Prekarisierung Rezension zu zwei Büchern von Oliver Marchart und Mona Motakefvon Martin Seeliger11.10.2016

Gesellschaftstheorie

Wenn es in der Soziologie um Prekarität geht, besagt eine der am häufigsten Einschätzungen, dass es sich bei dem Konzept um einen „schillernden Begriff“ handelt. Während Prekarisierung eine weithin geteilte Diagnose darstellt, unterscheiden sich die verschiedenen Beiträge mit Blick auf Form, Wirkung, und Ausmaße. Dem Ziel einer differenzierteren Auseinandersetzung im Wege einer klareren Begriffsbestimmung widmen sich mit Marchart (2013) und Motakef (2015) zwei grundlagentheoretische Beiträge.

Mit der Vielfalt der Begriffsverständnisse in der Debatte setzt sich Marchart (2013: 12) gleich zu Beginn seiner umfangreichen Literaturstudie auseinander und betont so den sozialen Konstruktionscharakter des soziologischen Prekaritätsverständnisses. Als Gegenbild zu Prekarität identifiziert Marchart die Institution des Normalarbeitsregimes der westlich-fordistischen Länder im Nachkriegszeitalter. Zum Zweck der Herausarbeitung der Normalitätsimplikationen dieses Verständnisses stellt der Autor die weitere Analyse in den Begriffen und Konzepten der diskursanalytischen Hegemonietheorie dar.

Das folgende Kapitel zur „Dislozierung des Sozialen“ arbeitet den theoretischen Rahmen unter Bezug auf vier Literaturstränge aus: die Regulationstheorie, Gouvernmentality Studies, Postoperaismus und pragmatische Soziologie (nicht US-amerikanischer, sondern französischer Provenienz). Insgesamt etabliert der Autor auf diese Weise einen gesellschaftstheoretischen Rahmen, der Makrostrukturen und ein weithin wirksames Repräsentationssystem umfasst.

Dieser Ansatz ermöglicht, so Marchart (2013: 41), eine Reihe von Einsichten, namentlich einen „radikalen Relationalismus“, einen „Begriff von Ökonomie […], der die Grenze zwischen Akkumulation und Regulation und damit die Vorstellung einer in sich abgeschlossenen und endogenen Gesetzen gehorchenden Sphäre des Ökonomischen zunehmend brüchig werden lässt“, sowie die Dingfestmachung einer „Akkumulation wie Regulation umfassende[n] hegemoniale[n] Formation […] in der zwar die Regulationsform der Prekarisierung (von Arbeitsverhältnissen) eine wichtige Funktion besitzt, im weiteren, hegemonietheoretischen Sinn aber die gesamte Textur des Sozialen (also auch jenseits der Arbeitsverhältnisse) Prekarisierungsprozessen unterworfen ist“ (ebd.).

Als historisch-materiellen Ausgangspunkt der Prekarisierungsentwicklungen identifiziert Marchart (2013: 36) aus regulationstheoretischer Sicht einen „Wechsel im Akkumulationsregime und die ihn begleitenden Verschiebungen nach Ansicht der Regulationsweise.“ An der Kreuzung materialistischer und idealistischer Gedankenwege erkennt Marchart den Neoliberalismus als gegenhegemoniales Projekt, das sich in Auseinandersetzung mit dem fordistisch-keynesianischen Steuerungsparadigma behaupten musste. Im Wege weitreichenden institutionellen Wandels (diese Formulierung verwendet Marchart allerdings nicht) „gelang es, ein neues Plausibilitätsregime zu errichten, das die Dislozierungserfahrungen mit einer Erklärung versah und einen Lösungsvorschlag anbot“ (Marchart 2013: 109)

Unter Bezug auf das poststrukturalistische Konzept des Dispositivs als Verschränkung kultureller Diskurse und institutioneller Regelungen plädiert der Autor schließlich für ein möglichst weitreichendes Prekarisierungskonzept:

„Denn während Prekarisierung für verschiedene Gruppen je nach ihrer Position in der Sozialstruktur unterschiedlich dramatische Folgen annimmt, was sich nicht zuletzt in der subjektiv erfahrenen jeweiligen Balance aus Angst- und Freiheitskomponenten niederschlagen wird, können diese Folgen doch nur vor dem gemeinsamen Hintergrund der umgreifenden hegemonialen Verschiebungen von fordistischen zu postfordistischen Arbeits-, Regulations- und Subjektivierungsnormen analytisch sinnvoll eingeordnet werden“ (ebd.: 76).

