Generation (II)von Lisa Muckelberg26.2.2015

Lasst uns endlich in Ruhe!

In der letzten Zeit häufen sich die Vorwürfe gegen unsere Generation und speziell gegen Studierende. Uns wird Politikverdrossenheit, Desinteresse und fehlende Beteiligung jeglicher Art vorgeworfen. Ein Studium ist schon lange nicht mehr das, was es einmal war. Früher war eben alles besser. Oder?

Wer kennt das nicht: Ein Seminar, gut gefüllt mit vierzig Teilnehmern, alle sitzen mit dem Kopf über das Smartphone gebeugt an ihren Plätzen, während der Dozent sich vorne durch irgendwelche PowerPoint-Folien klickt. Zwischendurch gibt es eine Meldung, die auch die anderen Köpfe von den Bildschirmen heben lässt: „Ist das klausurrelevant? Müssen wir die ganzen Fachbegriffe kennen?“ Kurz die Antwort abwarten, je nach dem ein allgemeines Stöhnen oder ein erleichtertes Seufzen, dann wieder mit den Gedanken zurück zu WhatsApp, Facebook und Co.

Körperlich anwesend ist man ja, man hat auf der Anwesenheitsliste unterschrieben, geistige Anwesenheit kann jedoch nicht überprüft werden. Bis zu der berüchtigten Frage: „Wer kann denn mal die Kernthesen des Textes zusammenfassen?“ Betretenes Schweigen, der Blick zum Smartphone wird intensiviert, nach dem Motto „wenn ich dich nicht sehe, siehst du auch mich nicht“. Hektisches Blättern in Ordnern, einige versuchen sich via Smartphone bei Moodle einzuloggen und den Text noch schnell herunterzuladen. Der Dozent versucht die Frage zu relativieren, war der Text unverständlich oder zu schwer? Man könne ja auch erst mit einer These anfangen, falsche Antworten seien ja auch nicht weiter schlimm.

Und schließlich die verzweifelte Frage: „Wer hat denn den Text gelesen?“ Drei, vier Hände recken sich zögerlich nach oben, ein paar Blicke der Nachbarn verraten die Überlegung, sich einfach anzuschließen, auch auf die Gefahr hin, aufzufliegen. Einige fangen an zu stottern, das Internet sei kaputt gewesen, außerdem sei man gerade umgezogen und die Druckerpatronen waren leer.

Ein paar Studierende haben den Text tatsächlich vor sich liegen und versuchen, beim ersten Überfliegen die Hauptthesen herauszufiltern, die mutigen Meldungen blättern auch noch und versuchen sich an das Gelesene zu erinnern. Endlich dann die Erlösung, der Dozent lenkt ein, dann fasse er eben den Text zusammen, man solle zu Hause doch bitte nochmal nachlesen. Damit ist die Anspannung gebrochen, endlich kann man den Blick wieder dem Smartphone zuwenden. Aus der geplanten Diskussion ist mal wieder ein rein frontaler Vortrag geworden, aus dem Seminar wird nach und nach doch eine kleine Vorlesung.

Klar, das ist eine ziemlich überspitzte Darstellung und hoffentlich eine, die nicht allzu oft der Realität entspricht, allerdings habe ich mich tatsächlich mehrmals in dieser Situation wiedergefunden. Und zwar in jeder Rolle, alles zwischen passiver Ich-bin-gar-nicht-da-Studentin und Ich-schmeiße-die-ganze-Stunde-Streberin. Und am schlimmsten: Als Referentin, die immer eine Freundin vorher mit weiterführenden Fragen oder Diskussionsansätzen ausstattet, damit es überhaupt Beteiligung vom Plenum gibt.

Wenn ich an daran denke, komme ich nicht umhin, der Kritik an unserer Generation der Studierenden recht zu geben: Wir sind diskussionsfaul, unpolitisch und jagen nur unseren Punkten hinterher.

Dabei wollte ich doch genau diese Kritik, dieses verzerrte Bild von uns Studierenden, mit diesem Artikel widerlegen! Ich wollte der Selbstvervollständigungsfunktion von Google widersprechen, die auf die Anfrage „Studenten sind…“ als erstes „faul“ vorschlägt.

Doch scheinbar sind diese Vorwürfe zumindest teilweise berechtigt. Woran liegt das?

