Deutsche Gegenwartsliteratur: eine weitere Streitschriftvon Sven Gringmuth20.3.2014

Neue alte Schule: Marx und Rimbaud

Ende Januar diesen Jahres kommentierte Florian Kessler das brav-konformistische Treiben der jungen Arztsöhne im deutschen Literaturbetrieb für die »Zeit«. Etwas über eine Woche später antwortete Christoph Schröder in der »Zeit« auf den Beitrag und warf Kessler und seinen Unterstützern Unkenntnis und Selbstinszenierung vor. Das deutsche Feuilleton reagierte eilig – von »taz« bis »FAZ« zogen Kommentatoren nach. Lesenswert ist da eigentlich nicht viel, die prominentesten Beiträge stammen wohl aus den Federn von Maxim Biller (wiederum in der »Zeit«), der die These aufstellt, der Literaturbetrieb in Deutschland leide vor allem darunter, dass Autoren mit Migrationshintergrund nicht wahrgenommen oder abgedrängt werden, und Dietmar Dath (in der »FAZ«), der ihm so energisch wie polemisch widerspricht.

Das Schlüsselwerk in der gegenwärtigen Auseinandersetzung: Enno Stahls hervorragendes Buch »Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft« (Verbrecher Verlag; Berlin, 2013). Auch Stahls Beiträge zur Debatte für die »taz« im Januar und Februar verweisen auf den, in »Diskurspogo« ausgiebig behandelten, wichtigen Zusammenhang von neuen Arbeitsorganisationsformen und der expliziten Nicht-Wahrnehmung und -Thematisierung dieser Verschiebungen in der Gegenwartsliteratur. Stahl in der »taz«:

»(…) die Stromlinienförmigkeit der jungen deutschen Gegenwartsliteratur liegt nicht allein in der Erfolgsorientiertheit ihrer Verfasserinnen und Verfasser begründet. Sie ist Ergebnis ihres schichtenspezifischen Horizonts (…) Literatur wird hierzulande von Menschen produziert, vermarktet und rezipiert, die aus gut situierten Verhältnissen stammen«.

Dass die Debatte um das, was Literatur/Kunst kann oder soll, freilich schon sehr viel älter ist, ist kaum der Rede wert. Dennoch – an dieser Stelle eine (ebenso polemische wie durchaus politische) Erinnerung an zwei Texte, die die derzeitige Auseinandersetzung gewiss bereichern könnten, würde man sich ihrer erinnern.

Know your enemy

Martin Walser schrieb, als er sich noch als Marxist (wenn auch in einem eingeschränkten Sinne) verstand und in DKP-Kreisen herumtrieb, hier und da für Enzensbergers »Kursbuch«. Dort erschien der Essay »Über die Neueste Stimmung im Westen« im Jahre 1970. Volker Braun hielt am 4. Mai 1984 in Mainz, vor der ›Akademie der Wissenschaften und der Literatur‹, einen Vortrag mit dem Titel »Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität«. Der Vortrag erschien 1985 im Verlag ebenjener Akademie und wurde als »Rimbaud-Essay« in Ost und West bekannt.

Worin besteht die Gemeinsamkeit dieser Schriften? Beide sind Kampfschriften, haben Manifest-Charakter und richten sich gegen ein und denselben Feind: den romantischen Antikapitalismus und seine ästhetischen Ausprägungen. Im Westen: Leslie A. Fiedler, Peter Handke, Rolf-Dieter Brinkmann und die Hippies. Im Osten: Sascha Anderson, Durs Grünbein und die Existentialisten der Prenzlauer-Berg-Szene.

Beiden Texten gemein ist zudem, dass sie (verfolgt man also die Debatte um den Zustand der deutschen Gegenwartsliteratur) aktueller denn je sind und sich ganz hervorragend als scharfe Waffe gegen ausschließlich selbstreferentielle Heulsusen-Literatur (ich schließe Songtexte ein) in Stellung bringen lassen, die sich als subkulturelle Bescheidwisser-Attitüde tarnt und in Wirklichkeit nur der letzte ästhetische Schrei kleinbürgerlicher Fluchtbewegungen (nach innen) ist.

