Es geht um Namen, Namen und nochmals Namen
»Analog« versammelt Kolumnen, die Thomas Meinecke für die Musikzeitschrift »Groove« in den Jahren 2007 bis 2013 verfasste. Dieses Jahr entschloss sich Meinecke, die zweimonatlich erscheinende Kolumne zu beenden. Der Verbrecher Verlag veröffentlicht nun alle Beiträge in einem schmucken kleinen Buch, mit Illustrationen von Michaela Melián versehen, die das immergleiche Vinylplattenmotiv farblich variieren.
Schon bei der ersten Kolumne, in der Meinecke erzählt, wie ein Klassenkamerad ihn, damals fünfzehnjährig, in die Geheimnisse der neu aufkommenden Disco-Bewegung einführte und ihn anwies, wie man zu entsprechender Musik zu tanzen habe, wird deutlich, dass man ohne ein extensives (enzyklopädisches) Wissen über die behandelte Musik und ihre Interpreten kaum zu einem Lesegenuss gelangen kann. Wenn zum ›Lektüregenuss‹ das verstehende Lesen und ein gewisser Einblick in die behandelte Materie gehört, so richtet sich Meineckes Buch an die Insider-Group. Eben an die Leser der »Groove«, aber auch an die Hörer von Dance- oder elektronischer Musik, um das Genre möglichst breit zu fassen.
Die zunehmende Auffächerung des Genres, die zunehmende Ausdifferenzierung eines Oberbegriffs in unzählige Subnischen kennt man nicht nur in der elektronischen Musik, die verschiedene Arten von Techno, House, Acid und Experimentellem umfasst, sondern auch im Rock- und Metalbereich. Meinecke bezieht sich in seinem Buch verständlicherweise auf die Stile, mit denen er sich jahrzehntelang journalistisch wie literarisch beschäftigt hat.
Mehr noch prägten seine Erfahrungen als DJ seine ›akustische Wahrnehmung‹. Im Vorwort gebraucht er selbst das Wort »Sonisches« (S. 5), genauer: »völlig neuartig modulierte Wahrnehmungsweisen des Sonischen.« (ebd.) Dieses Attribut verweist auf die Sonic Fiction, die sich aus einer Gemengelage zwischen Popjournalismus und –wissenschaft speisen kann. Das Paradebeispiel solchen Schreibens ist Kodwo Eshuns »More brilliant than the sun«, in dem theoretische Einsichten mit einer intensiven Beschäftigung mit ›Black Music‹ gekoppelt werden.
Meinecke schreibt, den Begriff ›Black Music‹ gebe es im Angloamerikanischen nicht. Er benutzt diesen Begriff in seiner Kolumne dennoch, weil er griffig scheint. Die Suche nach dem ädaquaten Ausdruck der Hörerfahrungen begleitet jedes der Kapitel in Meineckes Buch. Es blitzen immer wieder luzide Momente in Meineckes Hörerfahrungen auf, so in etwa wenn er, bereits zu Zeiten der Pubertät, die »Idee des Jazz« (S. 43-44) in Thelonious Monk findet. Später verfeinert er diese Idee noch in seiner musikjournalistischen Tätigkeit, durch die konstante Entdeckung neuer ›Monks‹ in anderen Genres.
Meineckes Schreiben ist ein ständiges Verweisspiel auf seine Plattensammlung. Die Platten ersteht er in Second-Hand-Shops, die über den gesamten Erdball verstreut sind, daher wohl auch der Titel des Büchleins. Ein anderer Grund für die Wahl liegt in der bis heute konstanten DJ-Praxis Meineckes, Plattenspieler zu nutzen und nicht mithilfe von Laptops das Abendprogramm für den Dancefloor zu gestalten. Vorliegendes Werk setzt an vielen Ecken und Enden an, ein roter Faden ist also wohl die Plattensammlung, die man beim Autor zu Hause im Regal oder in Kisten verstaut vorfinden sollte.
