Fertigpizza
Einem Backofen die Zubereitung des abendlichen Menüs zu überlassen ist eine Bequemlichkeit, die sicher nur Wohlstandsgesellschaften kennen. Der Griff nach dem noch kühl-feuchten Karton, das Aufreißen der Plastikfolie, das Mustern des unfertigen Teiglings, das Drehen an den Reglern des Backofens, der wiederholte Blick durch dessen Fenster, das Warten darauf, die Fertigpizza endlich auf dem vorbereiteten Teller platzieren zu können und letztlich die Zufriedenheit, kaum Mühe für das fertige Menü aufgebracht zu haben: All dies, wichtige Bestandteile des Gefühls, es beim Zubereiten einer Fertigpizza gerade very convenient zu haben, hat schließlich sein Vorbild in den TV-Dinners der Nachkriegsjahre, die ohne die weite Verbreitung von Fernsehern, Kühlschränken und elektrischen Backöfen undenkbar gewesen wären.
Als die Firma Swanson begann, Flugzeugkost in amerikanische Haushalte zu transferieren, verfiel sie noch wie selbstverständlich in die tumbe Meinung, der Vorzug von Fertiggerichten bestehe letztlich nur darin, dass die Ehefrau dem unpässlichen Ehemann (»I’m late – but dinner won’t be.«) doch noch ein warmes, wenn auch alumniumverschaltes Abendessen servieren könne. War die convenience des Fertiggerichts damals nicht ohne stereotype Geschlechterrollen zu haben, so gibt es heute Fertigpizzen nicht ohne einen Imperativ, nämlich den zum Genuss: »Genießen Sie das beliebte Wagner Original«, schreibt Nestlé auf seine Pizzaverpackungen.
Dass man zum »Genießen« aufgefordert wird, aber es sich eigentlich doch nur etwas profaner um »772 Kalorien« dreht, die nach wenigen Minuten auf dem Teller liegen, könnte sicher Anlass werden für eine Pauschalkritik der Lebensmittelindustrie. Weitaus erhellender aber ist, die Werbeinszenierungen der Hersteller einfach in ihrer Bedeutung umzukehren. Im Kontrast mit entgegengesetzten Formulierungen könnte deutlich werden, welche Zielrichtung die Werbeinszenierungen eigentlich besitzen.
Dazu kann man sich an der französischen Schriftstellergruppe OuLiPo orientieren. Sie hat systematische Strategien entwickelt, aus schon vorliegenden Texten noch unerprobte Formulierungen abzuleiten. In ihrem »Atlas de littérature potentielle«, der verschiedene solcher Strategien vorstellt, findet sich unter der Überschrift »Antonymie« auch der Vorschlag, Aussagen zu variieren, indem man einzelne Worte durch ihre entgegengesetzten Begriffe ersetzt und so eine »Aussage […] in ihr Gegenteil verwandelt.« Bei Fertigpizzen könnte man also statt an »Genuss« an »Abscheu« denken, nicht von »Edelsalami«, sondern von »Alltagssalami« sprechen, Dr. Oetker den Doktortitel streichen oder von Original Wagner nur Nachbildungen anderer Hersteller erwarten.
Oder man versucht, auf gleichem Weg näher nach der convenience der Tiefkühlpizzen zu fragen. Ist es nicht ohnehin naheliegend, dem »So einfach geht’s« der Original Wagner Pizza den Verdacht entgegenzubringen, dass die Zubereitung nicht letztlich doch mit Mühen verbunden ist? Warum sollte es sonst notwendig sein, so ausführlich zu beschreiben, was alles zu tun ist, um sich dem anzunähern, was die Vorderseiten der Verpackungen darstellen?
Der Grund liegt wohl darin, dass das Gefühl der convenience sich nur einstellt, wenn man sich bewusst werden kann, wie viele Anstrengungen eigentlich hätten aufgebracht werden müssen. So sind die Aufbackmanuale der Verpackungen vor allem verkürzte Kochrezepte, die nur darauf verweisen, wie viel Geschick und Mühe es erforderte, ihren Langversionen zu folgen. Wesentlich sind sie vor allem dafür, die Zeit der Zubereitung mit einem Index verringerten, ja ausgelöschten Arbeitsaufwands zu versehen.
So gleich sich die einzelnen Angebote darin sind, diese Form der Anstrengungsverdrängung anzubieten, so unterschiedlich fällt aus, welche Zuschreibungen die Fertigpizzen noch darüber hinaus erhalten. Die Backfrische und die Ofenfrische, paradigmatische Beispiele dafür, wie Konkurrenz eben nicht immer durch Differenzen, sondern im Gegenteil durch Angleichungen ausgefochten wird, sind ganz offensichtlich jenen zugedacht, die sich noch mit Misstrauen gegenüber der industriellen Herstellung von Lebensmitteln tragen. Dass dieses Misstrauen tatsächlich noch weitgehend fest etabliert ist, wird einsichtig, wenn man auch die Hinweise auf das»frische Geschmackserlebnis« und den »frischen Pizza-Genuss« mit möglichen entgegengesetzten Zuschreibungen konfrontiert.