Draußen ist feindlich

Flucht wovor? Flucht doch nur vor den sich stetig verschlechternden gesellschaftlichen Bedingungen im immer später werdenden Spätkapitalismus, die einem jeden noch mehr Flexibilität, Leistungssteigerung, Mobilität und Unterwerfung abverlangen und antrainieren. Nach dem weltweiten Sieg des Imperialismus gibt es keinen Rückzugsort außerhalb mehr. Der Kapitalismus ist allumfassende Totalität im geographischen Sinne geworden. Nowhere to run. Entfremdung und Verdinglichung von Kapstadt bis Reykjavik, von Wladiwostok bis Haight Ashbury.

Der Weg nach innen ist der letzte verbliebene, den die Flüchtenden sehen. Ein romantischer Antikapitalismus, der die Generation Neon durch die Nacht bringen soll – noch mehr Träume, Utopien, Drogen, Kryptisches. Ideologie ist im gleichen Maße verfemt, in dem die Postmoderne lehrte, dass es keine Wahrheit gibt. Alles Intrigen, alles Lüge wohin man sich wendet (kein Wunder, dass die Verschwörungstheorienindustrie boomt…).

»Das System erzeugt zwar Unwissenheit über sich selbst« schrieb Walser, »aber es produziert gerade durch die Fülle der in ihm konkurrierenden Meinungen bei den meisten auch ein Gefühl der Unwissenheit, der Inkompetenz, der Unsicherheit und Angst. Davon leben dann wieder andere, privilegierte Meinungsmacher: sogenannte Experten«.

Und denen wird das Feld komplett überlassen. Jedem seine Sache: Den ›Expertenregierungen‹ die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie in Europa, den Starköchen die Rezepte, den Hochglanz-Magazinen die Ideen für die Innenausstattung der gemeinsamen Pärchen-Wohnung, den Beziehungsberatern das Fixieren des gemeinsamen Glücks, dem »Stern«  oder »Spiegel« die eigene Meinung. Ich übergebe mich (im umfassenden Sinne).

»Eine der am besten ernährten Meinungen besagt, dass in diesem System keine einzelne Meinung und nicht die Meinung eines Einzelnen den Ausschlag gebe, sondern daß gehandelt werde nach der Meinung einer Majorität. Diese Meinung wird von denen verbreitet, die die einflußreichsten Apparate zur Verbreitung ihrer Meinung haben«.

Ich-Maschine

Was also tun? Nichts. Sich sehnen – nach sich Selbst und anderen, besseren Zeiten (…klingt gut). Der Banksy an der Wand und die »London Calling« auf dem Plattenteller bescheinigen die Sehnsucht und machen Desengagement »zur letzten noch möglichen Tugend«. Was ist das ästhetische Endergebnis? Ein Literaturmarkt, der Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Sarah Kuttner oder Helene Hegemann  für Schriftsteller ausgeben kann, eine Kunstindustrie, die Jonathan Meese für einen Maler achtet und eine Musiklandschaft, die sich in Capser, Kraftklub und Kettcar spiegelt.

»Historische und streng gesellschaftliche Bedingungen werden bei diesen Bloßlegungen nicht enthüllt. Sie gehören nicht zum Arbeitsprogramm. Soziale Notwendigkeit ist überholt. (…) Wenn du leben kannst vom Verkauf deiner abenteuerlichen Selbstbeobachtungen oder persönlichen Sprach-Erlebnisse, hast du keine spürbare gesellschaftliche Funktion mehr. Du wirst immer mehr der Einzige, den es gibt für dich. Die dadurch entstehende Asozialisierung schärft wiederum deine Empfindlichkeit für die Gemeinheiten des Meinungsmarktes, steigert deine Verletzlichkeit und liefert dir immer weiter den Kummer, der wiederum zum Anlaß weiterer Selbsterforschung und Sprachprüfungen wird«.

