Konsumrezension Oktobervon Annekathrin Kohout16.10.2015

Das Lampensystem Alphabeta

Ein Alphabet kreieren zu wollen, das findet selbst der Designer des Lampensystems Alphabeta, Luca Nichetto, in einem eigens für die Lampe produzierten Kurzfilm, ambitiös. Wäre das Lampensystem tatsächlich ein Alphabet, so bestünde es gerade mal aus acht Buchstaben, denn es lässt sich aus acht verschiedenen Formen zusammensetzen.

Da es jede Form in drei Farben gibt – einer ihr eigens zugewiesenen sowie Schwarz und Weiß –, ergeben sich nach Angaben der Website »über 10 Milliarden mögliche Kombinationen«, auf Instagram spricht man sogar von Billionen. Da denkt man an Vielfalt, an komplizierte Konjugationen, an individuelle Ausdrucksmöglichkeiten.

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Doch die Referenz zur Sprache dient Nichetto auch dazu, die Einfachheit von Design und Kreativität zu betonen. Das Statement ist: Design ist eine Sprache. Und jeder kann eine Sprache lernen. Jeder kann kreativ sein. Jeder kann eine Online-Konfiguration durchführen, und bei jedem wird am Ende eine gelungene Lampe herauskommen. Auf der Website des 2014 gegründeten Unternehmens Hem heißt es, die Produkte seien für »den Mensch von heute« entworfen worden. Sie sind »Unterhaltsam. Vielseitig. Einzigartig. Anziehend. Bemerkenswert. Genau wie Du.«

Das ist keinesfalls neu, mit Individualität und Einzigartigkeit lässt sich schon lange gut werben. So gibt es bereits seit fast zwei Jahrzehnten Mass Customization Produkte. Als Nike in den Neunzigern damit begann, dem Kunden eine persönliche Farbauswahl und -kombination zu ermöglichen, war das noch innovativ. Spätestens seit mymuesli oder Spreadshirt ist die Personalisierung des Konsums zu einer der beliebtesten Marketing-Strategien avanciert. Bei Hem kann fast alles personalisiert werden: nicht nur Lampen, sondern auch Regale, Tische und Sitzsysteme.

Häufig basieren Mass Customization Produkte auf der Idee der Modularisierung. Beim Möbeldesign nimmt hier Ikea eine zentrale Position ein. Auch Ikea arbeitet für »eine flexiblere Zukunft«, bietet beispielsweise modularisierte Regalsysteme und Stellwände an mit dem Ziel, »Design für alle« herzustellen. Das als »Democratic Design« propagierte Konzept bedeutet vor allem, dass die Produkte vielen gefallen sollen und finanziell erschwinglich sind.

Die Kunden bindet Ikea dabei hauptsächlich über die selbstständige Montage der Möbel ein, weniger über das Design. Individualität ist zwar ein konzeptioneller Teil der Werbestrategie, nicht aber des konkreten Umgangs mit den Möbeln, der bei Ikea vielmehr im Zeichen von Funktionalität steht. Das Unternehmen wirbt zwar mit »Formschönheit«, meint damit jedoch nicht Individualität im Sinne eines Herausstechens aus der Masse oder gar der Abgrenzung gegenüber einer Gemeinschaft.

Demgegenüber bewirbt Hem die Alphabeta offensiv mit den Konzepten »Einzigartigkeit« und »Individualität«. Dies gelingt besonders gut, weil das Unternehmen sich dabei der Sprache der künstlerischen Moderne bedient, die Kunst und Design mit Originalität statt Reproduktion, mit dem Neuen statt der Wiederholung des Alten assoziiert hat.

Es beherrscht diese Sprache so perfekt, dass die sorgfältig gewählten Abweichungen zunächst gar nicht auffallen. So würde man angesichts der Bezeichnung Alphabeta annehmen, es handle sich um Grundformen und -farben, die dem Anwender zur Verfügung gestellt werden. Doch das ist weit gefehlt. Jedoch nicht, weil die Formen möglichst extravagant oder ausfallend gestaltet sind. Im Gegenteil: Es sind geringfügige Abweichungen vom normierten Kubus, Zylinder oder Kegel und von Rot, Gelb oder Blau, die zur gewünschten Personalisierung beitragen. Damit referieren die Objekte elementare Formen und Farben, ohne dabei selbst elementar zu sein.

Grundformen, die in der Verbindung mit bestimmten Farben gezielt Stimmungen erzeugen sollen – das erinnert unweigerlich an Wassily Kandinsky, der in seiner Auseinandersetzung mit elementaren Formen und Farben auch synästhetische Sinneseindrücke anschaulich machen wollte. Mit entsprechenden Verbindungen von Farben und Formen lassen sich sogar Seelenzustände, »was man Stimmung nennt«, beeinflussen. »Die ›Stimmung‹ des Werkes kann die Stimmung des Zuschauers noch vertiefen« heißt es in »Das Geistige in der Kunst«. Auch bei Kandinsky bekamen deshalb die Formen ihrem Wesen entsprechende Farben zugeordnet.