Zum einen ist es so, dass wir uns oft in Kursen wiederfinden, die uns nicht interessieren, für unsere weitere Laufbahn nur mäßig relevant sind und die zudem keine gute Arbeitsatmosphäre bieten, weil sie überfüllt sind. Das liegt hauptsächlich an der Bologna-Reform und dem daraus resultierendem Bachelor-Master-System mit der Vorgabe der Regelstudienzeit. Wenn man tatsächlich in sechs Semestern seinen Bachelor schaffen will, kann man sich den Luxus, nur Kurse zu besuchen, die einen interessieren, schlicht nicht leisten. Wer es trotzdem so macht, muss gegen Ende des Studiums auf sein BAföG verzichten können.

Außerdem ist es momentan so, dass durch die stets anwachsende Studierendenzahl der Andrang auf die angebotenen Veranstaltungen so groß ist, dass man froh sein kann, wenn man überhaupt einen Platz bekommt. Und wenn der nun mal nicht in dem favorisierten Seminar ist, hat man eben Pech gehabt und muss mit diesem vorlieb nehmen. Nicht selten entscheidet man ja auch danach, auf welche Weise die Kreditpunkte erworben werden. Gibt es irgendwo einen Sitzschein, ist plötzlich auch das Thema des Kurses egal, man muss ja nichts weiter tun, als regelmäßig auf der Liste zu unterschreiben.

Zum anderen wird das Studium heutzutage viel stärker von außen beeinflusst, nicht nur Bologna will uns einheitlicher und schneller ins Berufsleben schicken, auch die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt schreiben klar vor, was von uns erwartet wird: Ein schneller, sehr guter Abschluss mit Auslandsaufenthalt, Fremdsprachenkompetenz und allen Soft oder Hard Skills, die man überhaupt bekommen kann.

Dieser Gedanke der ewigen Effizienzsteigerung und Leistungsbesessenheit ist mittlerweile so fest in unseren Köpfen verankert, dass wir mit Scheuklappen und nur nach Punkten studieren. Das höchste Ziel ist ein möglichst großer Erfolg mit möglichst geringem Aufwand, eben effizient.

Kein Wunder, dass man dann angepasst und faul erscheint. Wir sind eben nicht die 68er Generation, die für ihre Bildung auf die Straße gegangen ist und hitzige Diskussionen in Seminaren geführt hat.

Das liegt aber auch daran, dass alles in Ordnung ist. Zumindest soweit, dass wir eben nicht auf die Straße gehen müssen, wogegen sollen wir auch demonstrieren? Welche Meinungen unserer Dozenten strikt ablehnen und uns dagegen profilieren?

Wir sind in großer Freiheit und Toleranz aufgewachsen, unsere Eltern lassen uns das machen, wozu wir Lust haben, wir haben kein Schwarz-Weiß-Bild von der Welt und alle Möglichkeiten, uns über jede Seite eines Konflikts zu informieren. Wir können Konflikte und Diskussionen in Echtzeit im Internet verfolgen und Petitionen unterschreiben, unsere Meinung ist vielleicht einfach differenzierter als ein „Nein, dagegen!“.

Allerdings lässt sich damit nicht widerlegen, dass wir statistisch gesehen tatsächlich weniger interessiert an Politik sind. Die Shell-Studie aus dem Wintersemester 2012/13 erfragte das politische Interesse unter Studierenden. Den 24 Prozent, die Politik für sehr wichtig halten, stehen 29 Prozent gegenüber, die sie für unwichtig halten, damit ist das allgemeine Interesse auf einem Tiefststand.

Die Studie will einen Trend zur Apathie und Passivität festgestellt haben, wogegen das persönliche Glück und die eigene Zukunft und Karriere an Wichtigkeit gewinnt. Es entsteht der Eindruck einer selbstbezogenen Generation oder wie der „Spiegel“ titelt: „Hauptfach Egoismus“. 1995 haben nur 31 Prozent der Befragten angegeben, dass es ihnen wichtig sei, sich im Leben schöne Dinge leisten zu können, jetzt sind es 73 Prozent.

Sollte uns das alarmieren? Ich denke, es sollte uns vor allem die Augen öffnen, sodass wir sehen, welchen Trend wir da unbewusst verfolgen und nicht in politische Lethargie verfallen, man weiß schließlich: Wählen gehen ist wie Zähneputzen, wenn man es nicht tut, wird‘s braun.

Aber als wirklich dramatisch empfinde ich die Wahlbeteiligung der StuPa-Wahlen 2014 an unserer Uni: Es wurden nur 900 Stimmen abgegeben, das entspricht einer Wahlbeteiligung von 5 Prozent! Man muss sich ja nicht gleich Mitglied einer Partei sein oder zu allen aktuellen Themen eine klare Position haben, aber wenn es die Chance zur Mitbestimmung gibt, dann sollte man sie doch ergreifen!

