True BloodScheiternde Rationalitätvon Carolin Utsch16.6.2014

Mythos TV-Serie

Die Welt der TV-Serie „True Blood“ (seit 2008, HBO) zeigt die unsere. Obama ist Präsident, unter Bush zogen einige der Protagonisten in den Irakkrieg und müssen nun mit ihrem Trauma leben. Angelina Jolie adoptiert in regelmäßigen Abständen neue Babies, die Leute sehen die Reality-TV-Show von It-Girl Kim Kardashian im Fernsehen. Hin und wieder erinnert man sich an den Zweiten Weltkrieg und Hitler-Deutschland. Es gibt Vorurteile gegen Minderheiten jeder Art. Das Andere ist allgegenwärtig. In dem anderen Geschlecht, der anderen Ethnologie, in Homosexualität und sozialen Unterschieden. Soweit nichts Neues.

Doch dann geschieht etwas, das alles durcheinander wirft. Eine Störung tritt ein. Aufgrund eines in Japan entwickelten synthetischen Blutes ist es den schon immer unter den Menschen lebenden Vampiren möglich geworden, friedlich mit ihnen zu koexistieren, ohne sich gewaltsam an deren Blut zu vergreifen. Die Vampire ‚outen‘ sich und sind plötzlich Teil des alltäglichen menschlichen Lebens. Allem voran sind sie aber das Andere.

Die Menschen sind unsicher, misstrauen dem Fremden, das in ihre Normalität eingedrungen ist. Selbst wenn das synthetische Blut da ist, was ist mit dem Jagdinstinkt dieser Ungeheuer? Und müsste echtes Menschenblut ihnen nicht viel besser schmecken? Das Fremde wird von den meisten Leuten direkt zur potenziellen Gefahr erklärt. Zudem schwingt stets die Frage mit: Wenn es Vampire gibt, Wesen, die Jahrtausende unbemerkt unter den Menschen existiert haben, was gibt es dann noch? Plötzlich ist alles möglich, es herrscht absolute Kontingenz. Und dies bedeutet totale Verunsicherung

Verunsichernde Mythen

Man kann als Zuschauer, ebenso wie die Protagonisten der Serie, niemals sicher sein, was als nächstes geschieht. Hatten frühere TV-Serien oft das sogenannte ‚monster of the week‘, also in sich abgeschlossene Episoden, so erschienen in den letzten Jahren immer häufiger seriale Narrationen mit episoden- oder sogar staffelübergreifendem Handlungsbogen. Die Narrationen dieser Serien zeichnen sich durch Nichtlinearität, Offenheit und Kontingenz aus.[1]

Auch die Grenze zwischen Gut und Böse scheint es häufig nicht zu geben. Paradigmatisch dafür ist die Figur Bill, die in der ersten Staffel als eine Art Pendant des romantisch harmlosen Herzensbrechers Edward aus der populären „Twilight“-Serie Stephenie Meyers eingeführt wird. Im Verlauf der Serie wird er aber zu einer immer undurchschaubareren Figur, schließlich einem Terroristen und am Ende der fünften Staffel gar einer Art antichristlichen Propheten, der die Menschheit im Dienste seiner Gottheit ausrotten will. Man kann als Zuschauer von „True Blood“ nicht vorhersehen, was als nächstes geschieht oder wie sich die Charaktere weiterentwickeln.

„True Blood“ zeigt eine ‚Was-wäre-wenn‘-Welt. Reale historische Ereignisse und Persönlichkeiten werden permanent mit mythologischen Motiven verknüpft. Die Mythen, die ursprünglich dazu dienten, die Welt für die Menschen verständlicher zu machen, sorgen in dieser Serie für das genaue Gegenteil.

Dadurch, dass in der Welt von „True Blood“ Mythen oder mythologische Figuren plötzlich verifiziert werden, entsteht sowohl innerhalb der Narration als auch beim Zuschauer regelmäßig Verunsicherung. Denn sind es zunächst einmal nur die Vampire, die real existieren, so zeigt sich nach und nach, dass auch viele andere Mythologeme plötzlich nicht mehr allein der menschlichen Phantasie zu entstammen scheinen. Die Mythologie wehrt sich innerhalb von „True Blood“ erfolgreich gegen ihren eigenen Untergang.

