Mode Oktobervon Mario Keine5.10.2016

See Now Buy Now

Vier Dekaden. Das ist eine lange Periode für eine Industrie, die meint, sich alle drei Monate wandeln zu müssen, weil sie sich dann selbst antiquiert vorkommt. Vier Dekaden. So lange hat es gedauert, bis diese Branche ihr eigens aufgebautes System, das in den 1960er Jahren mit der Prêt-á-Porter etabliert wurde, für reaktionär ausruft, sich dessen entwachsen fühlt und es nicht mehr anerkennen mag.

Buy Now. Eigentlich keine neuen Worte und außerdem in ihrer Bedeutung einfach, doch für die Industrie geradezu ein Erdbeben der Stärke 10 auf der Richterskala. Zum Verständnis ist zu sagen, dass es vier Arten des Buy Now gibt:

Erstens das Seasonal Buy Now, bei der ein Produkt zum Kauf angeboten wird, wenn es dem Konsumenten am zweckdienlichsten ist. So wird zum Beispiel ein Mantel im Dezember angeboten statt im Juli.

Die zweite ist das Disintermediate Buy Now. Hier bleibt der klassische Schauen-Kalender erhalten, besitzt aber eine B2C(Business to Customer)-Komponente, die den Kunden unter den gezeigten Produkten auswählen lässt, es ihm ermöglicht, nach einer Anzahlung vorzuordern, aber zugleich Verständnis von ihm verlangt, dass die Ware erst nach einer mehrmonatigen Produktionsspanne ausgeliefert wird.

Die unmittelbarste Variante stellt die dritte, das Digital Buy Now, dar, das dem Konsumenten ermöglicht, die Ware direkt beim Anblick auf Social-Media-Kanälen durch ein paar wenige Klicks zu bestellen.

Die vierte Version ist das Consumer Driven Buy Now. Sie bringt nun die Industrie ins Taumeln. Der gesamte Produktionsprozess wird von nach auf vor die Präsentation gelegt, die den Moment darstellt, in dem das Produkt direkt erhältlich gemacht wird. Den Einkäufern wird das Produkt vor der Produktion im Geheimen, streng vertraulich, vorgestellt, damit diese den gesamten Rahmen der Kollektion vorrätig haben und vermarkten können. Dies ermöglicht es dem Konsumenten, das Produkt just in dem Moment zu ordern, in dem es gezeigt wird. Hier wird die Modenschau also zur reinen B2C-Plattform, degradiert zum schlichten Verkaufsevent, zur banalen Produktschau, zur Negation der Präsentation als Sinnbild eines Traums.

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Die Beweggründe sind nur allzu einfach und verständlich: Der Verkauf erfolgt in großem zeitlichem Abstand zur Präsentation. In dieser mehrmonatigen Phase wird der angestrebte Konsument einerseits von Presse und PR bereits langfristig von dem Produkt begleitet, anderseits wird es ihm als Alternative bereits durch schnelle Direktkopien der Fast-Fashion-Marken angeboten, bevor das Original überhaupt die Läden erreicht. So ist das Produkt bereits veraltet und der Wunsch nach ihm vergangen, noch bevor es verwirklicht werden konnte. Das Interesse ebbt ab, der Umsatz sinkt.

Darum versucht die Modebranche nun an dem immer stärkeren Verlangen des Konsumenten, alles direkt und so einfach wie möglich zugänglich zu haben, anzusetzen. In dem Moment, in dem die heute propagierten Meinungsführer der Mode (Blogger, ‚Influencer‘ etc.) ein Produkt in den Status des neuen ‚must haves‘ erheben, oder sich der potentielle Kunde auf den ersten Blick in ein Kollektionsstück verliebt, muss es diesem ermöglicht werden, es zu erwerben. Die Schwäche des Interessenten im ephemeren Zustands des Hypes wird in direkte Kaufkraft überführt.

