Tom Kummer in BerlinDer Mythos soll funktionierenvon Stefanie Roenneke4.7.2013

»Dämmerung im Südwesten Amerikas: Vor mir liegt ein menschenleerer Strand, wie die Ödnis am Ufer einer unbekannten Welt«. So beginnt die Reportage »Borderline. Ein Road-Trip entlang der Grenze von den USA und Mexiko« von Tom Kummer, die in der Juni-Ausgabe des Schweizer Magazins »Reportagen« erschienen ist. Er schildert darin seine Fahrt entlang dieser Grenze und lässt jenen 3000 Meilen langen Zaun auf sich wirken, der die »mythische Landschaft, die Mexiko mit den Vereinigen Staaten von Amerika verbindet, zur Kriegszone verwandelt«. Kummer bringt dem Leser die Wucht dieser ›Borderline‹ somit nicht mit den Mitteln der Sozialreportage näher. Es sind 40.000 Zeichen über ein monumentales Bauwerk, das wie ein Stück Land Art wirke, jene ursprüngliche amerikanische Kunstform.

Im Zuge der Veröffentlichung hat »Reportagen« und der Taschenhersteller »Freitag« zu einer Veranstaltung in Berlin geladen. Die Eidgenossenschaft verbindet.

Der Raum ist voll, etwas zu warm, ein Kühlschrank lockt in Berliner Manier mit Gratisgetränken. Im Bier soll Liebe stecken, verspricht die Zutatenliste. Käse- und Salamibrote füllen die Münder der Gäste. Sie alle geben sich mit kleinen gelben Zetteln zu erkennen, die sie über dem Herzen oder an der Hose tragen. Im Raum verteilte, grell leuchtende Ausgaben des Magazins erinnern währenddessen doch an den Anlass des Abends. Dieser steht unter dem Motto »Recherche vs. Inszenierte Realität«. Es ist von Anfang an klar: Das wird keine ›normale‹ Lesung. Wenn Tom Kummer kommt, dann wird geredet.

Nachdem »Reportagen«-Chefredakteur Daniel Puntas Berne zusammen mit Tom Kummer den Text vorgestellt und kommentiert hat, führte das anschließende Publikumsgespräch oftmals in die Vergangenheit. Der so genannte ›Medienskandal‹ um die gefälschten Interviews von Tom Kummer interessiert Leser und Kulturproduzenten seit 13 Jahren, obwohl – oder gerade weil – wissenschaftliche Arbeiten, eine Dokumentation und unzählige vorhergehende Diskussionen das publizistische Klima der damaligen Zeit, die Rolle von Schuldigen, Geprellten und Enttäuschten erörtert haben. Dabei bietet der Text selbst genügend Beispiele, an dem die gewollte Dualität »Recherche vs. Inszenierte Realität« diskutiert werden kann.

Die Diskussion macht deutlich: Der Skandal wird gebraucht. Es scheint, dass nur dadurch die Debatte um Dichtung und Wahrheit im deutschen (Boulevard-)Journalismus geführt werden kann, der stets dem Druck des Neuen und Unterhaltsamen unterliegt. Angst vor einer Umkehr der Verhältnisse muss daher nicht bestehen. Der ›Fakt‹ geht gestärkt hervor.

Und Kummer bleibt, weil sein Stil selbst zur Marke geworden ist, mit seinem »Konzeptjournalismus« in der Nische und dient als Projektionsfläche für das, was nicht sein darf. Zur Sicherheit ist im »Reportagen«-Magazin das obligatorische Beglaubigungs-Interview enthalten, und der Text heißt sicherlich nicht grundlos »Borderline«. Zudem fällt die Wiederholung des im Text enthaltenen Satzes »Nichts was der Reporter jetzt mit eignen Augen sieht, ist deswegen schon real« so grell aus wie das »Reportagen«-Cover. Ein Satz, den man kennen sollte. Es ist der ewige Tanz zwischen Skandal, Mythos und der unausgesprochen Frage, wie oft Autoren, Redakteure und Herausgeber ihren Träumen erliegen (damals und heute) und wo der ›Fake‹ eigentlich beginnt.

In den Kritiken zu der Veranstaltung bleibt eine klare positive Wertung aus – sie muss wohl ausbleiben. Es dominiert die Wiederholung des Bekannten und der Wunsch mit etwas Greifbaren aus dem Abend zu gehen: »Auch an diesem Abend bekommt man ihn nicht zu fassen«.

»Die Bildung des Mythos Kummer, sie findet einzig und allein im Kopf statt«, schreibt Jan Wehn in seiner Rekapitulation des Abends weiter, nachdem er jenen Mythos in der genauen Beschreibung Kummers zu suchen scheint: »Kummer trägt nagelneue schwarze Basketballschuhe, eine abgewetzte Bluejeans und ein ausgeblichenes Shirt mit der Aufschrift ›Woodstock‹. Wie alle ›Starschreiber‹ sieht er viel zu gut aus für einen Journalisten. Will heißen: Sehr braun. Genau richtig viele Falten. Helle, aber nicht weiße Zähne. Beinahe schon auratisch.« Er bricht diese naive Suche selbst: »Das ist, natürlich, alles Quatsch«. Dennoch hat er seinen Text mit dem zur Legende gewordenen Zitat des ebenfalls mythischen Christian Kracht eingeleitet: »Ich glaube, Tom Kummer hat in Hollywood Dinge geschaut, die wir nie sehen werden, nie sehen können«.

Man kann ergänzen, dass ein Mythos weder wahr noch falsch sein, sondern nur funktionieren muss. Der Mythos ist wie ein performativer Akt. Er muss gelingen. So heißt es im »Tagesspiegel«: »Nicht ohne Stolz reicht Tom Kummer das Magazin im Publikum herum[…]. Am Ende der Diskussion in Berlin lässt sich Kummer das Heft mit dem Bronson-Interview wieder zurückgeben, er schließt das Magazin vorsichtig. Er passt gut darauf auf«, rahmt Sonja Álvarez ihren Text.

Es spielt keine Rolle, ob das tatsächlich so passiert ist. Es funktioniert. Der Mythos des »Bad Boy« wird weiter gepflegt.

Jan Wehn erinnert sich anders, obwohl er sich mit der Frage nach der Echtheit die Szene dem Mythos weiter unterwirft: »Jemand in der ersten Reihe meldet sich und gesteht, mit dem Werk Kummers gänzlich unvertraut zu sein. Ein schlechter Scherz, denkt man. Vielleicht wurde der junge Herr engagiert. Kummer greift hinter sich und holt seine Tasche (nicht aus LKW-Planen, sondern aus Leder) hervor. Miklós Gimes, der Regisseur der Dokumentation ›Bad Boy Kummer‹ habe ihm bei einem Treffen alte Magazine, die er für seine Dreharbeiten und Recherchen benötigte, zurückgegeben. Kummer blättert durch die Titel, macht Andeutungen, will den ganzen Stapel wieder in die Tasche zurückzustecken, übergibt dem Fragensteller dann aber doch ein dünnes Heft mit Charles Bronson auf dem Cover.«

»Der Mythos klebt« lautete mal eine Überschrift im »Tagesspiegel« zu dem Film »Bad Boy Kummer«. Das stimmt, er soll kleben, denn der Deviant stützt das System.

Man erinnert sich: An einem Derby-Samstag Ende November 2011 war Tom Kummer zu Gast beim Journalistentag in Recklinghausen. Zwei Tage zuvor wurde der große Versuch gestartet, Karl-Theodor zu Guttenberg mit einem »Zeit«-Interview, das zugleich Werbung für sein Buch »Vorerst gescheitert« war, zu rehabilitieren. In diesem Fall hätte es fast geklappt. Gefakte Lifestyle-Texte wiegen schwerer. Träume wiegen schwerer.