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Die Alphabeta sieht nicht nur aus wie ein aufgeräumtes Kandinsky-Gemälde, sondern ist es gewissermaßen auch: Sie benutzt die Moderne als Ressource, ohne jedoch die mit ihr verbundenen Idealismen zu übernehmen. Und wenn, so bleiben diese ganz und gar pragmatisch. Das entwertet die Idealismen zwar nicht, verstellt jedoch jeden ernsthaften Zugang zu ihnen. So adaptierte man für die Alphabeta sogar Kandinskys Kompositionen, die einem Vergleich mit der Musik geschuldet sind, als das Lampensystem auf dem London Design Festival nicht einfach ausgestellt, sondern mittels eines Klaviers vorgeführt wurde. Bestimmte Tasten aktivierten bestimmte Lampen. Was einst nur Auserwählten – im Übrigen oft Künstlern – vorbehalten war, soll für alle erfahrbar gemacht werden: Synästhesie. Die Alphabeta ist nicht nur »Design für alle«, sondern gleichermaßen »Einzigartigkeit für alle«.

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In Rafael Horzons Roman »Das weiße Buch« scheitert der Protagonist daran, nicht keine Kunst machen zu können. Sei es eine Firma für Fertighäuser, ein Fachgeschäft für Apfelkuchenhandel, eine eigene Akademie oder »Möbel Horzon«: Sämtliche Geschäftsideen werden als künstlerische Strategien wahrgenommen. Ein bisschen so fühlt es sich an, wenn man eine Alphabeta Lampe online konfiguriert. Ganz egal, welche Kombinationen man ausprobiert, wie sehr man sich auch anstrengt, ein Modell zu kreieren, was nicht gut aussieht – es gelingt einfach nicht.

Doch nicht nur jede Lampe, die man selbst entwirft, sondern auch jene, die per Zufallsprinzip von einem Automatismus produziert werden, sind gleich gut. Es erscheint anmaßend, von »Einzigartigkeit« zu sprechen, wo doch das Prinzip ist: Spielt man mit, gewinnt man auch. Wie aber funktioniert ein Spiel ohne Konkurrenz oder Wettbewerb? Wie Individualität ohne Abgrenzung? Einzigartigkeit ohne Exklusivität? Welche Motivation bleibt dann eigentlich übrig?

Die Konfiguration der Lampe macht Spaß. Die grafische Übersetzung der gewählten Formen und Farben in der Vorschau ist technisch perfekt und ermöglicht ein Rollenspiel, in dem sich der Nutzer in die Position eines Produktdesigners begibt. Ob aus dem Nutzer als Produzent auch ein Käufer als Konsument wird, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. In dem Menschenbild von Hem ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er ein Prosumer ist. Auf der Website von Hem heißt es: »Hinter jedem Hem Produkt steckt eine einzigartige Geschichte. Sie beginnt mit unseren Designern, die die Möbelgeneration von morgen entwerfen. Sie setzt sich mit unseren Handwerkern fort, die ihre Detailversessenheit an Material und Oberflächen auslassen. Sie findet ihren krönenden Abschluss mit dir.«

Doch das Produktversprechen erfüllt sich nicht mit dem bloßen Benutzen des Konfigurators, sondern meistens erst dann, wenn es auch erworben wurde. Der Erwerb spielt deshalb eine so zentrale Rolle, weil man dann nicht mehr Designer ist, sondern zum Teil des Gesamtkunstwerks Alphabeta wird. Und was sich im Gewand des Gesamtkunstwerks kleidet, ist eigentlich eine Community, der man sich beim Kauf der Alphabeta anschließt.

So wird einerseits jeder Erwerb eines Hem-Produkts auf deren Startseite aufgeführt – zusammen mit dem Vornamen des Käufers. Andererseits veröffentlicht der Käufer ein Bild seiner persönlichen Alphabeta auf seinem Facebook-, Twitter- oder Instagram-Account. Selbstverständlich wird mit dem Bild auch der Firmen-Account verlinkt. Das Produkt wird so inszeniert, dass es nicht nur einen Anlass bietet, sich als kreativ zu erweisen, sondern auch, sich zu vernetzen und miteinander zu kommunizieren. Insofern ist es auch nicht nur ein der persönlichen funktionalen Vorliebe geschuldetes Mass Customization Produkt. Indem sie einer Community Anlass zur Kommunikation bietet, wird die farbenfrohe Lampe ihrem Namen letztlich doch noch gerecht.

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Die Alphabeta ist Stellvertreter einer Gegenwart, in der Individualität und Gemeinschaft nicht nur miteinander konform gehen, sondern sich gegenseitig antreiben. Gegenseitige Inspiration und Kommunikation ist an die Stelle von Wettbewerb und Konkurrenz getreten. Die ständige Betonung der Vielfalt an Möglichkeiten, eine individuelle, »einzigartige« Alphabeta zusammenzustellen, konstituiert erst das gemeinschaftliche Gefühl, weil sich besonders viele Nutzer an die kollektive Individualität andocken können. Wie demokratisch kann Individualität sein? Mit der Alphabeta kann man antworten: sehr.

 

Annekathrin Kohout ist Bloggerin und Fotografin.