Undenkbar ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nämlich, auf den Verpackungen könnten anstelle der Abbildungen, die den Anschein machen, als würden die Zutaten, die sie zeigen, gleich von Hand verarbeitet, eher elegant ausgeleuchtete Fotografien gedruckt werden, die einen Einblick in die Produktionstrassen der Hersteller geben. Und statt fast schamhaft dem Natürlichen und Frischen immer wieder zu hofieren, statt »100 % natürlichen Geschmack«, »naturgereifte Edelsalami« oder »sonnengereifte Tomaten« zu preisen, statt der Garantie, dass die vermeintlichen Haupterkennungszeichen der Lebensmittelindustrie, »künstliche Aromen«, »Geschmacksverstärker« und »Farbstoffe« hier nicht zu erwarten sind, könnten auch Vokabeln gefunden werden, die das industrielle Raffinement der Fertigpizzen einfach stärker thematisieren.
Dass Marketingabteilungen Fertigpizzen so vielleicht einmal als sneak preview in eine technisch weiter entwickelte Zukunft vermarkten werden, ist jedoch auch angesichts eines weiteren Produkts wie der Pizza Tradizionale eher unwahrscheinlich. Sie zeichnet sich für Dr. Oetker nicht durch »Frische«, sondern ihre italiennahe, historische Ursprünglichkeit aus.
Auch hier jedoch erweist sich das Spiel der Umkehrung als nützlich. Zum einen lässt sie an eine Entitalienisierung der Pizza denken, die der Tatsache Rechnung trüge, dass die Pizza schon seit mehreren Dekaden ohnehin schon längst international verbreitet ist. Zum anderen aber an eine doch in Italien verortete Pizza Futura: Sie setzte dem Stereotyp etwas entgegen, Italien sei als zukunftsloser Fleck auf der Landkarte bestens für in Schwarz-Weiß gehaltene Patinaträume geeignet, aber liefere jeder Science Fiction nur völlig unbrauchbare Settings.
Findet sich die italienisierende Pizzatraditionspflege lediglich bei Dr. Oetker, hat sich in anderer Hinsicht ein übergreifender Konsens unter den Herstellern entwickelt. Die Produktverpackungen mit Pizza-Achteln zu verzieren, als ob man sich schon beim Blick in die Tiefkühlauslagen ein erstes Stück servieren könnte, halten die meisten Hersteller für unverzichtbar. Der Grund dafür liegt sicher darin, im Rahmen der Aufmerksamkeitskonkurrenz der Kühlregale für visuelle Stimulation zu sorgen. Gleichzeitig sind sie aber auch das bildliche Pendant der zahlreichen Direktadressen auf der Rückseite der Verpackungen: »Wir garantieren Ihnen 100% natürlichen Geschmack!«, »So machst Du Deinen Hunger fertig!« oder auch das erwähnte Drängen zum Genuss: »Genießen Sie das beliebte Wagner Original«.
Sind die meisten Fertigpizzen darauf angelegt, zu persönlichen Geschmacksfavoriten zu werden, könnte ein denkbarer Gegenentwurf hier lauten, eine Pizza ohne einseitige Eigenschaften, keinen Durchschnittsstrand also, sondern eine Durchschnittspizza zu entwickeln, die alle gängigen Geschmacksrichtungen miteinander kombiniert.
Erwiesen sich die vorgestellten Umkehrungen als weitgehend einsichtsstiftend, so dürften auch Konsumprodukte von Interesse sein, bei denen der Hersteller selbst Gegensätze in seine Produktlinien integriert: Die nicht italienisierte, sondern amerikanisierte Big Pizza ist sicher im direkten Gegensatz zu den Piccolinis platziert. Wird in einem Fall die Pizza zum Aggressionsträger, mit der man den eigenen Hunger nicht mehr nur stillt, sondern gleich »fertig macht« wie Endgegner in Computerspielen, ist sie in kleinerer Größe Sympathieschmiere für »Mädels-Abende«, »Kinderpartys« oder den samstäglichen »Brunch« mit den Schwiegereltern.
Obwohl hier schon alle Möglichkeiten der Entgegensetzung ausgeschöpft scheinen, finden sich auch hier Gelegenheiten zur Umkehrung. Fragt sich denn nicht, ob nicht Piccolinis tatsächlich Katalysatoren von Aggressionen sind, die sonst versöhnliche soziale Zusammenkünfte sprengen? Und hat nicht die Big Pizza eigentlich die beruhigende Wirkung eines Entspannungsbads?
Simon Bieling ist akademischer Mitarbeiter an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und promoviert im Forschungsverbundprojekt »Konsumästhetik. Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen«.