf das ›Gute Leben‹ – wie der britische Philosoph sagen würde: ›The Good Life with a capital G‹.

Wie genau sich dieses ›Gute Leben‹ im Detail ausgestalten müsste, vermag keines der vier Bücher in letzter Konsequenz aufzuzeigen, doch bergen ihre unterschiedlichen Perspektiven Einsichten in die Wirkmechanismen des zeitgenössischen Kapitalismus. [Anmerkung der Red.: Um zu solchen Einsichten zu gelangen, muss man die Bücher – praktischerweise und ganz im Sinne des propagierten Antikonsumismus – nicht einmal aufschlagen, sondern nur die Marketingmacht studieren, mit der die Bände in ihren jeweiligen nationalen Märkten (und Sandels Titel sogar international) platziert worden sind.] Gemeinsam ist den Büchern von Schirrmacher, Skidelsky & Skidelsky, Sandel und Welzer der Aufruf zu weitreichender Veränderung. Schirrmacher fordert Selbst-Erkenntnis, die Skidelskys geteilte Werte, Sandel moralische Vernunft und Welzer gelebte Praxis.

Vor allem Harald Welzer zeigt Veränderungspotenzial auf – real wie fiktional. Utopien hält er zwar generell für problematisch, insofern sie politisch machtvoll in dominanter top-down Repression durchgesetzt werden – jedoch seien »Utopien ein großartiges Mittel, um Denken und Wünschen zu üben.« (136) Seine Konsequenz: Er formuliert seine eigene, kleine Geschichte fürs Jahr 2033, die irgendwo zwischen der dystopisch-apokalyptischen Vision eines Frank Schirrmacher und der Marmeladenfiktion John Maynard Keynes’ von einer Alternative erzählt.

Welzer imaginiert einen Paradgimenwechsel »vom Besitzen zum Nutzen« (154) – für ihn der lebenswert-lockere »Lifestyle des Loslassens« (154) einer allumfassenden Sharing-Economy. Welzers Möglichkeitsgesellschaft, die nach aktiver Partizipation verlangt, um wirklich zu werden, verfügt über weniger Produkte und sorgt somit für einen geringeren Verbrauch von Material und für reduzierte Emissionen. Als Folge malt er sich aus: »Der Spaß hat sich verdoppelt, die verfügbare Zeit vermehrt: Man verschwendet sich nicht mehr an Konsumentscheidungen. Das kulturelle Modell heißt: Lebenskunst. Das Zugehörige Adjektiv: leicht.« (154)

In beinahe Keynes’scher Manier visioniert Welzer verkürzte Arbeitszeiten aufgrund des Produktionsrückgangs und der sinkenden Konsumausgaben. Gleichzeitig komme es zu einer »Rekultivierung des öffentlichen Raumes« (156-157). Ähnlich wie die Skidelskys argumentiert Welzer für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Doch im Bewusstsein, dass nicht nur realpolitische Forderungen, sondern insbesondere die narrative Fiktion das Denken zur Handlung anstiftet, sinniert er zugleich amüsiert über die potenzielle Rückkehr des »Dandytums« – in ein Paris, in dem auf einmal wieder »teuer gekleidete Menschen … Hummer und Schildkröten spazieren« führen (157).

 

 

Anmerkungen


[i] Vgl. John Maynard Keynes »Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder«, in: Norbert Reuter: »Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität. Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen. Mit Texten zum Thema von John Maynard Keynes und Wassily W. Leontief«, Marburg 2007.

[ii] Vgl. Adam Smith: »Der Wohlstand der Nationen«, München 1974, S. 16 f.

[iii] Vgl. hierzu Ken Binmore: »Natural Justice«, Oxford 2011.

[iv] Ebd.

[v] Vgl. hierzu: Jürgen Habermas: »Die Zukunft der menschlichen Natur: Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?«, Frankfurt 2005.

[vi] Vgl. Theodor W. Adorno: »Minima Moralia«, Frankfurt a. M. 1951, S. 42.

[vii] Ebd, S. 262.

 

Bibliografischer Nachweis:                                                                                        

Michael Sandel
Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes
Berlin 2012
Ullstein Verlag
ISBN-13: 978-3550080265
304 Seiten

Robert und Edward Skidelsky
Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens
SBN-13: 978-3888978227
München 2013
Verlag Antje Kunstmann
320 Seiten

Frank Schirrmacher
Ego. Das Spiel des Lebens
ISBN-13: 978-3896674272
München 2013
Karl Blessing Verlag
352 Seiten

Harald Welzer
Selbst denken! Eine Anleitung zum Widerstand
ISBN-13: 978-3100894359
München 2013
S. Fischer Verlag
336 Seiten