Warum konservative Kulturkritik auch fortschrittlich sein kann Rezension zu Hartmut Rosa, »Beschleunigung und Entfremdung«von Martin Seeliger3.11.2013

Zur Re-Etablierung makro-soziologischer Zeitdiagnosen

„In der Lyrik und Prosa dieser vortechnischen Kultur ist der Rhythmus von Menschen enthalten, die wandern oder in Kutschen fahren und die Zeit und Lust haben, nachzudenken, etwas zu betrachten, zu fühlen und zu erzählen.“ (Marcuse 2004: 79)

„Ja, wir können gerne nach der Arbeit einen trinken, aber verzichten wir doch lieber darauf, uns unsere Lebensgeschichten zu erzählen und eine echte Resonanzbeziehung im Sinne Charles Taylors einzugehen.“ (Rosa 2013: 142)

 

Vom kürzlich verstorbenen Soziologen Daniel Bell ist das Zitat überliefert, er sei politisch ein Liberaler, in Wirtschaftsangelegenheiten Sozialist und kulturell ein Konservativer. Wem dieses Zitat bekannt ist, dem dürfte es beim Lesen des neuen Bandes von Hartmut Rosa das eine oder andere Mal ins Gedächtnis kommen.

Im Buch, das neben verschiedenen Aufsätzen als dritte Monographie seine Arbeit zum Thema sozialer Beschleunigung schriftlich dokumentiert, verfolgt der in Jena lehrende Soziologie Hartmut Rosa das Ziel einer neuen Kritischen Theorie, die die Zeitlichkeit des Sozialen in den Blick rückt. Den zentralen Referenzpunkt einer solchen Kritischen Theorie stellt laut Rosa „das reale menschliche Leiden“ (72) dar. Als normative Bezugsgröße dient das tatsächliche Welterleben der Akteure.

Wie Rosa bereits in der Vergangenheit herausgestellt hat, ergeben sich Entwicklungen sozialer Beschleunigung im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung als Ergebnis fortschreitender Arbeitsteilung (oder auch: funktionaler Differenzierung). Diese Entwicklungen ermöglichten eine Verschnellerung organisatorischer und sozialer Prozesse bevor sie selbige in einem zweiten Schritt zur Notwendigkeit werden ließen. Als Modernisierungsphänomen folge gesellschaftliche Beschleunigung einem doppelten Antrieb: Einerseits wirke (ökonomischer) Wettbewerb zwischen Menschen als sozialer Motor, weiterhin fungiere soziale Beschleunigung in der Kultur der Spätmoderne auch als funktionales Äquivalent für das Ideal ewigen Lebens.

In den von ihm beschriebenen Entwicklungen sieht Rosa jedoch nur bedingt notwendige Resultate gesellschaftlicher Modernisierung. Zwar seien diese im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess eindeutig als Modernitätsphänomene erkennbar. Die gegenwärtigen „spätmodernen Beschleunigungsraten“ tendierten allerdings dazu, eben dieses Modernisierungsprojekt zu untergraben.[1] Hieraus ergibt sich schließlich auch die Notwendigkeit einer neuen Kritischen Theorie der Zeitlichkeit in der spätmodernen Gesellschaft, die Rosa unter wesentlichem Bezug auf die Arbeiten von Jürgen Habermas und v.a. Axel Honneth entwickelt.

Wenn jetzt alles schneller (bzw. schnelllebiger) wird, hat das Folgen. Diese werden von Rosa folgendermaßen zusammengefasst. „Die soziale Beschleunigung produziert neue Zeit- und Raumerfahrung, neue soziale Interaktionsmuster und neue Formen der Subjektivität, und in der Folge transformiert sie die Art und Weise, in der Menschen in die Welt gestellt oder geworfen sind – und die Art und Weise, in der sie sich in dieser Welt bewegen und orientieren“ (66).

In seinen weiteren Ausführungen benennt Rosa eine Reihe lebensweltlicher Entsprechungen dieser Entwicklungen, welche sich in erster Linie in neuen Subjektivierungsformen widerspiegeln: Neue Zeitlichkeitsnormen zögen so beispielsweise den „Effekt des ‚schuldigen Subjekts‘“ (110) nach sich. Die Nicht-Erfüllung sozialer Erwartungen werde demnach grundsätzlich selbst-referenziell erklärt.