Die einzelnen Kapitel sind der Veröffentlichungsform in der Musikzeitschrift geschuldet, zu kurz, um wirklich extensiv auf wichtige Phänomene der Musikszenen wie Euro Trash, der Einfluß der Candomblé-Rhythmen auf zeitgenössische House-Produktionen, den Reiz von Mjunik Disco und vieles andere eingehen zu könenn. Es sind Momentaufnahmen, die stellenweise von schöner Luzidität sind (z.B., wenn Meinecke sehr genau das Geschehen in den Clubs beobachtet und kommentiert), dann wiederum stößt der Leser gegen eine Wand von Insider-Wissen, das sich stellenweise narzisstisch um sich selbst dreht.
Allusionen finden sich zu Hauf, ausführende Worte oder gar ein Endnotenapparat werden ausgespart – klar: hier handelt es sich um journalistische Kurzbeiträge, die für sich sprechen (sollen). Dadurch wird allerdings Thomas Meineckes Schreibe unverständlich, weil sie auf die anekdotische Verkürzung und Exemplifikation setzt, statt narrativ die Erlebnisse und Erfahrungen als wandernder DJ und Schriftsteller auszuführen. Die Leser der »Groove«-Zeitschrift hätten es vielleicht als seltsam empfunden, wenn Meinecke die Kolumnen für die Sammlung in Buchform noch etwas expliziert hätte. So wird jedoch die Veröffentlichung beim Verbrecher Verlag nur für Experten Gewinn bringen.
»Analog« verdeutlicht ein Problem des Popjournalismus: es geht um Namen, Namen und nochmals Namen, auch Titel beziehungsweise deren Konstellationen und Verbindungen. Das ähnelt dem Schreibstil diverser Prog-Rock-Fetischisten, die jeden noch so kleinen Line-Up-Wechsel der Rock-Dinosaurier aus dem Gedächtnis zitieren können.
Statt sich etwas mehr auf die Atmosphäre, die Umgebung, die Bewegungen im Raum und der Zeit zu konzentrieren, werden Namen gedroppt, so dass die leicht nerdige Leserschaft sofort weiß, wohin der Hase läuft. Mit dem verbalen Zielfernrohr wird dann gewissermaßen Jagd auf die Koryphäen und bekannten Namen gemacht.
Diese ›Personenversessenheit‹ vermehrt sich nicht nur in den Musik-, sondern auch speziell in den Literatur- und schon immer in den Kunstszenen. In letzterer erhalten die Kunstwerke alleine durch die Identität des Urhebers ihren Marktwert.
Selbst in einer so schlecht gelittenen Musikszene wie dem Metal hat hingegen der Poststrukturalismus mindestens in Form der Genre-Präfixe wie Post Metal und Post Black Metal etc. Einzug gehalten. Der Personenkult wird durch die Akkumulation von Gitarren und Drumrhythmen, ja durch die Ausschaltung jedes Sängers und des Übergangs in den rein instrumentell dargebotenen Post Metal ausgeschaltet.