Dass dieses weite Verständnis des Begriffs nicht nur zur analytisch-heuristischen Erfassung zeitgenössischer Lebens- und Beschäftigungsformen, sondern auch als Bezugsrahmen politischer Mobilisierung geeignet ist, zeigt der Autor im zweiten Teil des Buches anhand einer empirischen Untersuchung der ‚EuroMayDay‘-Bewegung. Zum Gegenstand seiner diskursanalytischen Untersuchung werden hierbei rund 50 Aufrufe zu sogenannten EuroMayDay-Paraden, im Rahmen derer Aktivistinnen und Aktivisten gegen die Deregulierung des Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtsregimes demonstriert haben.

Als grundlegende Herausforderung bei der politischen Mobilisierung prekär Beschäftigter identifiziert Marchart (2013: 175) das „Problem, einen gemeinsamen Nenner dieser Positionen formulieren zu müssen.“ Wie es Marchart mit Hilfe seiner Diskursanalyse zu zeigen gelingt, ist es eben diese Unbestimmtheit des Prekaritätsbegriffs, die den Aktivisten zu einer möglichst breiten Ansprache unterschiedlich Betroffener verhilft. „Mit dem schillernden Begriff der Prekarisierung“, so Marchart (2013: 175), „gelingt es dem Bewegungsdiskurs, einen hinreichend entleerten Signifikanten zu entwickeln, der eine ganze Reihe von sozialen Phänomenen und Erfahrungen abzudecken in der Lage ist, die vom hegemonialen Diskurs, wie wir ihn etwa an der deutschen Unterschichtendebatte analysieren konnten, als weitgehend unzusammenhängend definiert werden.“

Das Verhältnis von empirischer Analyse und theoretischer Reflexion stellt sich mit Blick auf den Gesamtumfang des Textes als höchst asymmetrisch dar. Tatsächlich liest sich der Text vor allem im ersten Teil des Buches streckenweise wie eine Einführung in die (post-)marxistische Kulturtheorie. Den Kriterien einer soliden politökonomischen Analyse hält der Text hingegen nicht stand. So bleibt etwa der Zusammenhang von Prekarisierung und Finanzialisierung der Ökonomie weitgehend im Dunkeln.

Eine weitere Beschränkung entsteht durch den Fokus auf westlich-fordistische Gesellschaften. Das ist zwar kein allgemeines Problem, denn auch diese gehören untersucht. Aber wenn man zu einem allgemeinen Konzept von Prekarität gelangen möchte, müsste man den Bogen wohl weiter spannen und die Nationalgesellschaften des globalen Südens genauso in Betracht ziehen wie die fernöstlichen Länder.

Institutionentheoretischen Ansätzen zur Erklärung von Liberalisierung (siehe etwa Streeck 2009) fügt Marchart mit seinen Ausführungen ein ideologietheoretisches Argument hinzu. Das ist erstmal gut! Und auch die Betonung politischer Potenziale einer Ent-Prekarisierung löst den Anspruch einer umfassenden politischen Soziologie der Wirtschaft ein, nicht nur Marktentbettung, sondern auch etwaige Gegenbewegungen in Betracht zu ziehen.

Aber insgesamt bleibe ich bei der Beurteilung des Textes etwas skeptisch: Wenn das ein Buch über die EuroMayDay-Bewegung war, erfuhr man insgesamt recht wenig. Wenn es ein Buch zur theoretischen Rahmung der Analyse politischer Proteste gegen Prekarität war, bin ich nicht sicher, was ich aus dem Text gelernt haben sollte.

Insgesamt finde ich im Buch viele interessante Gedanken und theoretische Referenzen, aber ein wesentlicher Fortschritt mit Blick auf die methodische Operationalisierung von Forschung zum Thema ist für mich schwierig zu erkennen. Aber vielleicht ist auch das theoretische Abstraktionsniveau gramscianischer Analyseraster zu hoch für mich. Würde eine handlungstheoretische Betrachtung des Engagements der Protestakteure nicht eigentlich ohne den theoretischen Ballast auskommen können? Wenn ich es richtig sehe, wissen wir recht wenig über die Prekären und ihre Proteste. Aus meiner Sicht empfiehlt es sich, das Unterfangen einer empirisch-explorativen Untersuchung von Prekarität mit leichtem theoretischem Gepäck anzugehen.