Auf dieser Grundlage benennt Rosa schließlich einen totalitären Gewaltcharakter der gesellschaftlichen Beschleunigungsdynamik, die a) Druck auf den Willen und die Handlungen der Subjekte ausübe, b) für alle Subjekte unausweichlicher Bestandteil ihrer Lebensrealität sei, c) quer zu einzelnen gesellschaftlichen Sphären alle Lebensbereiche durchdringe und d) schwierig oder nahezu unmöglich zu bekämpfen sei. Hieraus ergebe sich ein Problem, welches Rosa zu seiner kritischen Auseinandersetzung veranlasst: „Die Zeitnormen der Gegenwartsgesellschaften unterlaufen das moderne Versprechen von Reflexivität und Autonomie“ (112).

Das eingangs angeführte Zitat versinnbildlicht die vom Autor sowohl theoretisch hergeleiteten als auch mit unterschiedlichen beispielhaft-anekdotischen Schlaglichtern beschriebene Entfremdungsdynamik, die sich aus der Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse ergibt. Es kann außerdem beispielhaft für den gut lesbaren Formulierungsstil stehen, der den Text trotz seines theoretischen Voraussetzungsreichtums sehr gut lesbar macht (hier hebt er sich z.B. positiv von den genannten Fachkollegen Habermas und Honneth ab): Die Argumentation ist scharfsinnig und klar nachvollziehbar.

Ob sie den Kriterien einer soziologischen Analyse über die gesamten 156 Seiten hinweg standhält, ist allerdings fraglich: Verstehen wir diese nämlich als auf Basis empirischer Ergebnisse argumentierende Wissenschaft, können manche eher anekdotische (oder gar prognostische) Evidenzen nicht immer genügen. Ob etwa das Wettbewerbsprinzip als wirtschaftliches Ordnungsmuster Leute tatsächlich auf die Handlungsoption festlegt, die Verantwortung für ‚ihr‘ Scheitern bei sich selbst zu suchen (vgl. S. 84), ist auf konzeptioneller Ebene eben nur konzeptionell (und nicht empirisch!) zu beantworten. Der von Rosa als „das reale menschliche Leiden“ proklamierte Ausgangspunkt Kritischer Theorie müsste also durch weitere empirische Arbeit zum Thema zweifelsfrei identifiziert werden.

Ein wesentlicher Kritikpunkt an dem Text ergibt sich m.E. aus der perspektivischen Rahmung des Gegenstandes: Rosas grundsätzlicher Skeptizismus gegenüber den sozialen Formen der Gegenwart als epistemologischer Ausgangspunkt setzt die Agenda seiner Kritik.[2] Tatsächlich dachte ich mir auch an manchen Stellen, dass man ähnliche oder gleiche Beispiele auch positiv beschreiben könnte, die Erweiterung der Möglichkeitsstruktur, durch die Fähigkeit, innerhalb eines bestimmten Zeitraums mehr Dinge tun zu können als vorher, ist natürlich nicht genuin schlecht.

Wie z.B. von Georg Simmel (1995) bemerkt, kann soziale Entfremdung auch neue Freiräume eröffnen. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten vor einiger Zeit etwa auch ForscherInnen aus dem Umfeld von Ronald Hitzler (vgl. Hitzler et al. 2009), die unverbindliche Inklusionsformen als „post-traditionale Vergemeinschaftungen“ thematisieren (allerdings – und dies erfreulicherweise – ohne diese zu pathologisieren!). Eine flüchtige Bekanntschaft in einer Flughafenbar kann gerade wegen ihres unverbindlichen Charakters ein Gewinn sein. Und auch wenn Marc Augé ein IBIS-Hotel in Brüssel, Paris oder Bochum einen Nicht-Ort schimpfen würde, weiß man wenigstens, was einen dort erwartet (anders als bei der greisen Gastwirtin, die noch nicht mal W-LAN anbietet). Ein gewisser (möglicherweise auch latenter) Kulturkonservatismus ist manchen kritischen Modernisierungsdiagnosen also inhärent.[3]