Dieses Moment ist das Zentrum des Erdbebens, dessen Auswirkungen sich in sämtliche Phasen des Zyklus ausbreiten. Da der Kunde durch seinen direkt geäußerten Wunsch zum Co-Kreateur des verlangten Produkts für kommende Saisons aufsteigt, wird der Designer in seiner Kreativität und seinem Bestreben nach Innovation beschnitten. Was nützt es ihm, neue Denkanstöße und Visionen in Inszenierungen zu liefern, wenn sich der Kunde bei Betrachtung der ‚Verkaufsshow’ doch nur nach hübscher Kommerzialität sehnt. Dies bringt kein Geld und ermöglicht nicht die nötige Vorfinanzierung der gesamten Produktionsstrecke und des Merchandising direkt nach der Show.

Auch der Einkäufer verliert seine entscheidende Position, weil er nicht mehr über die Macht der Vorselektion für den Kunden verfügt. Selbst ein professionelles Auge kann das Verlangen des Kunden nicht so präzise beurteilen wie der Kunde selbst, was natürlich finanzielle Einbußen nach sich ziehen könnte.

Ihre Meinungshoheit verlieren auch die Journalisten. Dienten die Monate der Produktion und Distribution nach der Show ihnen bislang als Zeitraum eigener Produktionen zur Veröffentlichung ihrer professionellen Meinung durch Editorials und andere Auswahlprozesse, erfordert die direkte Reaktion der Kunden beim zeitnahen Kauf nach der Präsentation, dass die Presse das Verlangen des Publikums unmittelbar analysiert und in Rekordzeit umsetzt, weil die Veröffentlichung der Kollektion vor dem Präsentationszeitpunkt untersagt ist. Deshalb stellen Editorials nicht mehr das Wunschdenken der Presse dar, sondern die Vermittlung des Verlangens der Konsumenten. Dies führt insgesamt zu einer starken Demokratisierung der Industrie, einem Abgesang auf die Hoheit ihrer einstigen Meinungsführer.

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Derzeitig ist das See Now Buy Now-Prinzip noch ein Experiment, das aber in dieser Saison schon zehn Prozent der Designer, die auf den internationalen Fashion Weeks zeigen, durchgeführt haben. Ersten Umfragen der Brancheninformationsplattform Business Of Fashion ist zu entnehmen, dass sich das Prinzip durchaus auszahlt. Bergdorf Goodman der Neiman Marcus Group in Amerika lässt verlauten, dass der Tag nach der See Now Buy Now-Show von Designer Tom Ford der bisher umsatzstärkste Tag des Jahres war. Der Onlineshop MyTheresa konnte dies auch für den Tag nach der Burberry-Show vermelden. Großes Interesse war auch bei weniger kaufkräftigen Kunden und Neukunden zu verzeichnen, die durch kleinere Käufe von Beautyprodukten und Eyewear sich an dem kurzfristigen Hype beteiligten. So fühlten sie sich auch als Teil einer ihnen sonst verschlossenen Welt.

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Zum Schluss bleiben die Fragen, mit der man diese neue Situation und sich selbst konfrontieren muss. Fragen, die erst in den nächsten Jahren Antworten finden können. Was passiert nach dem Moment des direkten Kauferlebnisses? Der Hype ist das beste Marketing, doch wenn er vorbei ist, werden dann nicht die Umsätze stagnieren? Bislang galt ein Produkt als abgelaufen, wenn es nach sechs Monaten Wartezeit schon anderweitig erhältlich oder zu oft gesehen worden war. Aber ist die Lebenszeit eines Produkts nicht auch abgelaufen, wenn der Hype vorbei ist, die Masse der Käufer es schon besitzt und sich unverzüglich daran satt sieht? Schafft nicht erst die Wartezeit auf das Produkt wirkliches Verlangen (mit Mehrwerten wie Langlebigkeit und Qualität)? Wird nun selbst Luxusbekleidung zur Fast Fashion, zum rasch verschwendeten Massenprodukt?

The day will come when, given the banality of speed and the ease of its one upmanship, slowness will appear as the most natural way to express a certain delicacy. (Henry de Montherlant)

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Mario Keine ist Designer.