„True Blood“ ist eine Dystopie – die Negation einer Utopie, die eine im Verhältnis zur zeitgenössischen Wirklichkeit idealere Gesellschaft zeigt.[2] Die meisten heutigen Utopien sind Zukunftsvisionen. Der Begriff „Utopie“ stammt aus Thomas Morusʼ Werk „Utopia“ von 1516. Aus dem Griechischen abgeleitet, steht er für einen „schönen Nicht-Ort“.[3] „True Blood“ als eine ‚Gegenwarts-Dystopie‘ bildet nicht allein eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Parallele zur Realität, was „True Blood“ von der klassischen Dystopie unterscheidet. Die Serie spielt weder zu einer uns noch unbekannten Zeit noch an einem unbekannten Ort, die Welt von „True Blood“ ist grundsätzlich die unsere.

Zwar ist es nicht ungewöhnlich für eine TV-Serie, Bezüge zur Realität zu schaffen, „True Blood“ tut dies aber auffällig häufig, auch außerhalb der Narration. Paradigmatisch dafür ist die unter den Begriff „Transmedia Storytelling“ fallende Marketingkampagne, die vor Ausstrahlung der ersten Staffel geschaltet wurde.[4]

Dabei wurden, noch vor Bekanntgabe der Serie, an amerikanische Horrorblogger Phiolen, die mit japanischen Schriftzeichen bedruckt waren und eine undefinierbare rote Flüssigkeit enthielten, versendet. Zudem bekamen die Blogger Karten mit einer Botschaft in einer unbekannten Sprache, die Wochen später auch in verschiedenen Zeitungen ohne näheren Kontext gedruckt wurde. Dies entwickelte sich zu einem viralen „alternate reality game“, an dessen Enträtselung Menschen auf der ganzen Welt beteiligt waren.[5]

Tatsächlich verbreitete sich auch die Auflösung des Rätsels ebenso schnell: Die Sprache, in der die Botschaft verfasst war, ist Ugaritisch. Ebendiese aus dem 14. bis 13. Jahrhundert vor Christus stammende Sprache ist mittlerweile ausgestorben und diente als Vermittler und Übersetzungshilfe für die meisten Mythen, die aus dieser Zeit stammen. Die Botschaft bedeutete, übersetzt ins Englische, das Folgende:

„Thank you for answering the call and joining us. But what it means to us is almost beyond words. TruBlood can sustain us. The bonds of blood will no longer hold us hostage.“[6]

Die Botschaft stand in Verbindung mit dem Link zu einer Internetseite, auf deren Startseite ein Vampir als ‚Gatekeeper‘ neugierigen Menschen den Zutritt zur eigentlichen Homepage verwehrte. Das Ganze wurde noch in keinen direkten Zusammenhang mit der TV-Serie gebracht. Das Rätsel mit der Botschaft verbreitete sich mit Hilfe des Internets viral um den Globus und wurde schnell gelöst. Die Übersetzung des Textes sorgte im Anschluss dafür, dass die Menschen verschiedenste Theorien über deren Bedeutung entwickelten.[7] „True Blood“ spielte also schon vor seinem eigentlichen Erscheinen mit dem postmodernen Drang der Menschen, alles erklären zu müssen.[8]

Die Grenze zwischen Realität und Narration verschwand nicht nur während der Marketingkampagne im Vorhinein zur Serie. Auch innerhalb der Narration tauchen beispielsweise immer wieder Internetseiten auf, die es auch in der Realität, als Antwort auf die Serie gibt: Zu nennen wären hier die bewusst dilettantisch gestalteten Homepages „Keepamericahuman.com“[9] oder „Vamps-kill.com“[10], die von verschiedenen Anti-Vampir-Gruppierungen stammen sollen, oder die Homepage der terroristischen Sekte „Fellowship of the Sun“[11], die alle drei zudem stark an unabhängig von der TV-Serie stehende Homepages verschiedener Hassgruppierungen erinnern.

