Europa Teil 2: Einfalt durch Vielfaltvon Thomas Hecken25.5.2014

In der Woche vor dem Wahltag 25. Mai beklagen Leitartikler routiniert, vor der Europawahl komme „nicht einmal ein Anflug von Leidenschaft auf“. Der Chefredakteur der Wochenzeitung „Zeit“, der dies auf der Titelseite (Nr. 22, 22.5.2014) schreiben darf, schließt sich in diese leidenschaftslose Menge ein, obwohl er doch als „begeisterter Europäer“ „fast nur Menschen“ kennt, die „sich von Herzen als Europäer verstehen“.

Nicht die EU, wohl aber Europa bringe bei ihnen solche Gefühle hervor. Und was „lieben“ sie an Europa, wofür begeistern sie sich? Die Antwort liefert gleich der erste Absatz: „Europa ist für sie eine identitätsstiftende Vielfalt von Ländern, Sprachen und Landschaften. Es ist die permanente Präsenz von Geschichte, Kunst und Kultur. Es ist schließlich auch eine zivilisatorische Klammer, die sich die meisten europäischen Länder inzwischen gegeben haben, nach Jahrhunderten der Kriege und Konflikte.“

Da leuchtet einem die Überschrift gleich ein: „Mehr Leidenschaft!“ Und man stimmt euphorisch ein: ‚Gib‘ dir auch die „Klammer“, verschaff dir deine ‚Identität‘ durch „Vielfalt“, erfreue dich an der „permanenten Präsenz“ solch missglückter Metaphern und inhaltsloser „Kunst und Kultur“! Denke keine Sekunde darüber nach, wie es trotz der fantastischen „Kunst und Kultur“ zu den unentwegten „Kriegen und Konflikten“ kommen konnte!

Angesichts dieser sprachlich bescheidenen und gedankenarmen Sätze verspürt man gleich unwillkürlich Sympathie für das Anliegen von Benedikter/Göschl, eine europäische „Zivilreligion“ zu proklamieren (Heft 4, »Pop. Kultur und Kritik«; nähere Erläuterungen dazu im ersten Teil dieser kleinen Serie).

Wenigstens ist das ein neuer Begriff, der einem das öde, konformistische Kulturgerede erspart. Auch macht es einem die Emphase von „Religion“ unmöglich, ins Verwaschene und Nichtssagende zu flüchten und scheinheilig so zu tun, als könne man „Identität“ auf „Vielfalt“ bauen.

Andererseits gründen Benedikter/Göschl ihre Konzeption auf den „jahrhundertealten humanistischen Geist Europas und seine kollektiven wie individuellen Errungenschaften“, das ist genauso unbestimmt und folgenlos konsensträchtig wie die „Zeit“-Kultur. Zudem schlösse sich der „Zeit“-Kulturfreund dem Lob des Humanismus zweifellos sofort an, auch wenn ihn der Titel „Zivilreligion“, unter dem dieses Lob steht, wahrscheinlich irritieren würde.

Es ist darum geboten, sich an das amerikanische Vorbild für Benedikters/Göschls „europäische Zivilreligion“ zu halten. Von ihm lässt sich ein schärferes Licht auf die erhoffte Europa-Begeisterung werfen. Dazu mehr in der nächsten Folge.