In Meineckes »Groove«-Kolumnen jedoch wimmelt es vor Namen, Titeln und Personen. Das mag den behandelten Genres geschuldet sein, aber wäre es nicht zur Abwechslung interessant, diese Personen ›auszuschalten‹ und dekonstruktive Experimente zu wagen? Besonders dann, wenn man Meineckes eigenes Werk bedenkt: »Ich veröffentlichte einen Roman, dessen Anordnung darin bestand, einen nicht-schwulen Flugbegleiter im beruflichen Umfeld aus heterosexuell orientierten Frauen und homosexuell orientierten Männern zum Ausdruck zu bringen, das heißt, ihn an sprachlichen Regelungen zur Reibung zu bringen, die Heterosexualität als sekundär, als das Andere der Homosexualität erscheinen ließen.« (S. 50)
Das eben zitierte Andere kann ebenso gut als Blick über die eigene musikalische Nische verstanden werden, die sich nicht (immer) in den allzu vertrauten Beat fallen lässt, sondern quer gegen das Genre denkt (und dieses Mal wirklich quer und nicht queer, wie Meinecke sofort versetzen würde!). Das Verfahren des Signifying bildet den theoretischen Unterbau des Buchs, wie durch Adaption eines Popstils subversive Aneignung möglich wird. Auch die Verschiebung der Geschlechtergrenzen wird durch den Prozess des Signifying möglich. »Die von mir geschätzten kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts verdanke ich in erster Linie ästhetischen Konzepten sexuell Andersdenkender (allen voran schwuler Männer). Subtile Resignifizierungen, wie sie Camp hervorgebracht hatte (Vaudeville, Broadway, Hollywood, Theatre of the Ridiculous, Disco, House), wurden zu meinem poetologischen Leitsystem.« (S. 49-50)
Die Inszenierung von Geschlecht prägt nicht nur ›tanzbare‹ Stile, wie die Rezension von Grünwalds Buch zu einer anderen Musikrichtung aufzeigt, sondern höchstwahrscheinlich jeden Musikstil, der sich an ein vorwiegend junges respektive junggebliebenes Publikum richtet. Die Verhandlung der (Geschlechts-) Grenzen prägt vor allem die Adoleszenz, wird jedoch in ›Massen‹-Musik als thematisches Repertoire stets neu reaktualisiert. Manche der akustisch aggressiveren Stile verbergen diese Verhandlungen geschickt unter einer zunächst abstoßenden Oberfläche, doch das wäre ein Thema für sich.
Es könnte auch an der Lässigkeit, dem Spiel mit Vexier- und Spiegelbildern liegen, dass nach der Lektüre des kleinen Buchs so viele Namen hängen bleiben, aber zu wenig durchdringende Pop-Erkenntnis. (Wenn man darunter, wie bereits ausgeführt, die Bewegungen versteht, die sich nicht nur in einzelnen Akteuren, sondern in einer Vielzahl von Charakteristika niederschlagen. Wie sollte man sonst wissen, dass mancher Stil nur so grobkörnig klingt, weil das Geld für teures Equipment oder die Geduld für Produktionszeit oder häufig sogar beides fehlte? Wie steht es mit dem Einfluss der Landschaften, denen Musiker ausgesetzt sind und die wohl auch über geographische und meteorologische Namen verfügen, jedoch nur vermittelt in der Musik den Weg auf den Dancefloor finden können? Dies sind nur ein paar Gedanken, die den Fokus des Buchs verständlicher und breiter hätten werden lassen können.)
Der Autor nennt diese Gefahr selbst: »Neulich wurde ich zu später Stunde in einem einschlägigen Club, einschlägig vor einschlägig geweihtem Tanzboden meine beseelten afrikanisch-amerikanischen House 12-inches auflegend, von einem ausdauernd ekstatischen Tänzer, der an die Kanzel kam, für mein Set gelobt, und als ich mich gerade glücklich dafür bedanken wollte (ich hatte ihn ja die ganze Zeit sehr inspiriert und inspirierend tanzen gesehen), ließ er ein enormes Donnerwetter auf mich runter, den unverständlichen Scheiß betreffend, den ich (an dieser Stelle) alle zwei Monate in der Groove verzapfe.« (S. 93)
Meinecke schreibt, dass für ihn als Schriftsteller die Musik »einen Sehnsuchtsraum« (ebd.) eröffne. In diesem Raum fühle er Freiheit, weil die Sprache dort nicht einfach hinkomme. Man wünschte sich mehr dieser Freiheitsbestrebungen in den Buchkapiteln.
Bibliografischer Hinweis:
Thomas Meinecke
Analog
Berlin 2013
Verbrecher Verlag
ISBN 978-3-943167-43-6
111 Seiten
Dominik Irtenkauf M.A. ist freischaffender Journalist und Autor (u.a. fürs Legacy-Magazin und Telepolis), zudem arbeitet er an einer Dissertation in den Sound Studies zur Soundscape in gitarrenverstärkten Musiken.