In den letzten Jahren sind aus dem Jenaer Umfeld eine Reihe von Beiträgen zum (deutschen) soziologischen Mainstream geleistet worden, denen man eine wichtige Bedeutung einräumen kann (vgl. überblickshaft Dörre/Lessenich/Rosa 2009). Während die Soziologie sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter in unterschiedliche Bindestrich-Soziologien ausdifferenziert, und auch die Subdisziplin der Arbeits- und Industriesoziologie ihren gesellschaftstheoretischen Anspruch weitgehend hinter sich gelassen zu haben scheint (von einigen kleineren Schauplätzen wie der modernisierungstheoretischen Entwicklungs- oder Ungleichheitstheorie ganz zu schweigen), lese ich die jüngeren Jenaer Beiträge als einen äußerst interessanten Beitrag zur Re-Etablierung makro-soziologischer Zeitdiagnosen, die vor allem in den Arbeiten Rosas auch einem sozialphilosophischen Impetus folgen.[4]

Ich könnte gut verstehen, wenn der mitunter etwas anekdotische Ton den ein oder anderen Kritiker zu einer polemischen Bemerkung über einen bereits gedeckten Bedarf an Lebensratgeberliteratur reizt. Auch, dass Rosa seinem ersten Computer einen Namen gegeben hat und dies – wie er sagt, aus Entfremdungsgründen – bei den neueren Geräten später nicht mehr getan hat, kann man mittlerweile an verschiedenen Stellen seines bisherigen Werks erfahren. Einige (z.B. der Rezensent) finden das lustig und illustrativ, andere mögen die Augen verdrehen. Die Substanz des Gesamtarguments bleibt hiervon aber beidseitig unberührt. Und dass Kritische Theorie mal angenehm zu lesen ist, schadet sicherlich auch nicht.

 

 

Anmerkungen


[1] In seinen älteren Arbeiten zum Thema erläutert der Autor dies sehr anschaulich unter Bezug auf eine Entwicklung hin zur „Performativität von Anerkennungsverhältnissen“, welche ihm zu Folge mittelfristig die Kohäsion moderner Gesellschaften untergraben könne (vgl. Dörre/Lessenich/Rosa 2008; sowie Rosa 2005; 2012).

[2] Für den aufmerksamen Leser des Buches handelt es sich hierbei allerdings keinesfalls um ein Geheimnis, dem es erst auf die Spur zu kommen gelte. Laut Rosa selbst sei es „offensichtlich, daß dieser Essay eine einseitige und tendenziöse Darstellung des spätmodernen Lebens präsentiert hat“ (144).

[3] Interessanterweise sieht man eine ähnliche Grundhaltung auch in der linken Kulturkritik eines dem Fahren in Kutschen hinterhertrauernden Herbert Marcuse (s.o.). Inwiefern die Ausrichtung von Rosas Text an den Regeln der alten Rechtschreibung hiermit zusammenhängt, ist unklar.

[4] Hiermit ist nicht gesagt, dass man Gesellschaftstheorie auf Grund möglicherweise schwer einzulösender Erkenntnisansprüche nicht kritisieren, oder Theorien mittlerer Reichweite mit zeitdiagnostischem Ballast überfrachten sollte. Es geht mir in erster Linie um die Vielfalt einer Forschungslandschaft, die sich eben durch das Nebeneinander unterschiedlicher Forschungsstränge und epistemologischer Schulen auszeichnet. Ein Comeback der Gesellschaftstheorie erscheint vor diesem Hintergrund mehr als wünschenswert.

 

Literatur

Augé, Marc (2012): Nicht-Orte. München.

Dörre, Klaus; Lessenich, Stephan; Rosa, Hartmut (2009): Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Eine Debatte. Frankfurt a.M.

Hitzler, Ronald et.al. (Hg.) (2009): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen. Wiesbaden.

Marcuse, Herbert (2004): Der eindimensionale Mensch. München.

Rosa, Hartmut (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Berlin.

Rosa, Hartmut (2012): Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Frankfurt a.M.

Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne. Frankfurt a.M.

Simmel, Georg (1995): Die Großstädter und das Geistesleben. In: Rammstedt, Otthein: Georg Simmel Gesamtausgabe. Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Frankfurt a.M.

 

Bibliografischer Nachweis:
Hartmut Rosa
Beschleunigung und Entfremdung
Berlin 2013
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3518585967
156 Seiten

 

Martin Seeliger ist Doktorand am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln.