Zur Sache: Der Schirm als Neben-, Haupt- und Tatsache
Der Schirm als Nebensache
Mit dem Schirm ist es so eine Sache. Seit dem 19. Jahrhundert wurde er zumeist als Accessoire verstanden, als nebensächliches Beiwerk zu den vermeintlichen Hauptsachen der Mode. Ein gegenwärtiger Blick auf seine Präsenz offenbart nun eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Wesentlichkeit und Unwesentlichkeit. Einerseits ist er im Alltag ebenso allgegenwärtig sichtbar wie auch leicht verfügbar. Andererseits weist er einen gewissen Hang zum Verschwinden auf: etwa durch formale Miniaturisierung – so im Falle des klassischen „Knirps“ – oder durch materielle Unsichtbarkeit – wie unter anderem beim transparenten Modell „Alexis“ von Jean Paul Gaultier. Demnach verwundert es nicht, dass er bei den Schauen der Haute Couture sowie des Prêt-à-porter rare Erscheinung ist. Schirmmode scheint außer Mode und hat doch ihre großen Auftritte.
Selten spielt der Regenschirm eine solch prominente Rolle wie beim Schlussdefilee der Präsentationen von Lie Sang Bongs Frühjahrs-/Sommerkollektion 2013. Begleitet von Gewittergrollen und Blitzen führt ein Model mit beleuchtetem Schirm eine Parade von beschirmten Damen aus der Dunkelheit ans Licht. Bekleidet mit Regenmänteln – in verschiedener Blickdichte bis hin zur Durchsichtigkeit und bedruckt mit Schmetterlingsmotiven – trägt jede von ihnen einen entsprechend gestalteten Schirm. Die plakativ-spielerische Konfrontation von Natur- und Plastikwelt wirkt dabei als gekonnte Reminiszenz an Pop-Art sowie Kindheitserinnerung zwischen modischem Nützlichkeitsversprechen und „Ornament als Verbrechen“ (Adolf Loos).
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Schirmdefilee bei Lie Sang Bong, F/S 2013 (ab Minute 9:25)
In der Frühjahrs-/Sommerkollektion 2015 des Labels „Anrealage“ von Kunihiko Morinaga wird der Schirm hingegen nur singulär, dafür aber ästhetisch pointiert in Szene gesetzt. Programmatisch dem Titel „Shadow“ folgend wird ein schwarzes, asymmetrisch geschnittenes Kleid mit weißem, spitzenartigem Kittel erst durch den schwarzen Schirm aus partiell durchbrochenem Stoff komplementiert. Dadurch erfährt der Look eine Multiplikation an Schattierungen, die sowohl auf relationale Überlagerungen von Körper, Kleid und Raum als auch auf die Vielschichtigkeit japanischer Kleidungskulturen hindeuten.
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Pointierte Schirmschattierungen bei „Anrealage“, F/S 2015 (ab Minute 2:47)
Auch Gaultier huldigt – zum wiederholten Male – in seiner Herbst-/Winterkollektion 2014/2015 dem Gegenstand. Während der Schauen für Damenmode erscheint ein schirmschwingender Herr in stereotypem Punk-Outfit. Diese Konfrontation britischer Bekleidungstraditionen – „Mit Schirm, Charme und Melone“, nur ohne Charme und Melone, dafür mit Aggression und Mohawk – wirkt augenscheinlich wie eine platte Attitüde. Jedoch gewinnt sie durch Thematisierung von Geschlecht (durch ein männliches Model bei einer Damenmodenschau) und Alter (durch ein älteres Model in der Aufmachung einer vermeintlichen Jugendkultur) an Gehalt. Zudem lässt sich dieser Auftritt als Werbung für die aktuell durch die Welt wandernde Ausstellung „The Fashion World of Jean Paul Gaultier: From the Sidewalk to the Catwalk“ sehen.
Der Schirm als Hauptsache
Aus der Sicht Gaultiers mag diese eingängige Parole, deren Untertitel vom Anthropologen und Streetstyle-Theoretiker Ted Polhemus entlehnt wird, einen einseitigen Weg der Inspiration markieren. Zugleich weist sie darauf hin, wo Mode hauptsächlich zum Tragen kommt, nämlich dort – der Begriff Prêt-à-porter deutet es an –, wo sie getragen wird: etwa auf der Straße. Hier hat sie als kurzlebige und wechselhafte Mode zum einen popkulturellen Charakter, der jedoch auf den, einer Hierarchisierung enthobenen, reziproken Austausch der verschieden Orte der Mode verweist. Zum anderen besitzt sie in der alltagsästhetischen Kleider- sowie Körperperformanz populärkultureller Szenen und Stile eine größere Halbwertzeit. Dabei ist der Schirm nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern entpuppt sich auch als nützlich. So bietet er sowohl aufgrund seiner Sichtbarkeit als auch Beständigkeit einen Access zu gemeinschaftlicher Identität sowie Identitätsbildung und wird damit zur wesentlichen Hauptsache.
Der Schirm zeigt sich beispielsweise als ein stetes Element der Rorīta Fasshon in all ihren ausdifferenzierten Spielarten. Vordergründig rekurriert deren Benennung und Bekleidung weniger auf eine Erotisierung des Jungmädchens à la Vladimir Nabokov. Vielmehr verbindet sich hier die in Japan gesellschaftlich etablierte Niedlichkeitsästhetik des Kawaii mit historischen und historisierenden Versatzstücken anderer Kulturen. Dass dabei immer wieder auf den Stil des Vereinigten Königreichs unter der Regentschaft Königin Victorias zurückgegriffen wird, geht über den im Modedesign üblichen Geschichtsverweis hinaus und kann als Wiederspiegelung der kulturellen sowie ökonomischen Öffnung Japans zur Zeit des Bakumatsu gelesen werden. Der Schirm westlicher Machart zeigt dabei die Einflüsse der frühen Globalisierung, bedient ein importiertes, antiquiertes Bild weiblichen Müßiggangs und verbreitet sich wiederum international als populärkultureller Export.
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Rorīta Fasshon-Parasol-Parade von „LoliSourGrapes“, 2011
Ebenfalls Anleihen an der Mode des viktorianischen Zeitalters nimmt Steampunk. Er kapriziert sich – nicht nur – stilistisch als retro-futuristische Kultur der Bricolage. Dies wird auch am Schirm deutlich, wenn er beispielsweise eine maschinenästhetische Modifikation zum Fluggerät erfährt. Eine Verwandtschaft zu Mary Poppins, die in der Verfilmung von Walt Disney zu Zeiten König Edward VII. verortet wird, ist hierbei nicht zu leugnen. Das fliegende Kindermädchen changiert ebenso wie Steampunk – „Wenn ein Löffelchen voll Zucker bitt‘re Medizin versüßt, ja Medizin versüßt“ – zwischen Befreiung durch ludischen Anarchismus und gleichzeitiger Reproduktion konservativer Werteordnungen. Dieser Sachverhalt schlägt sich nicht zuletzt bei der im Steampunk anzutreffenden Praxis des „Umbrella Fencing“, Umbrella Tournament“ und „Umbrella Duelling“ nieder.
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Schlagender Schirm beim „Suffolk Steampunk Spectacular“, 2014
Der Schirm als Tatsache
Die ganz eigene Gleichzeitigkeit von Exklusion und Inklusion (in) der Mode sowie Kleidung macht sie zu einem prädestinierten Feld der symbolischen, aber auch realen Auseinandersetzungen. Die Grenzen zwischen Ernsthaftem und Spielerischem sind fließend – auf den Laufstegen sowie auf den Straßen, als Zeigeeinrichtungen von Mode, aber besonders bei Demonstrationen, als Zeigeeinrichtungen von Meinungen. Hier gebiert sich das Vestimentäre ebenso als Pop- und Populär-, vor allem aber als Popularkultur. In diesem Zusammenhang avanciert der Schirm nicht zur Neben- oder Hauptsache, sondern vielmehr zur potentiellen Tatsache.
Er findet sich beispielsweise bei den Protesten anlässlich der „Aktionstage 2013“ des Bündnisses „Blockupy Frankfurt“: Zahlreiche Schirme – unter ihnen welche mit Aufschriften wie „We are all Greeks“ oder „Fuck Troika“ – fungieren als kritischer Kommentar zum sogenannten „EURO-Rettungsschirm“. Die kommunikativen Qualitäten von Mode zeigen sich trefflich im Schirm als Medium und Zeichen des Protests. Dabei ist das Symbolische nur ein Teil seiner Dinglichkeit. Ebenso spielen Form, Material und Funktion eine Rolle, wie es sich in den Diskussionen und Verhandlungen darüber zeigt, ob er einerseits als Vermummung gewertet werden sollte oder andererseits als einer der „Gegenstände, die als Schutzwaffen geeignet“ (§ 17a Versammlungsgesetz) sind.
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Frankfurter ,Rettungsschirme‘, 2013
Ähnliche Verwendungsweisen finden sich auch bei den diesjährigen Protesten gegen die Änderungen der Wahlregularien in Hongkong, die vor allem eine Einschränkung der Rechte des Volkes nach sich ziehen. Hier kommt der Schirm weniger gegen Regen oder Sonne zum Einsatz als vielmehr gegen Tränengas. Die mediale Verbreitung und Rezeption führen dazu, dass aus dem nützlichen Gegenstand wiederum ein durchsetzungsstarkes Symbol für die Demonstrationen von „Occupy Central with Love and Peace“ wird, das daher in der Presse auch „Umbrella Revolution“ und „Umbrella Movement“ genannt wird.
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Die „Umbrella Revolution“ wird im Fernsehen übertragen, NBC News 2014
Der Schirm als Neben-, Haupt- und Tatsache entbehrt nicht eines gewissen surrealen Moments – „Schön wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ (Lautréamont) – und lohnt gerade deshalb, seziert zu werden. In seiner Geschichte und Gegenwart behauptet er sich nicht nur als schmückendes, sondern auch als schützendes und damit – „Fälschlich von Modeleuten als modisches Accessoire interpretiert“ (Claudia Bölling/Rolf Horst) – so gar nicht als Beiwerk. Vielmehr ist der Schirm eine der wesentlichen, zivilisatorischen Erfindungen und ein eigenständiger Bestandteil der Mode sowie der Moden. Und ist nicht gerade Mode selbst die schönste Nebensache der Welt?
Jan C. Watzlawik ist Kulturanthropologe sowie Kunstwissenschaftler und forscht zur Analyse materieller Kultur an den Schnittstellen von Mode-, Konsum- und Protestkulturen.