Die Massenmedien als Mittel zur Erzeugung und Steuerung von Angst

Innerhalb der Narration von „True Blood“ wird die mediale Präsenz unterschiedlicher politischer Vertreter immer wieder thematisiert, häufig in Verbindung mit dem Kampf der Vampire für ihre Gleichberechtigung. Im Zusammenhang damit ist die Rolle der Medien von großer Bedeutung. Gleichermaßen nutzen die Vampire ebenjene Medien dazu, diese Angst zu kontrollieren und in Bezug auf sich selbst abzuschwächen. „True Blood“ zeigt uns eine sarkastische, kritische Sicht auf die Medien. Die Vertreter aller Parteien sind an irgendeinem Punkt innerhalb der Narration unglaubwürdig, man beginnt als Zuschauer an ihnen allen zu zweifeln.

Die Pressevertreter der Authority sind ständig medial präsent. Sie scheinen alles dafür zu tun, um die Vampire als ‚mainstreamtauglich‘ darzustellen. Dabei beginnt man als Zuschauer jedoch schon sehr früh den Integritätswillen einiger Vampire in Frage zu stellen. Zu Beginn der Serie scheint es Parallelen zwischen der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner der 1950er und 1960er Jahre in den amerikanischen Südstaaten und den Zielen der sogenannten ‚American Vampire League‘ zu geben.[12] Nach und nach stellt sich aber heraus, dass ein Großteil der Vampire zwar gerne dieselben Rechte wie die Menschen hätte, sich aber selbst über deren Gesetze hinwegsetzt. So verzichten die meisten Vampire auf das synthetische TruBlood, um sich lieber auch weiterhin an Menschen zu vergreifen.

In den ersten vier Staffeln ist Nan Flanaghan die von der Vampire-Authority gestellte Vorzeigefigur der American Vampire League. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Vampire als unschuldige Mitbürger auszuweisen, die dieselben Rechte wie die Menschen verdienen, und nach Russell Edgingtons Attentat in den TV-Nachrichten ebendiesen als Ausnahmeerscheinung, als Fremdling, unter den Vampiren auszugrenzen. So verteidigt sie die Vampire in einer Fernsehdebatte mit ihrem Kontrahenten Steve Newlin folgendermaßen:

„It is the right wing saying that all vampires need to be wiped out of existence. Following that logic, Osama Bin Laden is human, therefore all humans need to be wiped out of existence.“[13]

Sie hält den Menschen am Beispiel des allgegenwärtigen Osama Bin Laden ihre Vorurteile vor Augen und legt ihnen nahe, über die Stereotypen hinweg zu denken. Durch den anschaulichen Vergleich mit Bin Laden macht sie ihr Anliegen für die Menschen fassbar. Gleichzeitig scheint auch sie, sobald keine Kamera in der Nähe ist, Menschen dem synthetischen TruBlood vorzuziehen. Besonders anschaulich wird dies in der Szene innerhalb der dritten Staffel, in der Russell live im Fernsehen ein Attentat begeht. Man sieht Nan in einer Limousine, während sie via Head-Set geschäftlich mit der Authority telefoniert. Die Kamera fährt zurück, man erkennt zunächst ein nacktes Bein auf Nans Schoß, dann die komplette Prostituierte, die sich lasziv zu Nans Füßen räkelt. Diese beißt die Frau in den Oberschenkel und saugt sie aus, während auf dem Monitor in der Limousine Russells Attentat live gesendet wird.[14] (Abb. 26-29)

 

Abb. 1-4 (v.l.n.r.)
Pressesprecherin Nan wird Zeuge, wie Russell die Medien zur Verbreitung von Angst nutzt.

