Kultur der Vielen
Nach dem deutschen Überfluss der Generationen-Bestimmungen des letzten Jahres (Generation Y, Generation Merkel…) ist das Thema offenkundig noch nicht zur Ruhe gelangt. Die englische Mode-Illustrierte »i-D« greift in einer ihrer letzten Ausgaben ins höchste Register: »How Generation Z Will Change the World«. Der letzte Buchstabe des Alphabets muss es jetzt rausreißen: »If Generation Y were defined by a ›me, me, me‹ attitude — think selfie sticks and Lena Dunham — Gen Z care about what’s happening to the planet«. ( i-D, 23. März 2015). Doch zu solcher Gegenwart in den nächsten Artikeln dieser kleinen Reihe. Zuvor noch ein Blick auf vergangene Generationen.
Oder besser gesagt: auf eine vergangene Generationen nach heutiger Zuschreibung. In Artikel I dieser Serie wurde an einem Fall gezeigt, wie heutige weltanschauliche Ausrichtungen noch kleinere historische Tatsachen verdrehen müssen, um eine Jahrgangs-Typologie hinzubekommen: »Wir Vierundsechziger«.
In dieser Folge soll es um ein Zeitgeist-Buch gehen, bei dem u.a. die 64er zu einer Generation erhoben werden – um die deutschen »Babyboomer«, die der Autor Bernhard von Becker in den Jahrgängen 1960 bis 1965 erkennt.
Dadurch handelt er sich das Problem ein, die Frage beantworten zu müssen, weshalb seine »Babyboomer. Die Generation der Vielen« (Suhrkamp Verlag, Berlin 2014) nicht auch jene in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Geborenen einschließt, sind doch in diesen Jahren auch viele Geburten zu verzeichnen gewesen. Begründung des Autors: Diese Jahrgänge seien »angegraut vom Muff einer angestrengten phantasielosen Restaurationszeit« (S. 25) – als machten sich kulturelle Prägungen bereits im Kleinkindalter bindend bemerkbar.
Abgesehen von dieser unsinnigen Prämisse ist die Einlassung Beckers aber plausibel, sie zeigt gut an, was der Clou solcher Generationen-Bestimmungen ist: Es geht um Lebensweisen, Kultur, Zeitgeist, ein bisschen auch um Politik, sofern sie kulturell vermittelt ist.
Grundthese dieses Buches und seinen vielen Entsprechungen: Wichtiger als Herkunft, soziale Lage und Geschlecht ist die Generationenzugehörigkeit. In »Babyboomer« macht sich das praktisch so bemerkbar, das fast alles im großen »wir« aufgeht. Dieses »wir« verdankt sich zwar überdeutlich der Perspektive eines männlichen Angehörigen der (oberen) Mittelschicht – es wird nicht einmal der Versuch unternommen, das zu bemänteln –, dennoch bleibt es unverdrossen beim »wir« oder alternativ beim »man«, offenkundig in der Hoffnung, dass TV-Sendungen und Platten, die, so die Unterstellung, von allen oder vielen der betroffenen Jahrgänge gesehen und gehört wurden, die anderen Unterschiede einebnen.
Angesichts der wenigen Passagen, die Arbeiter oder Frauen betreffen, muss man beinahe dankbar sein für diese Uniformität. Beim Stichwort »unsere Eltern« kennt der Autor nicht nur ein älteres »wir«, sondern tatsächlich Väter und Mütter. Über letztere weiß er zu berichten: »Die Mutter saß meistens unter ihrer Trockenhaube und blätterte in einer Illustrierten« (S. 36). Ja, so war das Leben der Hausfrauen in den 1960er Jahren!
Und die weniger Reichen unter den Lesern wird die Prognose freuen: »Es geht den Boomern ganz prima, nicht weil sie sichere Renten beziehen, sondern weil sie davon überhaupt nicht abhängig sind.« (S. 134) Sicher, sie leben ja von Luft und Liebe und ihren Erinnerungen an Fix und Foxi, ZDF-Fernsehserien der 70er Jahre, K-Tel, Spiele ohne Grenzen, Band Aid etc., die das Buch ins Gedächtnis zurückruft. Zwar alles damals nicht bei Suhrkamp erschienen, aber heute reicht es offenbar der Suhrkamp-Kultur bereits, wenn überhaupt die Kultur die Führung übernimmt.