1949: Haustiere und Heidegger. Über ein Stück Erziehung aus der Hör Zu!
„Freundschaft mit Tieren“ heißt ein Beitrag in der Reihe „Du und Deine Kinder“ im Frauenfunk des NWDR vom Mittwoch, den 02. März 1949. Obwohl die Sendung nur rund fünf Minuten umfasst (8.55 bis 9.00 Uhr), weist das Frontblatt der größten Rundfunkzeitung nach dem Zweiten Weltkrieg extra mit einem Foto auf den Programmtipp hin.
Die Fotografie stammt nicht etwa aus dem Filmklassiker Lassie Come Home von 1943 (MGM, R.: Fred M. Wilcox). Das Bild zeigt die US-amerikanische Schauspielerin Marsha Hunt bei einem Publicity Shooting für Paramount Pictures. Der Collie ist dennoch kein Zufall. Lassie war zu dieser Zeit schon bekannt, in Deutschland kam der Film unter dem Titel Heimweh in die Kinos.
In geradezu ostentativer Form inszeniert der Publicity Shot freundschaftliche Verbundenheit. Über die Blickachse, die Lippenfarbe und Frisur, die Stellung der rechten Hand und die Maniküre bis zur irritierenden Quaste sowie dem linken Arm, der den Collie umschließt und den sprechenden Hintergrund für die Ankündigung des Sendungsthemas liefert, analogisiert die Fotografie die Abgebildeten auf bestmögliche Weise. Anthropomorphisierung bzw. Animalisierung unterstreichen die Nähe zwischen ,Frauchen‘ und Collie.
Gerade vor dem Hintergrund der Sendereihe muss man das inszenierte Verhältnis zwischen Frau und Tier als ein gegendertes begreifen. Dass das Haustier beinahe auf dem Schoß der Schauspielerin sitzt und dadurch als Vertrauter sowie potentielles Erziehungsmittel in Position gebracht wird, ist ein Effekt der fotografischen Inszenierung im Kontext des Hefts.[ii] Zusätzlich zu dieser Verknüpfung von Frau, Tier und Erziehung / Haushalt weht nicht zuletzt ein Hauch von Hollywood durch die deutschen Wohnstuben. Die Bildunterschrift „Foto: Paramount“ sowie Hunts style, von der Quaste einmal abgesehen, zeigen es an.
Titelbilder wie dieses gehören zum Standardrepertoire der frühen Hör Zu! Filmstars sowie Archivfotografien von putzigen Kleinkindern und Haustieren wechseln sich auf den Frontseiten der Zeitung ab oder werden zur Affektsteigerung direkt miteinander kombiniert. Mit geringem oder keinem Bezug zum Heftinhalt verfügen die Bilder über einen emotionalisierenden Eigenwert, auf Hunt wird im Heft beispielsweise gar nicht eingegangen. Spontane Assoziationen wie ,niedlich‘, ,witzig‘, ,schön‘ etc. sind neben dem Programmhinweis der primäre Zweck der Bildwahl, die ganz im Dienst der allgemeinen Linie des Blatts steht.
Hör Zu! wird 1946 von Axel Springer unter Lizenz der britischen Militärregierung in Hamburg gegründet und dann in die redaktionelle Betreuung des Journalisten Eduard Rhein gegeben.[iii] In unterhaltender und dezidiert unpolitischer Ausrichtung konzentrieren sich Rhein und seine MitarbeiterInnen auf die Dokumentation des Rundfunkprogramms sowie die Vermittlung traditioneller Werte.
Die Zeitung folgt darin grob der Re-Education der Alliierten, gibt sich aber vor allem heiter und optimistisch, erbaulich, informativ und stets unverfänglich. Neben den obligatorischen Programmbeschreibungen liefert Hör Zu! Rätsel und Witze, Informationen über Rundfunktechnik und Portraits von Rundfunkschaffenden in den Rubriken Den möchte ich sehen sowie Wo sie blieben und was sie trieben.