 

Damit bestätigt sich für den außerdiegetischen Zuschauer in gewisser Weise Russells Aussage, dass die Vampire das ‚true blood‘, das wahre, echte Blut, dem synthetischen TruBlood vorziehen. Nan als Pressesprecherin der Vampire wird unglaubhaft. Als Zuschauer beginnt man an ihr und gleichermaßen an der ganzen Vampire-Authority zu zweifeln. Dies wird im Laufe der Serie immer weiter bestärkt, wenn beispielsweise Roman, der oberste Vertreter der Authority, die Aufgabe des Pressesprechers folgendermaßen charakterisiert:

„If we behave like fucking savages, the humans will rise up. They will retaliate with their armies. It is just a matter of time. Right now, this council is the only thing preventing a civil war. […] If, for whatever reason, our sources are unable to bring Russell Edgington in quietly and he winds up on the TV threatening to eat children, I will need a friendly, trustworthy vampire mainstreamer who knows how to work a crowd.“[15]

Roman geht es, wie man sieht, also nicht um das harmonische Zusammenleben von Vampiren und Menschen, sondern vielmehr um die Absicherung seiner eigenen Spezies, die nicht mehr gegeben wäre, wenn die Menschen die Vampire als ihre Feinde betrachten würden. Die ständige Präsenz der American Vampire League in den Medien ist also in erster Linie eine biopolitische Maßnahme. In mehreren Szenen wird deutlich, dass Vampire nach Ansicht ihrer Autorität sehr wohl Menschen aussaugen dürfen, dies aber auf keinen Fall vor laufenden Kameras geschehen darf. Damit sind keineswegs nur die offiziellen Fernsehkameras gemeint, sondern auch die unzähligen privaten, beispielsweise in Form von Handykameras, mit denen die nach Russells Attentat völlig verunsicherten Menschen versuchen, Beweise für die Gefährlichkeit der Vampire festzuhalten und der Öffentlichkeit im Internet preiszugeben. Die Vampire sind durch die modernen, vernetzten Medien in Kombination mit der durch die Massenmedien gesteuerten Angst der Menschen also ständiger Beobachtung ausgesetzt.

In der fünften Staffel schließlich wird Nan Flanaghan durch ihren früheren Konkurrenten Steve Newlin ersetzt. Ebendieser verkörperte bisher in „True Blood“ die klare Vampir-Opposition. Vor allem in der zweiten Staffel ist er als Aushängeschild der sogenannten ‚Church of the Sun‘, die sich zu einer terroristischen Bewegung gegen Vampire entwickelt, präsent. Die ‚Church of the Sun‘ wird innerhalb der Sekundärliteratur oft als innerdiegetisches Pendant zur extremistisch-fundamentalistischen ‚Westboro Baptist Church‘ gesehen.[16] Dies liegt nahe, da das „God hates fags“ („Gott hasst Schwuchteln“) des Slogans jener Gruppierung im Vorspann von „True Blood“ zitiert und in „God hates fangs“ („Gott hasst Fangzähne“) abgewandelt wird. Tatsächlich erinnern auch die Bilder der aufgebrachten Menschen in der Narration oft stark an die auf der Homepage der ‚Westboro Baptist Church‘ veröffentlichten Bilder ihrer Anhänger.[17] (Abb. 30, 31)

Abb. 5-6
Aufgebrachte Demonstranten innerhalb der Diegese und in der außerdiegetischen Realität, entnommen der offiziellen Internetpräsenz der ‚Westboro Baptist Church‘

 

Absurderweise übernimmt Steve Newlin, ehemaliges Gesicht der ‚Church of the Sun‘, in der fünften Staffel, nachdem er selbst zu einem der von ihm vormals verhassten Vampire gemacht wurde, die Rolle der Pressevertretung der Vampire-Authority. Damit setzt er sich nun für die Gleichberechtigung der Vampire ein. Es stellt sich heraus, dass Newlin selbst einer jener Anderen ist, die er zuvor stigmatisiert hat. Seine Frau betrügt ihn, er ist körperlich schwach und heimlich homosexuell. Auch nachdem er sich in der Öffentlichkeit als Vampir geoutet hat, und sich für deren Gleichberechtigung einsetzt, verschweigt er seine Homosexualität. Für ihn bietet das Outing als Vampir die Möglichkeit einer neuen Karriere und den Anschluss an eine Gruppierung, in der er nicht der Andere ist. Das sexuelle Outing hingegen birgt für ihn die Gefahr einer weiteren Stigmatisierung. Am Beispiel der Figur Steve Newlin zeigt sich paradigmatisch die Rolle der Pressevertreter verschiedener Parteien in „True Blood“. Allein die Fähigkeit zur Vermittlung ‚medialer Mythen‘ scheint zu zählen, die Newlin offensichtlich besitzt:

„Elvis was spotted buying turkey jerky in a 7-Eleven in Yakima last Thursday but that doesn’t mean he’s still alive. That just means people will believe anything they want to believe. Humans are not rational. They are 100 percent motivated by fear. All they want is to feel safe, to know that they’re good and right and they’re gonna end up in heaven full of puffy clouds with everybody they’ve ever loved wearing angel wings. So you tell me what you want them to believe and I’ll sell it to them.“[18]

Dieses Zitat verdeutlicht genau das, was als Charakteristikum von Medien beschrieben werden kann. Das alltägliche Leben der Menschen ist von Angst geprägt, die früher durch die Mythen fassbar gemacht wurde. Die Medien sind nun in der Lage, diese Angst zu lenken, indem sie bestimmte Vorstellungen in die Köpfe der Menschen setzen und so in einer gewissen Weise eigene Mythen produzieren.

Während Steve Newlin die zitierten Worte spricht, steht er unter einer Lampe, deren Licht wie ein Heiligenschein wirkt. Durch diese Inszenierung wird Newlins Aussage innerdiegetisch gewissermaßen bestätigt. (Abb. 32)

Abb. 7
Steve Newlin, inszeniert als ‚scheinheiliger‘ Pressesprecher

 

In der fünften Staffel übernimmt eine vampirisch christliche Sekte die Authority. Ihre Anhänger vertreten den Glauben, dass Gott nicht den Menschen, sondern Lilith nach seinem Ebenbild geschaffen hat, der der Mensch als Sklave dienen sollte.[19] Auch an dieser Stelle wird wieder einmal ein schon bestehender Mythos an die Narration angepasst.[20] Man kann hier Verweise auf die Frontier-Ideologie sehen, bei der es darum ging, dass der von Gott gesandte weiße Mann sich die Natur, und im Zusammenhang damit, die ‚niederen Völker‘, Untertan macht.

In den Medien verkörpern die Vampire also das Bild des Ausgegrenzten, der eingegliedert werden möchte, während sie sich außerhalb der Medien klar von den Menschen abgrenzen und über jene stellen. Man kann sagen, dass sie sich innerhalb der Medien ähnlich zur Gleichberechtigungsbewegung der Afroamerikaner aus den 1950er und 1960er Jahren verhalten und Pressevertreter, die an Martin Luther King erinnern, präsentieren, während sie eigentlich für ein abgewandeltes Modell des Frontier-Mythos stehen.

Bill, der am Ende der fünften Staffel zu einer Hauptfigur dieser religiösen Vampir-Bewegung wird, erklärt ebendies folgendermaßen:

„I have spent my entire life as a vampire apologizing, believing I was inherently wrong somehow. Living in fear. Fear that God had forsaken me, that I was damned. But Lilith grants us freedom from fear. Vicissitudes, 9:24: ‚Fear not, for my blood is beyond fear. Fear of sin, fear of mankind, fear of retribution. For thou art begat by God and this world is but a spring to slake thy sacred thirst.‘“[21]

Es wird klar, dass Bill sich, seit er Vampir ist, ausgegrenzt fühlt. Die christliche Mythologie in Form seines religiösen Glaubens, die ihm als Mensch Leitbild war, machte ihn als Vampir zum Anderen, zur Gefahr. Im Glauben, verflucht und von Gott verstoßen zu sein, versuchte er dennoch, als Vampir ein möglichst christliches Leben zu führen, was aufgrund seines Verlangens nach menschlichem Blut nahezu unmöglich ist. In der Religion der Vampire schließlich erhält Bill die Möglichkeit, seinen alten Glauben in Form eines abgewandelten, auf die Vampire angepassten, christlichen Mythos auch als Vampir zu leben.

