Pop-Archiv Februarvon Martina Zerovnik10.2.2016

Kino-Debatte 1912

Der Kinemato-Graf von Monte Christo. Ein humoristischer Beitrag in der Kino-Nummer der Muskete

Am 29. Februar 1912 widmete die österreichische satirisch-humoristische Wochenschrift Die Muskete ihre Ausgabe vollständig dem Kino. Diese Kino-Nummer ist ein frühes Beispiel einer fokussierten humoristischen Auseinandersetzung mit dem Film und Zeugnis der damaligen Aktualität der „Kino-Debatte“. Der deutsche Simplicissimus gab beispielsweise erst im November 1919 eine Kino-Ausgabe heraus.

Der als „Kino-Debatte“ bezeichnete Diskurs um den Status, die Eigenschaften und die Funktionen des neuen Mediums gegenüber traditionellen Kunst- und Kulturformen begann 1906/1907 mit moralisch-pädagogischen Vorbehalten gegen gewisse Darstellungen (insbesondere der Leidenschaft und des Verbrechens), Reflexionen über die Ausdrucksmöglichkeiten von Wort und Bild sowie ersten formästhetischen Überlegungen.

Der Wandel vom Attraktionskino zum narrativen Kino und vom Kurz- zum Langspielfilmprogramm erhöhte den quantitativen und qualitativen Bedarf an kinematographischen Bildern, den die Produzenten durch Rückgriff auf narrative Strukturen und Stoffe aus Theater und Literatur zu decken suchten. Das Jahr 1912 markiert einen Höhepunkt, an dem Kinoreformbewegungen ihren Einfluss geltend machten und die zunehmende Verbreitung des literarischen Films bzw. Kunst-, Kultur- oder Autorenfilms Positionsbestimmungen zwischen „Hochkultur“ und „Populärkultur“ auslöste.[i] Neben vereinzelten früheren Beispielen beteiligten sich deutschsprachige satirisch-humoristische Schriften etwa ab diesem Zeitpunkt in größerer Regelmäßigkeit mit Texten und Bildern an dem Diskurs.

Die Kino-Nummer der Muskete ist im Kontext der „Kino-Debatte“ zu verstehen, weil sie eine Reihe an Texten und Grafiken versammelt, die das Spannungsfeld zwischen „Schmutz und Schund“ humoristisch ausloten.[ii] Unter den Autoren befinden sich Bruno Wolfgang, Wauwau (Pseudonym des designierten Redaktionsleiters Theodor Waldau), Z. A. Springh und Roda Roda. Die Zeichnungen der Ausgabe stammen von Fritz Schönpflug, Josef Danilowatz, K. A. Wilke und Franz Wacik, der die Bildfolge Der Kinemato-Graf von Monte Christo schuf. Der Autor des Textes zum Kinemato-Grafen wird mit Balduin Bählamm benannt, ein von Wilhelm Buschs Bildergeschichte entlehntes, in humoristischen Kreisen wiederholt verwendetes Pseudonym.

Ob sich dahinter Franz Wacik selbst verbirgt, ist fraglich. Der Künstler der Wiener Secession griff auf die Erzählweise einer Bildfolge zurück und fertigte einen von dynamischen Strichen und ausladender Gestik gekennzeichneten Comic-Strip. Die Abfolge der Bilder ist – analog zum Stummfilm – durch Tableaux mit Zwischentiteln gegliedert und wird von darunter gesetzten Textblöcken begleitet. Die ebenfalls naheliegende Assoziation eines Filmstreifens verflüchtigt sich jedoch durch die uneinheitliche Breite der Einzelbilder und die großen Erzählsprünge, die die Darstellungen vollziehen. Diese Sprunghaftigkeit betrifft vielmehr Aspekte der „Kino-Debatte“: Respektlosigkeit gegenüber und werkuntreuer Umgang mit der literarischen Vorlage sowie fehlende Kohärenz der Handlung durch bedingungslosen Willen zur Sensation.