Also zuschauen. Oder doch was ändern? An sich arbeiten? Offener werden? Es gibt Substanzen, Hilfsmittel. »Wenn man glaubt, es werde jetzt immer komplizierter etwas zu erkennen, dann zieht man sich entweder auf sich selbst zurück oder versucht noch sich Hilfsmittel zu beschaffen, die man selber nicht machen kann. Die Hilfsmittel sind nicht willkürlich wählbar. Man sucht sich das, was mit den eigenen Erfahrungen vermittelt werden kann«. Im Klartext: Jedem seine Droge. Du musst wissen, was dich durch den Tag und die Nacht bringt. Und trotzdem: Du bleibst ein Rad im Uhrwerk – niemand steigt aus! Nicht auf dem Biobauernhof, nicht in der Fixerstube, nicht im Studierstübchen und nicht auf dem Backpacker-Selbsterfahrungstrip in Südostasien. »Es gibt keinen theoretischen Standpunkt. Auch das Zuschauen ist gesellschaftlich bedingte Praxis. Die Bedingung einer Bedingung ist wieder eine Bedingung«.

Yolo!

Und trotzdem – engagierte Kunst ist verdächtig. Engagement riecht nach schlechtem Essen und klingt wie noch schlechterer Sex. Der Weg nach innen ist zudem angenehm gepflastert mit alten Bekannten (Brecht raus aus dem Regal!) und – »hier überrascht Hermann Hesse überhaupt nicht. Indischer und schwäbischer Weg nach innen werden EINE Straße der Erleuchtung. Und natürlich klingt das momentan viel besser als der gesellschafskritische Cant, der bei uns selbst den ärgsten Ministern leicht vom Munde geht. Das ist eine Reaktion auf linke und rechte Heuchelei. Nur: diese Heuchelei hat es offenbar geschafft, Identifikation überhaupt verdächtig erscheinen zu lassen. Jeder wird zurückgeworfen auf sich selbst (…) und so wird er sich in einer Reihe von Revolten und Reinigungen erschöpfen, ohne dem, wogegen er revoltiert, überhaupt gefährlich geworden zu sein«.

Vor Jahren warb Charlotte Roche für den Fernsehsender »Viva« mit dem Slogan »Radikalisiert das Leben«. Ich denke, besser als durch dieses Beispiel kann man die vollkommene Sinn-Entleerung nicht anschaulich machen. Die Fragen »Wofür/Wogegen?« sind von vorneherein hinfällig und werden einem fatalistischen »Jetzt erst recht!« geopfert, dass für eine Radikalisierung des Lebens vermutlich gar in Second-Hand-Klamotten über bunte Blumenwiesen tollen würde. Einmal was riskieren, wild und gefährlich leben: Abends Aronal, morgens Elmex. Yolo!

»Also produziert das System eine Erträglichmachung des Unerträglichen durch eine neue Stufe der Verinnerlichung: Jeder fange bei sich selber an, dann wird die Welt sich schon ändern; nicht mehr scheinheilig Gesellschaftskritik üben, sondern sich selber ändern…«.

Die Alternativen, die artikuliert werden sind: Gesundes Essen, fair-gehandelte Klamotten, religiöse/ethnische/sexuelle Offenheit und Toleranz in urban-mildem Klima und Almosen für die Armen der Welt. »Aber man fragt sich auch, wie jemand nach der täglich zu machenden Erfahrung sich noch in solche Vorschläge flüchten kann. Warum diese Verteiler- und Weihnachtsphilanthropie? Warum macht man nicht den Vorschlag, dass die Arbeitenden sich ihre Produktionsmittel aneignen«? Ja, warum eigentlich nicht?

Publikumsbeschimpfung. Es gibt keine Software!

Alternativlos ist das alles doch, so heißt es: T.i.n.a (There is no alternative!). Und wird etwas kritisiert, dann sogleich der Reflex: Nur konstruktive Kritik, bitte! Der Sound dazu: »Dann sag doch mal, was du willst« und »Was ist denn dein Vorschlag«? Peter Handke schrieb: »Ein engagierter Schriftsteller kann ich nicht sein, weil ich keine politische Alternative weiß zu dem was ist, hier und woanders (…)« Walser entgegnete:

»Was heißt das ›zu dem was ist‹? Ist denn was ein für alle Mal? Das verändert sich doch andauernd und nimmt eine Richtung an und man selbst hat gar keine Chance, sich etwa bewegungslos und nicht-wissend zu stellen. Selbst wenn ich keine Rechtfertigung finde und schon gar keine anzubieten habe, selbst wenn meine Arbeit wieder und wieder die erwünschte Identifikation nicht liefert, kann ich dann wie ein Import-Buddha sitzen ohne Rechtfertigung und etwa davon absehen, daß ich auf jeden Fall identifiziert werde mit etwas, zum Beispiel mit einem gesellschaftlichen Zustand und einem System? Genügt es, sich aus methodischer Keuschheit nicht einzulassen mit dem Prozeß, der auf jeden Fall im Gange ist? Jeder Autor ist sein Gegenstand, das ist klar. Und er kann nur noch mit sich selber was anfangen. Und Mitteilungen machen nur noch von sich selbst. Aber er ist ja keine Puppe auf einer Nadelspitze, sondern Kreuzungspunkt und Produkt alles Gesellschaftlichen«.

Mit geborgten, Kittlerʼschen Worten: Es gibt keine Software! Ein elementarer Punkt in einer (wieder) zu fassenden ästhetischen Realismus-Konzeption: Die Realisierung der Tatsache, selbst nicht außerhalb zu stehen oder zu einem vermeintlich ›natürlichen‹ Zustand übergehen/zurückgehen zu können. Menschen sind Produkte des Gesellschaftlichen und ihr Schaffen ebenso. Schlimm genug, dass marxistische Binsenweisheiten heute wieder Offenbarungscharakter bekommen! Und was Literatur/Kunst wieder werden muss: »Ein Mittel zur Ausbildung eines kritischen und zur Veränderung drängenden Bewußtseins von gesellschaftlichem Zustand« oder eben auch »Ausdruckspraxis, die die Welt mit Hilfe kritischer Abbilder korrigieren« will.

damaged goods

An Ähnlichem arbeitete Volker Braun mit seinem Mainzer Vortrag, auch wenn er als Ausgangspunkt eine Person, Artur Rimbaud, wählte. Rimbaud, der französische Lyriker, der mit 19 Lebensjahren sein Werk vollendete und spät die Anerkennung erfuhr, die ihm zu Lebzeiten versagt blieb. Er hob die französische Gossensprache (lange vor L.F. Celiné) auf höchste Höhen und wird bis heute oft (zu Unrecht) mit Villon oder (wesentlich ärger) Baudelaire in einem Atemzug genannt. Denn seine Sache war »nicht Flauberts ›ennui‹ oder Baudelaires ›spleen‹, jener unbestimmte Überdruß des Kleinbürgers, dem am Tische unwohl wird, an dem er morgen wieder fressen möchte. Rimbaud hatte nicht Lust, Platz zu nehmen. Der ganze Stall schien ihm lächerlich und hinfällig«.

Rimbauds Bezugspunkt war und blieb das Gesellschaftliche. Er fieberte mit der Pariser Commune und litt an ihrer Niederschlagung 1871 so sehr, dass er wünschte, den Besatzern »meine Zähne noch im Verrecken tief in die Kolben ihrer Gewehre zu schlagen«. Er schuf eine Poesie der Materialität, eine Ästhetik der Nützlichkeit und des Forcierten. Ich lasse an dieser Stelle Volker Braun das Wort – er schreibt ein so herrliches Deutsch, wie es nicht vielen zu Gebote steht:

»Das Unsichtbare sehen, und es in seiner Form oder Formlosigkeit wiedergeben: jedes Wort ein Gedanke. Das heißt alles gewohnte Material wegkippen, womit die subjektive Poesie spielte, das sie breittrat, allen Zierrat und die metrische Haltung kappen. Sprache, ganz aktuell und sinnlich: der Duft, der Ton, die Farbe und der Gedanke, der dem Gedanken folgt. Äußerste Entzauberung und vollkommen Funktionalität – materialistisch, wie die Zukunft um die es ausgesprochen geht. (…) Poesie sieht durch in die Schrecken/Freuden der Verwandlung. Sie ist nicht zu brauchen, wo man die vortrefflichen Verhältnisse nicht ändern will. Nicht die Einsamkeit des Rasierspiegels: das Brennglas der sozialen Erfahrungen«.

