Designanalysen (Bonsiepe, HfG Ulm)
Im Oktober 1965 besuchte der Designer Gui Bonsiepe, damals noch an der Hochschule für Gestaltung Ulm tätig, den »Internationalen Salon Souvenir« in Wiesbaden. Wenig später schildert er im Dezemberheft der Zeitschrift form seine dort gewonnenen Eindrücke. Zufrieden stellt er in seinem Artikel mit dem Titel »Trivialdesign« fest, Einblick in einen »Winkel der Produktwelt« gewonnen zu haben, der gleichsam »im Naturzustand erhalten geblieben« sei. Schließlich handele es sich um einen »von den Bemühungen der Designer ausgesparten Bezirk«.
Diesen Bezirk mit »Design-Maßstäben« betrachten zu wollen ist für ihn jedoch ein Unternehmen, das nur in »Lächerlichkeit« enden könne. Während Bonsiepe Taschenfeuerzeugen, Kühlschränken, Weckern und vergleichbaren Gegenständen zwischen 1961 und 1967 in der form ausführliche Artikel widmet, sind ihm deshalb wohl die »bizarren Formen« der »Weinrömer und Bierkrüge«, »Wappen und Wimpel«, »Märchenstatuetten und Heiligenstatuetten«, »Bauernuhren und Buddelschiffe«, »Tricktierchen und Maskottchen«, um einige Beispiele zu nennen, nur eine summarische Sammelbesprechung wert.
Zwar verwehrt sich Bonsiepe in seinem Artikel dagegen, die genannten Gegenstände einfach nur als »Kitsch« abzutun. Auch diese seien Gegenstände, an denen »Wünsche, wie immer auch verdrängte, eine Erfüllung« fänden. Orientierte man sich als Rezensentin oder Rezensent von Konsumgegenständen aber heute an Bonsiepe, liefe man dennoch Gefahr, sich in das geistige Korsett einer Zwei-Welten-Lehre zu begeben. Ginge es nach ihm, hätte man bestimmte Kriterien und feiner differenzierende Urteile allein für Gegenstände zu reservieren, die von einem professionellen Designer gestaltet wurden.
Als unangebracht gälte es umgekehrt, Produkttypen, bei denen dies auf den ersten Blick nicht der Fall ist, ausführlicher als nur als Repräsentanten einer größeren Sparte zu behandeln. Zu einem differenzierten Urteilsvermögen führt dies aber keinesfalls. Zu ihm gelangt man sicher gerade, wenn man nicht nur Unterschiede zwischen unterschiedlichen Produkten ausmacht, sondern immer wieder auch die eigenen Wertmaßstäbe an anderen Konsumprodukten und Produktsparten neu erprobt.
Trotz der fragwürdigen Distanz, die Bonsiepe letztlich gegenüber Gegenstandswelten des »Trivialdesigns« unterhält, wird man ihm trotzdem nicht vorwerfen können, seine Vorgehensweise auch sonst nicht weiter zu reflektieren. Zu Beginn einer eingehenden Besprechung eines »Bauknecht«-Kühlschranks aus dem Jahr 1965 stellt er sich etwa die Frage, ob man Produkten eher als »Systematiker« oder doch lieber als »Anti-Systematiker« begegnen solle. »Kritik und Gegenstand der Kritik« stünden bei beiden Positionen jeweils in einem unterschiedlichen Verhältnis.
»Systematiker« bemühten sich, ihre Kritik vom jeweiligen Gegenstand abzulösen. Sie zielten auf eine »Sammlung von generalisierten kritischen Methoden«, um zu einem »Buch der Regeln der Kritik« zu gelangen, das stets angewandt würde, gleich, welchen Gegenstand man zu bewerten hätte.
Umgekehrt besäße für »Anti-Systematiker« jeder Gegenstand so starke individuelle Merkmale, dass »jede Kritik sich aus ihm und an ihm zu entwickeln habe«. Ein Urteil, das nur auf allgemeine Kriterien zurückgreife, fiele für sie deshalb stets zu abstrakt aus.
Bonsiepe schlägt sich schlussendlich nicht eindeutig auf eine der beiden Seiten, sondern findet zu einer Position, die beide Extreme integriert. So plädiert er für eine »flexible und von Fall zu Fall variierende Methodologie der Produktanalyse«, die sich von »grauer Strenge«, »dürrem Schematismus« oder »pedantischer Krämerei« fernhalte. Zugleich geht er aber auch nicht soweit, dass ein bestimmtes Vorgehen stets nur auf ein bestimmtes Produkt zu begrenzen sei und etwa nicht auch auf viele andere Produkte übertragen werden könne.
Davon ausgehend könnte man für Konsumrezensionen eine Haltung entwickeln, die sich stets um ein Gleichgewicht bemüht. Sie überhöhte weder den jeweiligen Gegenstand in seiner Einzigartigkeit, so wie es etwa oft mit Apple-Produkten, aber meistens auch Kunstwerken geschieht, betriebe aber auch nicht eine Art ästhetische Gesetzeskunde, bei der jede Rezension immer nur vorgefertigte Kriterien am jeweiligen Gegenstand unterschiedslos zur Anwendung brächte. So fände man gleichzeitig auch zu einer gedanklichen Balance zwischen einer allzu stark ausgeprägten Zurückhaltung, überhaupt Kriterien zu formulieren, und einem ungebrochenen Glauben an die Allgemeingültigkeit der eigenen Maßstäbe.
Abgesehen davon kann man jedoch auch die Frage stellen, ob Bonsiepe in seinen Artikeln überhaupt die Rolle eines Rezensenten einnimmt und damit überhaupt für das Rezensieren von Konsumprodukten als Bezugspunkt infrage kommt. Alle in den sechziger Jahren erschienenen Artikel sind schließlich mit »Analyse« überschrieben, und in den Texten selbst ist stets nur von »Designanalysen« die Rede, nicht aber von Rezensionen.
Keine Wertung, sondern Erkenntnis darüber, worin »die formalen Determinanten« eines Produkts liegen und »welches die bestimmenden Faktoren für die einmalige Ausprägung eines Erscheinungsbildes eines Produktes sind«, scheint das eigentliche Ziel der Artikel zu sein. Bonsiepe selbst benennt so jedenfalls in einem Artikel über »Tonbandgeräte« aus dem Jahr 1963 das Vorhaben, das er mit ihnen verfolgt.
Nur wenige der »Designanalysen« kommen jedoch ohne deutliche Wertungen aus. In einem Artikel über »Produktgraphik« aus dem Jahr 1964 weist er etwa einen Kühlschrankhersteller in die Grenzen, freigezeichnete Blumen und ein klar gestaltetes Firmensignet auf seinem Gerät doch besser nicht in enge Nachbarschaft zu bringen. Oder er mokiert sich über eine Zapfsäule, die zwar an ihrer Front eine klare und damit ihn überzeugende Gestaltung aufweist, aber doch auch ohne die störende rote, gezackte Sprechblase mit der Aufschrift »NEW! VITALIZED« ausgekommen wäre. Produktdesign habe schließlich »einem Produkt eine formale Kohärenz zu geben« und einem »Prinzip der Ökonomie der ästhetischen Mittel« zu gehorchen. Damit aber erweist sich Bonsiepe letztlich doch auch als Rezensent, der ganz gezielt Wertungen vornimmt und für bestimmte ästhetische Vorlieben Partei ergreift.
Bonsiepes Stärke sind aber vor allem präzise Beschreibungen. Sein Artikel »Wecker und Tischuhren«, veröffentlicht 1965 unter Pseudonym, oder auch sein Text über »Taschenfeuerzeuge« aus dem Jahr 1966 sind dafür hervorstechende Beispiele. Sorgfältig differenziert Bonsiepe, wo die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten jeweils liegen und wie sie jeweils genutzt wurden: Noch über jedes denkbare Element, das die Gestalt eines Weckers oder einer Tischuhr beeinflussen kann, äußert sich Bonsiepe.
Gehäuse, Ziffernblätter, Zeiger, Bedienungsknöpfe auf der Rückseite, sogar die Form der Aufziehschlüssel oder die Frage, wie das Sichtglas in das Gehäuse der Uhren eingelassen ist, wird so zum Gegenstand seiner vergleichenden Betrachtungen. Auch wenn nähere Kontextualisierungen des jeweils untersuchten Gegenstands dabei häufig unterbleiben und die Gegenstände meist allzu isoliert behandelt werden, sind seine Texte dennoch äußerst informativ. Sie arbeiten nämlich nicht nur heraus, welche Variationsbreiten bei Gegenständen vorliegen, die auf identische Funktionen ausgelegt sind, sondern auch, durch welche Faktoren diese Gestaltungsunterschiede zustande kommen.
Vielleicht ist die Beobachtungsschärfe der »Designanalysen« nicht zuletzt auch Bonsiepes Orientierung an informationstheoretischen Modellen geschuldet. Abraham Moles hatte in dem Artikel »Produkte: ihre funktionelle und strukturelle Komplexität« 1962 in der »ulm«, Hauszeitschrift der HfG, den Vorschlag gemacht, auch Produkte wie zu entziffernde Nachrichten zu behandeln. Dazu gälte es jeweils ihre strukturellen Eigenheiten (»Aus was besteht ein Gegenstand?«) und ihr Funktionsspektrum (»Wozu dient ein Gegenstand?«) zu beschreiben.
Dass Bonsiepe diesem Vorschlag in fast allen seinen »Designanalysen« folgt, ist kaum zu übersehen. Seine differenzierte Betrachtung der einzelnen Gestaltungselemente entspricht dem Versuch, die Produkte zunächst als Zeichenkombination zu behandeln und dann nachträglich wieder in einzelne Zeichen zu zerlegen.
So überzeugend es ihm aber damit gelingt, auf das Zusammenwirken einzelner Gestaltungsmittel aufmerksam zu machen, so sehr muss er dafür aber auch Nachteile in Kauf nehmen: Er fasst die Produkte kaum noch als physische Gegenstände auf und wird zudem immer eine Gestaltung bevorzugen, die Bedeutungen übertragungssicher und effizient wiedergeben.
In seinem Artikel über die Souvenirs und Geschenkartikel der Wiesbadener Messe beklagt sich Bonsiepe denn auch vor allem über den ambivalenten Charakter der dort vorfindlichen Objekte. Diese seien gleichsam »gedopt«, »nicht sie selber«. Sie lebten »von formalen und inhaltlichen Anleihen« und ihre Materialien kröchen »in fremde Gewänder«, wenn z. B. Kunststoff wie mit »Kupferglanz« erschiene. In einer besseren Zukunft, so hofft Bonsiepe, stellten diese Gegenstände nicht mehr »Metaphern«, sondern endlich »Realien« dar.
Produktgestaltungen, wie sie in der Gegenwart den größten Teil ausmachen, sind jedoch weit davon entfernt, solche »Realien« zu sein. Schließlich setzen ihre Gestalter zumeist gerade auf Redundanzen, auf Ambivalenzen und vielfältige Verweise zu anderen Produkten, Sparten und kulturellen Zusammenhängen. Begegnete man ihnen in Rezensionen mit Bonsiepes Forderung nach semantischer Eindeutigkeit, schriebe man nur einen vernichtenden Verriss nach dem anderen, ohne je zu einer angemessen differenzierten Bewertung der jeweiligen Produkte zu gelangen.
Dies scheint umgekehrt vielleicht gerade dann realisierbar, wenn trennscharfe Beobachtungen und ein balanciertes Verhältnis zu den eigenen Wertmaßstäben, also die beiden Stärken der »Designanalysen«, sich mit einer unvoreingenommenen Neugier für den »metaphorischen Charakter« der Produktinszenierungen der Gegenwart verbinden.
Gegenstände früherer Konsumrezensionen:
Toastbrot (Oktober 2014)
Saugroboter (September 2014)
Supermarktsortiment (August 2014)
Rasenmäher und Kinderbuggy (Juli 2014)
Discounter und Supermarktketten werben mit der WM (Juni 2014)
Tee: Pukka und Yogi (Mai 2014)
Grundsätzliche Überlegungen: Welches Vorgehen ist sinnvoll, wenn man Konsumprodukte rezensiert? (April 2014)
Zwei Schokoladenprodukte (März 2014)
Die Smartphones Lumia 1020 und Galaxy 4 (Februar 2014)
Der feministische Bechdel-Test, umformuliert fürs Marketing, ausprobiert an AXE Deodorant Bodyspray (Januar 2014)
Mr Muscle Aktiv-Kapseln Allzweck-Reiniger (Dezember 2013)
Schwarzkopfs Gliss Kur Million Gloss Kristall Öl (November 2013)
Simon Bieling ist akademischer Mitarbeiter an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und promoviert im Forschungsverbundprojekt »Konsumästhetik. Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen«.
Anmerkung des Verfassers: Gerrit Terstiege, Design-Journalist und ehemaliger Chefredakteur der form, hat mich auf die in den sechziger Jahren erschienenen Texte von Gui Bonsiepe hingewiesen. Ihm sei an dieser Stelle herzlich gedankt.