Vor allem im Zuge der Neuausrichtung der Zeitung ab Herbst 1949 nimmt die Wertvermittlung noch einmal merklich zu. Hör Zu! verdoppelt den Umfang und entwickelt sich zeitweilig zur auflagenstärksten Illustrierten Europas. Im Zentrum ihres gesellschaftlichen Auftrags steht kennzeichnend für die 1950er Jahre das christliche Idealkonstrukt ,Familie‘ mit seinen Eckpfeilern Harmonie, Behaglichkeit, Sicherheit und Produktivität. Fortan wird Eduard Rhein die LeserInnen der Zeitung als ,Hör Zu!-Familie‘ adressieren: Auf zahlreichen Seiten bietet das Blatt alltagspraktische Tipps, Hilfe verschiedener Art und die Möglichkeit der Beratung an, am bekanntesten sicher in der von Walther von Hollander geleiteten Rubrik „Fragen Sie Frau Irene“.
Abgerundet wird die Leserbindung durch kluges branding. An seiner Spitze steht der Zeitungsigel Mecki, Signum der 1950er Jahre, Namensgeber für einen Haarschnitt, Comic-Protagonist und bieder-gemütlicher Modellleser, in dem sich die Hör Zu!-Familie wiederfinden soll.[iv] Nahbarkeit ist ein Schlüsselwort dieses Presseerfolgs, der Kritiker dazu veranlasst hat, der Hör Zu! den Beinamen ,neue Gartenlaube‘ zu geben.[v]
Im März 1949 ist all dies noch entfernt, auch wenn es sich andeutet. Vor allem das Ende der Programmbeschreibung zur Sendung „Freundschaft mit Tieren“ in der Reihe „Du und Deine Kinder“ zeigt schon in die erbaulich-familiäre Richtung. Erziehungspraktisch orientiert lautet der Rat:
„Wir sollten den Kindern solche glückvollen Freundschaften mit Tieren, wenn es irgend geht, gewähren. Denn sie gewinnen nicht nur Schätze für ihr späteres Leben, sondern sie lernen auch manches in ihrem erwachenden und wachsenden Herzen an liebevoller Duldsamkeit dem schwächeren Wesen gegenüber.“[vi]
Helga Prollius, die Leiterin des NWDR Frauenfunks, formuliert durchaus im getragenen, mitunter ein wenig geschraubt daherkommenden Duktus der Zeit; Tiere und Kinder, das passt zusammen, vielleicht machen Haustiere die Kleinen sogar zu tugendhafteren Menschen – ein versöhnliches closing statement.[vii] „Tiere im Heim! Eine Quelle der Freude und Belehrung, eine Erholung und Entspannung“, heißt es ähnlich in Ingo Krumbiegels „Von Haustieren und ihrer Geschichte“ (1947), einer Buchbeigabe des Kosmos. Gesellschaft der Naturfreunde, die „in Worten die jeder versteht […], von Tieren und Blumen der Heimat und ferner Länder“ berichten will[viii]. Dagegen schlägt der Beginn der Hör Zu!-Programmbeschreibung zunächst eine geradezu verblüffende Richtung ein:
Freundschaften mit Tieren bringen in das Leben manches Menschen warme und tiefe Freude. Ja, es gibt viele, die zu der traurigen Erkenntnis kommen, dass Tiere besser seien als Menschen. Auch Philosophen, Staatsmänner und Künstler – denken Sie an Schopenhauer und dessen Pudel Atma – haben sich zur stummen Kreatur hingezogen gefühlt und ein ganz persönliches Verhältnis zu ihr gepflegt.[ix]
Schopenhauer-Anekdoten für die erziehenden RadiohörerInnen? Diese betont bildungsbeflissene Konturierung der Hör Zu! wird im Laufe der 1950er-Jahre kaum mehr eine Rolle spielen. 1949 ist sie lediglich das Warm-Up für einen Sprung in weit elitärere Sphären. Erziehung heißt in Prollius’ Beitrag nicht zuletzt Erziehung der HörerInnen in Rückgriff auf die abendländische Bildungstradition. Von Atma aus geht es im zweiten und dritten Passus über zu existential-ontologischen Ausführungen à la Heidegger:
Der Mensch setzt sich durch seinen schöpferisch denkenden Geist vielfach in Widerspruch zu Welt und All. Er muß es auch, weil er allein aus diesem Gegensatz seine stärksten Persönlichkeitswerte hervorzuläutern vermag. Das Tier hingegen steht fest und unbewußt sicher im Kosmos; widerspruchslos ruht es als Kreatur im Sein. Es ist in sich geschlossen, ganz für sich. Ohne Rückbiegung (Reflexion) auf sich selber passt es sich in seine Umwelt ein.