Ganz in diesem Sinne handelt es sich bei dem „historischen Seelengemälde“ aus dem Hause „Fraté pères“ um eine arbiträre Anknüpfung an die literarische Vorlage in Form einer Konzentration auf die Motive Macht, Gewalt, Reichtum und Leidenschaft, deren Spontaneität durch die satirische Ausrichtung besonders zugespitzt ist. „Fraté pères“ steht für „Pathé Frères“, damals eine der erfolgreichsten Produktionsfirmen, die 1908 einen Vertriebszweig des Film dʼArt übernahm. Der Begriff „Seelengemälde“ war wie „Sittengemälde“ eine gängige Auszeichnung, die die Kulturpublizistik vor allem auf literarische Werke, aber auch auf dramatische und musikalische Darbietungen in ausnehmend inflationärer Weise anwendete. Kinoproduktionen galt er in der Regel nicht, denn den Erzeugnissen des mechanischen Apparates ermangelte es in diesen Jahren noch einer Seele.[iii] Georg Lukács beschrieb die Bilder des Kinos als ein Leben ohne Seele, in dem mit der Weltanschauung des „Alles ist möglich“ die Gesetze der Phantastik herrschen – von kulturelitären Stimmen auch „Kolportagelogik“ genannt.[iv]

Solche Gesetzmäßigkeiten sind für Waciks Kinemato-Graf konstitutiv. Der Graf von Monte Christo ist das Oberhaupt der Christen, und den historischen Rahmen bildet nicht die Französische Revolution, sondern die Christenverfolgung durch einen römischen Kaiser namens Ramses der Schreckliche – zu deren Anschauung Kinder auf dem ersten Tableau im marktschreierischen Duktus der Kinoreklame durch ermäßigten Eintritt besonders eingeladen sind –, dessen Herrschaft – in eklatanter Widersprüchlichkeit historische Faktentreue vortäuschend – mit 862 v. Chr. angegeben wird.

Kinemato-Graf von MC 1_Muskete

Der Graf wird der „Brust seiner Braut“ – die im Stile filmischer Unsittlichkeit explizit gezeichnet ist – entrissen, in ein Gefängnis und von dort in eine Telefonzelle in eine unterirdische Felsenzelle gebracht. Grund dafür ist, dass er etwas an die Wand geschrieben hatte, dessen Sinn nicht zu entziffern bzw. zu verstehen war. An eine Slapstick-Einlage gemahnend, versucht der Graf von dort zu entkommen, doch graben er und sein Komplize ihre Fluchtlöcher aneinander vorbei, sodass sie sich jeweils in der Zelle des anderen wiederfinden, wobei sie der Inspektor sogleich ertappt. Wiederholt zeigt sich die Unzulänglichkeit der schriftlichen Zwischentitel, die Wacik allzu häufig in der Form eines Briefes einsetzt und die nicht zuletzt aufgrund der verwendeten Kurrentschrift unleserlich, nur begrenzt aufschlussreich oder gar nicht zu dechiffrieren sind.[v]

Kinemato-Graf von MC 2_Muskete

Die unbegrenzten Möglichkeiten der Kinowelt offenbaren sich schließlich in der phantastischen Unversehrtheit und sensationellen ‚Auferstehung‘ des Grafen, nachdem dieser mit geknebeltem Mund und einem in die Stirn getriebenen Nagel in einem brennenden Sack im Meer versenkt worden war, wo sein erlittenes Leid mit dem Fund des Rheingolds aufgewogen wurde.

So widerstandsfähig sich die physische Konstitution der Protagonisten darstellt, umso wandelbarer erscheint deren Charakter. Der Brief von Christos unehelichem Kind an den lieben Gott, in dem es im Grunde darum geht, dass aus der wilden eine legitime Ehe wird – „Lieber Gott, schick unsern Papa damit die Mama heiraten kan. Schick auch ein par Zuckerln, Mitzi.“ –, erweicht und bekehrt das Herz des Tyrannen.

Letztlich gipfelt der Bildstreifen nach dem Prinzip „Reiz und Rührung“ in einem moralischen Triumph mit Happy End, worauf der Text dezidiert hinweist: „In allgemeiner Rührung schließt diese echt menschliche Tragödie, aus welcher zu lernen ist, daß auch die echtesten Vorgänge der trockenen Weltgeschichte rührend wirken, wenn man sie durch ein Kind anfeuchtet.“[vi] Im Geiste der Kritiker des Kinematographen ließe sich in diesem Satz auch „Kind“ durch „Kino“ ersetzen.