Aber der Vorwurf der Politikverdrossenheit ist nicht der einzige. Sinkt tatsächlich das Niveau an den Hochschulen? Ist ein Bachelor überhaupt noch etwas wert, wenn mittlerweile jeder ihn bekommt? Oder, um es mit reißerischen Schlagzeilen zu sagen: Werden Geisteswissenschaftler also alle Taxifahrer?

Der Grundton dieser oberlehrerhaften Anklagen ist überall derselbe: Früher war das anders! Denn früher, das weiß man ja, war alles besser. Ist das so? Müssen wir uns diese Vorwürfe gefallen lassen? War früher alles besser?

Zum einen gab es „früher“, wann auch immer das gewesen sein mag, weniger Studierende als heute, schließlich sind wir auf ein Rekordniveau angewachsen: Rund 2,6 Millionen Menschen studieren in Deutschland, also 800.000 mehr als noch vor zwanzig Jahren. Klar, dass sich da einige Dinge ändern. Die Universität ist kein Elfenbeinturm mehr, zu dem nur eine ausgesuchte Elite Zutritt hat, Studieren ist massentauglich geworden und endlich tatsächlich in der Masse angekommen. Doch anstatt sich über die zunehmende Akademisierung Deutschlands zu freuen, ist das Geschrei groß. Studieren soll also doch irgendwo exklusiv bleiben und plötzlich werden die endlich abgeschafften Studiengebühren wieder hervorgekramt.

Dass wir viele sind, merken wir selbst am ehesten, überfüllte Hörsäle und Seminarräume dürfte wohl jeder Studierende kennen. Doch besser ein volles Audimax als ein leeres. Mittlerweile studieren immer mehr junge Leute, die nicht aus Akademikerfamilien stammen, außerdem finden zunehmend Studierende über andere Wege als das klassische Abitur ihren Weg an eine Hochschule.

All das sind positive Aspekte, die in den Medien kaum Beachtung finden, ebenso wie die Tatsache, dass im Berufsleben ein Studienabschluss mittlerweile fast wie selbstverständlich gefordert wird. Wir machen also alles richtig, indem wir uns dazu entscheiden zu studieren. Und das Studium wird nicht schlechter, nur weil es nicht mehr exklusiv und elitär ist.

Sicherlich gab es auch in der guten, alten Zeit schon Studierende, die in Seminaren nicht aufgepasst haben und sich nur um ihre Scheine gekümmert haben. Solche Leute gibt es immer und ich bin es leid, dass unsere Generation auf diese Stereotype reduziert wird. Okay, uns ist unser Privatleben wichtiger als die Politik. Okay, wir sitzen also in Kursen, die uns nicht interessieren. Aber rund die Hälfte unserer Generation studiert, so viele wie nie zuvor. Und das ist beim besten Willen nichts, worüber man sich beschweren sollte.

Und doch: Gerade in dieser Mehrheit sollten wir darüber entscheiden dürfen, wie wir unser Studium gestalten und nicht die Wirtschaft. Wir sind es wert, dass man uns genug Räume anbietet, genug Dozenten einstellt und so eine ausreichende Auswahl an Kursen anbietet. Die Bildung ist Deutschlands große Ressource, wieso setzt man genau hier an, um zu sparen?

Die Uni ist nun mal keine Fabrik, die genormte und optimierte Berufseinsteiger produziert, in der Dozenten am Fließband stehen, aussortieren und Unebenheiten glätten, im Gegenteil. Jeder sollte die Möglichkeit zur freien Entfaltung haben, sich Zeit lassen dürfen und Kurse nach Interesse belegen dürfen. Ist das zu viel verlangt?

Das sind Themen, die in die Öffentlichkeit gehören, nicht unsere Angepasstheit und Faulheit.

Also, liebe Alt-68er, Oberlehrer und Nostalgiker, lasst uns in Ruhe mit euren Vorwürfen und versetzt euch mal in unsere Situation. Es hat sich einiges geändert seit der guten, alten Zeit und erstaunlicherweise haben sich die Menschen und ihre Haltungen dabei mitentwickelt.

Währenddessen versuchen wir mal, langweiligen Kursen trotzdem etwas abzugewinnen. Wer weiß, vielleicht werden sie ja spannender, wenn man die Diskussionsgrundlage kennt und sich tatsächlich mehr als nur drei Leute beteiligen.

 

Lisa Muckelberg ist Redakteurin der Zeitschrift „Mediazine“. Dort weitere Beiträges zum Generationenthema von Sarah Stöcker, Natalie Meyer, Marina UelsmannAnna Brinkmann und Ann-Christin Kuhlmann.

Teil I der Artikelserie von pop-zeitschrift.de zum Generationenthema:
Wir, man und ich“ von Thomas Hecken