Seit je ist durch dieses einfache Da-Sein, das so ohne Frage ist, das Tier dem Menschen in fast heiligem Licht erschienen. Die alten Kulturvölker verehrten ihre Gottheiten in Tiergestalten: die Chinesen im Drachen Lung, die Ägypter im Stier Apis. Noch Homer gab seinen Göttinnen Hera und Athene die Beinamen ,boopis‘ und ,glaukopis‘, hergeleitet vom majestätisch blickenden Auge der Kuh und dem scharffassenden Sehen der klugen Eule. Alles Beweise, daß das Anders-Sein der Tiere, ihr Freisein von schwächlicher Verwirrung und Verstrickung in Eitelkeit und Laster mancher Art, den Menschen ergriffen und beschäftigt haben muß.[x]
Als schillernde Ausnahmen innerhalb der Hör Zu! partizipieren solche Textstellen an einem breiten Diskursphänomen der späten 1940er Jahre. Metaphysische und ontologische Argumentationen mit ihren bisweilen salbungsvollen Universalisierungen sind en vogue. Abstrakte Großkategorien wie ,Sein‘, ,Seele‘, ,Geist‘ und ,Abendland‘ dienen als Eckpfeiler der rückwärtsgewandten Erneuerung nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag wie „Freundschaft mit Tieren“ popularisiert dieses Phänomen. Er entlehnt den Duktus samt der für Heidegger charakteristischen Worttrennungsstriche und hebt mit Hilfe des philosophischen Vokabulars Verfasser, Gegenstand und Adressaten gleichermaßen auf einen Sockel.[xi] Versatzstücke aus dem Arsenal der humanistischen Tradition (boopis, glaukopis etc.) flankieren die Diskursstrategie und offerieren den LeserInnen Erbauung im Rahmen einer als privilegiert ausgewiesenen, bildungsgesättigten Erfahrung.
Auch in den 1950er Jahren sind Tiere nach wie vor ein Dauerthema der Hör Zu! Doch der weihevolle Ton ist verschwunden. Die Beiträge, in denen die Tiere häufig selbst ,zu Wort kommen‘, verbinden Heimat- und Domestikationssemantiken mit vorwiegend humoristischem Einschlag.[xii] „Schwarzkittel wird Zivilist“ ist der Titel einer Bildergeschichte von 1956. Mecki wird es gefreut haben:
Anmerkungen
[i] Das verwendete Material stammt aus dem Pop-Archiv des Germanistischen Instituts der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
[ii] Julia Bodenburg hat in verschiedenen Texten auf das Gendering im Verhältnis von Tieren und Frauen / Männern hingewiesen. Vgl. etwa „Transhumanistische Erweiterungen. Gender und Animal Studies“, in: Diversity Trouble. Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur, hg. v. Peter C. Pohl und Hania Siebenpfeiffer, Berlin, o.S. [erscheint 2016].
[iii] Vgl. Seegers, Lu: Hör zu! Eduard Rhein und die Rundfunkprogrammzeitschriften (1931-1965), 2. Aufl., Potsdam 2003, S. 159-174 (= Veröffentlichungen des deutschen Rundfunkarchivs, Bd. 34). Zur beruflichen Biografie Eduard Rheins vgl. S. 39-86.
[iv] Vgl. Seegers: Hör zu! S. 191-208.
[v] Vgl. Becker, Rolf: „Die neue Gartenlaube“. In: Der Monat, Jg. 13 (1960), S. 52-58.
[vi] Prollius, Helga: „Freundschaft mit Tieren“. In: Hör Zu! 10 (1949), S. 5. Die erwähnte „Duldsamkeit dem schwächeren Wesen gegenüber“ ist womöglich als implizite Abgrenzung gegenüber der NS-Ideologie zu verstehen.
[vii] Wie zahlreiche MitarbeiterInnen der Hör Zu! war Prollius (Jg. 1910) bereits vor 1945 beim Rundfunk tätig, zunächst in Berlin, dann in Frankfurt am Main, schließlich in Prag. Hier promovierte sie sich mit einer Arbeit über Rilke, anschließend ist sie als Assistentin am Philosophischen Seminar angestellt. Nach dem Krieg ist sie parallel zum NWDR freie Mitarbeiterin bei der Zeitschrift Constanze, 1959 veröffentlicht sie mit Alma De L’Aigle eine Kleine Erziehungsfibel. Vgl. Kuhnhenne, Michaela: Frauenleitbilder und Bildung in der westdeutschen Nachkriegszeit. Analyse am Beispiel der Region Bremen, Wiesbaden 2005, S. 203.