 

Anmerkungen

[i]  Ein Beispiel für die Frage, ob Film Kunst sei: Diese dramatischen Bilderreihen oder Films, die eine unüberbrückbare Kluft von dem Wesen der Kunst trennt, heißen – Kunstfilms. Man könnte sagen, weil sie angetan sind, die Kunst umzubringen, den Sinn im Volk zu töten. Der Zustand des Beschauers ist im Kino gerade demjenigen des Kunstbetrachters entgegengesetzt. Das Wesen der Kunstbetrachtung besteht im verweilenden Schauen, in Vertiefung, Versunkenheit des inneren Menschen, in der stillen Zwiesprache unseres intimsten, kultivierten Selbst mit der Seele des Kunstwerks. Praehauser, Ludwig: Kino? Kunst und Volksbildung. Von der psychologischen Ästhetik aus betrachtet. In: Salzburger Volksblatt 42, Nr. 93, 24. April 1912, S. 17. Eine besonders konservative Position vertrat in Österreich der Priester Johann Ude: Das moderne Kino ist zu einer wahren Brutstätte der ärgsten Volksvergiftung herabgesunken. Der sittlich anrüchigste und künstlerisch minderwertigste Schund wird dort vielfach dem lüsternen Volk vorgeführt. Und unsere Jugend, selbst die Volksschuljugend, wird in gewissenlosester Weise zugelassen und saugt hier das Gift in sich ein. Ude, Johann: Moralische Massenverseuchung durch Theater u. Kino. Graz 1918.

[ii] Die Muskete wurde 1905 in einem militärischen Umfeld mit gediegenen Ansprüchen und künstlerischen Ambitionen gegründet und enthielt von Beginn an die chauvinistischen Züge des Herrenmagazins, das sie in den 1930ern werden sollte. Um ihre Position zum Kinematographen bestimmen zu können, müsste der Blick zunächst auf die gesamte Kino-Nummer und schließlich auf Beiträge einer größeren Zeitspanne ausgeweitet werden. Aufgrund ihrer tendenziellen Ausrichtung kann jedoch angenommen werden, dass gegen „Schmutz und Schund“ bzw. das „Vorbordelleben“ im Kino (wie es Johann Ude so schön bezeichnete) keine rigorosen Vorbehalte bestanden.

[iii]     Unterschlagene Werte wird man bei den Originalfilmdramen nicht vermissen; ebensowenig aber die Geheimnisse der Seele finden, die nur das Wort enthüllt. Im allgemeinen trifft all das auch auf den verfilmten Roman zu. Psyche, Ethos, Sophrosyne müssen sich trollen, wenn die Flimmerkiste zu arbeiten beginnt. Der „literarische“ Film. In: Der Sonntag. Beilage der Reichspost XX, Nr. 338, 20. Juli 1913, S. 44.

[iv] Ohne erst noch miteinzubeziehen, daß in den meisten Kinodramen die Kolportagelogik, also die Unlogik waltet, die ein falsches Weltbild vermittelt, dürfen wir feststellen, daß der Kinematograph dort, wo er durch sensationelle Kinodramen mit dem Theater konkurrieren will, nicht der Kultur dient, sondern für sie eine große Gefahr bedeutet, also eine Entartung genannt werden muß. Praehauser, Ludwig: Kino? Kunst und Volksbildung. Von der psychologischen Ästhetik aus betrachtet. In: Salzburger Volksblatt 42,Nr. 93, 24. April 1912, S. 17.

[v]  Vom künstlerischen Standpunkt bedeutet jeder Zwischentitel eine Schwäche des Films. Denn man benützt den Titel, um das zum Ausdruck und zur Kenntnis zu bringen, was zu tun eigentlich Aufgabe des Films wäre. […] Ein viel größerer Fehler aber ist es, den Film zu unterbrechen durch Titel, die eigentlich nichts besagen. […] Ob die Moral gerettet ist, wenn im Titel aus dem Geliebten ein Gemahl, aus der Geliebten eine Gattin wird (oder gar eine Freundin), das sollen andere beurteilen und – verantworten. […] Im Leben werden weder so viele Briefe, noch mit solchen Adressen und Unterschriften, noch so unleserlich geschrieben, wie in Film-Zwischentiteln. D. K. W.: Zwischentitel. In: Österreichischer Komet 6, Nr. 181, 1. November 1913, S. 5f.

[vi] Sentimentalitäten über Sentimentalitäten. Überhaupt spielen Kinder in den Vorführungen eine große Rolle. Sie lassen sich eben stets mit größtem Erfolge benutzen, um die Tränendrüsen in Tätigkeit zu setzen. Schultze, Ernst: Der Kinematograph als Bildungsmittel. Halle 1911.

 

Martina Zerovnik ist freie Kuratorin (Wien).