»Wir lernen« sagt die Lehrerin in Brechts »Tage der Commune«. In der Tat! »Ich spreche nicht von dir und mir, ich sage ›wir‹. Wir, das sind mehr als du und ich«. Die gemeinsamen Erfahrungen betonen, die Prozesse schildern. Doch bloß keine bruchlosen Utopien liefern, keine stumpfen Messer, keine Bilder ohne Text! »Ernüchterung ist die Arbeit unserer Literatur. Arbeit gegen die Deckgebirge der Verheißungen (…) subversiv. Wir wissen, worauf wir uns eingelassen haben«.

Letzte Warnung

Doch ist es nicht eher »das Eigentliche… wo die Träume sich abspielen« von dem Kunst handeln soll, das ganze romantische Programm? »Unsere vermeintlichen Neutöner (…) in den romantischen Quartieren (wo sie sich ordentlich führen) sind wohl gute Anschaffer, die fleißig auf den Putz hauen. Hucker, nicht Maurer. (…) Tatsächlich die Wiederholung des geistlosen Handbetriebs der Avantgarde, niedrige Verarbeitungsstufe. Und wenn der Gebrauchswert gegen Null strebt, wird Dichten Beschäftigungstherapie«. In der Tat. In der »törichten Kinderstube der Moderne« weilt heute nichts als das Gähnen von vorgestern. Was im Hier und Jetzt ist, das verlangt »radikalere Sätzlein«.

»Wenn der Dichter nicht länger für die Gesellschaft, sondern nur für sich selbst sprechen kann, befinden wir uns im letzten Schützengraben«, so Braun. Dem ist nichts hinzuzufügen. Wo dereinst schon die »Tristesse Royale«-Besatzung koksbeschleunigt von einem neuen 1914 träumte (und im Jahre 2014 die Gegenwart die Vergangenheit allenthalben beschworen wird), sollte es gar nicht wundern, wenn aus dem metaphorischen Schützengraben noch einmal der reale wird und die Franz Marcs und August Stramms tatsächlich wieder fallen. Der Rückzug ins Innere war häufiger schon ein bloß kurzer Zwischenstopp im Viehwagen – auf dem Weg zur Front. »Eine solche Gesellschaft ist nicht schwer zu haben. In ihr stirbt mit jedem Anflug ins Innere eine demokratische Möglichkeit ab und die Möglichkeit zum Gegenteil – und das heißt Faschismus – nimmt zu. Jeder lutscht dann an seinem Mythos und hält sich seine Freizeit lang im Inneren auf…«.

High Definition

Was aber ist dann das Programm? Um welchen Preis und wie konkret wäre ein Gegenentwurf zu dem was ist zu haben? Nun, zunächst hieße es, dahin zu gehen, wo es wehtut. Wo man sich nicht so masochistisch gerne aufhält wie im eigenen Inneren: Ins Innere des Landes. Zu denen die, fast keine Hoffnung mehr haben. Keine Flucht(en) mehr, sondern Realismus. »In den Schmutz der Strukturen, in den Dreck der Ungleichheit« müsste es gehen, aber dies hieße einen radikalen Bruch herbeiführen und »keine Gesten mehr. Wenden wir uns um in unser Unglück. Gehen wir wieder in das alte Land hinein. Keine Ausflüchte; wir müssen ins Innere gehen. Das ist ein schrecklicher Gang: in das Ende der Schrecken (…) Wir werden den Kontinent nicht verlassen. (…) Die Paradiese nicht noch die Hölle: der Aufenthalt auf Erden. Realismus. Er wird uns ins innerste Afrika führen«.

Appendix. Der Traum

»Aber«, klingt die bange Frage der besorgten Kunst-Freunde nicht erst seit Lukács eiserner Realismus-Doktrin, »bei aller steten Rückbindung an Gesellschaft und Produktion, muss die Kunst nicht auch die Träume zulassen, muss der Mensch nicht auch träumen dürfen«? Wer würde da widersprechen wollen und so möchte ich mit Ernst Bloch schließen; er zitierte in seinem »Prinzip Hoffnung« Lenin folgendermaßen:

»Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet. Gibt es nur irgendeinen Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, dann ist alles in bester Ordnung. Träume solcher Art gibt es leider (…) allzu wenig«.

 

Sven Gringmuth ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Germanistischen Seminar der Universität Siegen.