[viii] Krumbiegel, Ingo: Von Haustieren und ihrer Geschichte. Stuttgart 1947, S. 2 und 6 (= Kosmos-Bändchen).
[ix] Prollius: „Freundschaft mit Tieren“. S. 5.
[x] Prollius: „Freundschaft mit Tieren“. S. 5.
[xi] Auf die argumentativen Parallelen kommt es weniger an, obgleich es sie gibt. So erinnert der Gedanke des „ganz für sich sein“ des Tiers, seine Reflexionslosigkeit (ohne „Rückbiegung“) im „einfachen Da-Sein“, vage an Heideggers Freiburger Vorlesung zu den Grundlagen der Metaphysik aus dem Wintersemester 1929 / 30. Über das „auffällig[e] Beispiel“ der „Haustiere“ heißt es dort: „Aber wir leben nicht mit ihnen, wenn Leben besagt: Sein in der Weise des Tieres. Gleichwohl sind wir mit ihnen. Dieses Mitsein ist aber auch kein Mitexistieren, sofern ein Hund nicht existiert, sondern nur lebt“. Da es ,nur lebt‘ ist das Tier durch ein „Sich-zu-eigen-sein“ gekennzeichnet, das meint, „sich selbst Eigentum zu sein, ohne Reflexion“. Heidegger fragt in § 50 nach dem „Sichversetze[n] des Menschen in das Tier“, das erst durch das Tier prinzipiell ermöglicht wird, anders als etwa im Falle des Steins, der ein Sichversetzen in ihn nicht zulässt. Allerdings bedeutet dies nicht, dass dieses Sichversetzen in das Tier in der gleichen Weise gelingt, in der es zwischen Menschen möglich ist: „Ein Mitgehen, eine Versetzheit – und doch nicht“. Freundschaft spielt schon allein aufgrund dieser Bestimmung des menschlichen Verhältnisses zum Tier in Heideggers Überlegungen keine Rolle. Vgl. Heidegger, Martin: GA 29/30. S. 308 und 342 [Hervorhebungen im Original]. Eine ähnliche Differenzmarkierung klingt 1946 im Brief „Über den ,Humanismus‘“ an, in dem Heidegger eine „Vertierung des Menschen“ von Seiten der anthropologischen und humanistischen Tradition konstatiert. Der Mensch werde „von der animalitas her und nicht zu seiner humanitas hin“ gedacht, wodurch eine Bestimmung des menschlichen Wesens verhindert würde. Vgl. Heidegger, Martin: „Brief über den ,Humanismus‘“. In: Ders.: Wegmarken. Frankfurt a.M. 1967, S. 145-194, hier S. 154. Zum Tier in Heideggers Philosophie vgl. Därmann, Iris: „Von Tieren und Menschen. Martin Heidegger, Jaques Derrida und die zoologische Frage“, in: ZKph 5 (2011), S. 303-325, bes. S. 307-320.
[xii] Dabei spielt die Rundfunkzeitschrift heimische Tiere immer wieder gegen als ,faszinierend‘, aber ,gefährlich‘ markierte Exotismen aus. Vgl. etwa die Beiträge über die Tsetse-Fliege oder das US-amerikanische Bullenreiten in der Hör Zu! 10 (1949), S. 15 und 11 (1956), S. 26. Die Heimatsemantik prägt den Diskurs über Tiere und Haustiere nach 1945. Krumbiegels Von Haustieren und ihrer Geschichte beginnt mit dem kuriosen Gedanken, Zoos könnten aufgrund der in ihnen zu betrachtenden Artenvielfalt, den „Großstadtmenschen“ „naturfrem[d]“ machen, d. h., ihn von heimischen Tieren entfremden. Man beachte den insistierenden Zusatz: „Eine derartige Behauptung mag übertrieben klingen, aber es steckt ein wahrer Kern in ihr“. Krumbiegel: „Von Haustieren und ihrer Geschichte“. S. 5.
Philipp Pabst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Münster.