Da man die Narration als Gegenwarts-Dystopie sehen kann, ist es sowohl innerhalb als auch außerhalb der Diegese schwierig, den aufgeklärten Menschen an einen solchen Mythos glauben zu lassen. Innerdiegetisch nutzen die Vampire die Massenmedien zur Verbreitung von Angst bei ihren Anschlägen auf die TruBlood-Fabriken überall auf der Welt. Die Menschen werden glauben gemacht, dass unbekannte Attentäter dafür verantwortlich sind. Dadurch wird Unsicherheit und Kontingenz erzeugt. In Wirklichkeit stecken, wie man als Zuschauer weiß, die vampirischen Anhänger des von ihnen geschaffenen Lilith-Mythos dahinter, die die Angst säen, dass alle Vampire früher oder später wieder auf menschliches Blut angewiesen sein werden, wenn kein TruBlood mehr produziert werden kann.

Außerdiegetisch wird man gleichzeitig als Zuschauer verunsichert, weil der offenbar wahnsinnig gewordene Bill am Ende der fünften Staffel zuerst stirbt, dann aber als eine Art Prophet Liliths wieder aufersteht. Die Vampirreligion ist also plötzlich mehr als eine auf die Ängste der Vampire abgewandelte Version der christlichen Mythologie, an die der aufgeklärte Mensch nicht mehr richtig glauben kann. Wenn innerhalb der Narration Lilith existiert, stellt sich gleichermaßen die Frage nach der Existenz des christlichen Gottes als Entität.

Ebenso muss hinterfragt werden, ob ebenjener Gott im Falle seiner Existenz nun tatsächlich Mensch oder Vampir nach seinem Ebenbild schuf. Innerhalb der Narration von „True Blood“ ist plötzlich durch die Vermischung von Realität und Mythologemen wieder einmal alles möglich. So lässt die Serie am Ende der fünften Staffel den Zuschauer mit einem Cliffhanger zurück, der das Denken des aufgeklärten Menschen in Bezug auf die Narration in seinen Grundzügen erschüttert. Der von Nietzsche für tot erklärte Gott scheint in „True Blood“ lebendig geworden zu sein. Und möglicherweise ist er nicht der Gott des Menschen, sondern des Vampirs.

Schluss

In den klassischen Mythen wurden Geschichten erzählt und damit Bilder geschaffen, die Unerklärliches fassbar machten. Diese Bilder, an die der rationale Mensch seit der Aufklärung nicht mehr glauben konnte, werden in der Narration von „True Blood“ real. Die gegenwärtigen, postmodernen Ängste der Amerikaner beruhen vor allem auf der Zerstörung der Grenzen, die zuvor eine genaue Verortung möglich machten. Um in der Welt wieder heimisch zu werden, brauchte man in vormoderner Zeit die Mythen.

Diese klassischen Mythen sorgen in „True Blood“ jedoch für das genaue Gegenteil. Das innerdiegetische Rauschen der Mythologeme sorgt gleichermaßen bei den Protagonisten der Serie wie auch beim Zuschauer auf verschiedenen Ebenen für Verunsicherung. Aber genau diese Verunsicherung, dieses Kontingenzbewusstsein, das man auch beim Betrachten der Serie erlebt, ist das, was die postmoderne Angst vor dem Anderen auszeichnet.

Der moderne Mensch glaubt an keine Monster mehr, die innerhalb von Geschichten seine Ängste versinnbildlichen. „True Blood“ zeigt auch keine solchen Wesen, an die man als Zuschauer glauben soll, sondern eine Gegenwarts-Dystopie der ‚entzauberten Welt‘, die wörtlich, gegen ihren Willen, ‚wiederverzaubert‘ wird. Man versucht, sich in der Narration von „True Blood“ als Zuschauer selbst zu verorten und muss erfahren, wie man daran scheitert. Man ist selbst Teil des Mythos geworden.

Die rational denkenden Menschen innerhalb der Narration müssen feststellen, dass die Moderne an ihre Grenzen gestoßen ist, wenn die klassischen Mythen, die seit der Aufklärung ihre Gültigkeit verloren haben, reanimiert werden. Gleichzeitig erkennt man als Zuschauer, was die postmodernen Ängste ausmacht: Das Wissen davon, dass im Sinne Luhmanns alles immer auch anders sein kann.[22] Die TV-Serie „True Blood“ zeigt das Scheitern des modernen Plans von der universal genormten Welt. Sie tut es, indem sie unsere rationale Welt symbolisch, in Konfrontation mit den als überholt geltenden Mythen der Vergangenheit, scheitern lässt.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Rothemund, Kathrin: Komplexe Welten. Narrative Strategien in US-amerikanischen Fernsehserien. Berlin: Bertz+Fischer Verlag 2013. S. 229-232.

[2] Vgl. Müller, André: Film und Utopie. Positionen des fiktionalen Films zwischen Gattungstradition und gesellschaftlichen Zukunftsdiskursen. Berlin: LIT Verlag 2010. S. 32.

[3] Vgl. Ebd.

[4] Vgl. Anyiwoo, U. Melissa: It’s not television. It’s transmedia storytelling: Marketing the ‚real‘ world of True Blood. In: Cherry, Brigid (Hrsg.): True Blood. Investigating Vampires and Southern Gothic. London, New York: I. B. Tauris Verlag 2012. S. 163.

[5] Vgl. Ebd.

[6] Ebd. S. 164.

[7] Vgl. Ebd.

[8] Die Marketingkampagne beinhaltete noch sehr viel mehr als das hier aufgeführte Beispiel. So gab es weitere Homepages, Foren, in denen sich potentielle Vampire über ihre Erfahrungen austauschen konnten, oder auch Plakate und Werbeanzeigen für das Getränk TruBlood, bevor man überhaupt etwas über die eigentliche TV-Serie wusste. Eine genaue Ausführung alldessen würde an dieser Stelle sicherlich zu weit führen. Bei Interesse empfehle ich folgende Homepage, die einen Überblick über die Marketingkampagne, sowie einen kurzen zusammenfassenden Clip dazu beinhaltet:

http://www.creativeguerrillamarketing.com/advertising/best-ad-campaigns-of-the-past-decade/; abgerufen am 23.11.2013.

Interessant ist zudem folgender Link zu einem potentiellen Vampirblog, der zu einem späteren Zeitpunkt ohne weitere Informationen an Horrorblogger versendet wurde:

http://bloodcopy.livejournal.com/; abgerufen am 23.11.2013.

[9] Vgl. http://www.keepamericahuman.com/; abgerufen am 23.11.2013.

[10] Vgl. http://www.vamps-kill.com/; abgerufen am 23.11.2013.

[11] Vgl. http://www.fellowshipofthesun.org/; abgerufen am 23.11.2013.

[12] Vgl. Blayde, Ariadne; Dunn, George A.: Pets, cattle, and higher life forms on True Blood. In: Dunn, George A.; Housel, Rebecca (Hrsg.): True Blood and Philosophy. We wanna think bad things with you. New Jersey: John Wiley and Sons Verlag 2010. S. 33.

[13] True Blood: Evil is going on. S03, E12. Min. 05:02 – 05:31.

[14] True Blood: Everything is broken. S03, E09. Min. 52:30 – 55:43.

[15] True Blood: Whatever I am, you made me. S05, E03. Min. 08:28 – 11:34.

[16] Vgl. Wimmler, Jutta: ‚Fangbangers‘ und ‚God hates fangs‘. Der Vampir als Projektionsfläche moralischer Diskurse in True Blood. In: Heimerl, Theresia; Feichtinger, Christian (Hrsg.): Dunkle Helden. Vampire als Spiegel religiöser Diskurse in Film und TV. Marburg: Schüren Verlag 2011. S. 164.

[17] Vgl. http://www.godhatesfags.com/index.html; abgerufen am 09.12.2013.

[18] True Blood: Whatever I am, you made me. S05, E03. Min. 08:28 – 11:34.

[19] Ebd.

[20] Eine genaue Auseinandersetzung mit der Lilith-Figur und ihrer Rolle in verschiedenen Mythen, die sich vom Gilgamesch-Epos, über die griechische Literatur, bis hin zur Bibel erstreckt, würde an dieser Stelle zu weit führen. Zur vertiefenden Lektüre empfehle ich aber:

Zingsem, Vera: Lilith. Adams erste Frau. Leipzig: Reclam Verlag 2000.

[21] True Blood: Safe yourself. S05, E12. Min. 47:05 – 50:28.

[22] Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1984. S. 152.