In ihrem Einführungsbuch unternimmt Mona Motakef (2015: 133) eine „lange Reise durch die vielen Verästelungen der Prekarisierungsdebatte“. Als ‚point of departure‘ dient hierbei ein konstruktivistischer Grundgedanke: „Die Prekarisierungsdebatte ist ein machtvoller und umkämpfter Ort, in dem um Hegemonie darüber gerungen wird, was prekär war, ist und sein wird“ (ebd.: 11).

Bereits die knappe Einführung macht früh deutlich, wohin diese Reise führt: Es geht um eine programmatische Kritik der Diskussion aus feministischer Perspektive. Indem sie die Geschichte der Prekarisierungsdebatte über ihre Entstehung im französischen Kontext (und unter besonderem Bezug auf Robert Castel, Pierre Bourdieu sowie Luc Boltanski und Eve Chiapello) und ihre Adaption in Deutschland (vornehmlich in Verbindung mit den Arbeiten aus dem Jenaer Umfeld unter Federführung Klaus Dörres) erzählt, konstituiert sie den Gegenstand ihrer Kritik im Wege einer historischen Rekonstruktion.

Den Strukturwandel der Erwerbsarbeit im Verlauf der vergangenen vier Jahrzehnte legt die Autorin nachfolgend anhand der in der deutschen Diskussion entwickelten Begriffe und Konzepte dar (Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit, Arbeitskraftunternehmer). Anders als bei Marchart erfolgt die Vorstellung des Forschungsstandes sehr systematisch (dies vermutlich nicht zuletzt, weil der Literaturstand in der arbeitssoziologischen Prekarisierungsforschung um einiges überschaubarer ist).

Vor dem Hintergrund ihrer Rekonstruktion gelangt die Autorin zu dem Ergebnis, dass es der arbeitssoziologischen Prekarisierungsforschung gelungen ist, „eine große Wahrnehmung für die Unsicherheiten in der Erwerbssphäre in der Arbeits- und Industriesoziologie zu schaffen“ (Motakef 2015: 66). Den anerkennenden Worten lässt Motakef allerdings eine fundamentale Kritik folgen: Zu spezifizieren wären nicht nur der verwendete Klassenbegriff, das Verhältnis von Prekarität und Armut sowie der Zusammenhang mit der Sozialstruktur (ebd.: 67). Einem vierten (und im Buch mit Abstand am stärksten repräsentierten) Kritikpunkt zu Folge, lässt sich die arbeits- und industriesoziologische Prekarisierungsdebatte auch als „männliche Nabelschau“ einstufen, weil, so Motakef (2015: 67f) weiter, „sie mit ihrer Themensetzung vor allem jene Bereiche skandalisiert, die die Beschäftigungssituationen von Männern betreffen“ (67f).

Nehme man aber das Normalarbeitsverhältnis, dessen Normalitätsimplikation den vollerwerbstätigen Mann zum Alleinernährer voraussetzt, zum Ausgangspunkt der Konzeptentwicklung, könne „prekäre Beschäftigung immer nur als Verlust von männlichen Privilegien in den Blick genommen, während hingegen die bereits seit der Nachkriegszeit prekären Lebenslagen von Frauen und Migrant_innen aus dem Blick geraten“ (ebd.).

Der Darstellung des Standes komplementärer Erkenntnisse dient das folgende Kapitel zum Thema der Prekarisierung im Feld der Geschlechterforschung. Die beiden Grundfragen einer geschlechtersensiblen Prekarisierungsforschung formuliert die Autorin wie folgt: Zum einen gehe es darum, „wie sich durch Prekarisierungsprozesse Geschlechterungleichheiten verändern“, und zum anderen um die „Frage, ob Geschlechternormen brüchig werden“ (ebd.: 104).

Anschließend an eine knappe Darstellung verschiedener theoretischer Konzepte der Geschlechterforschung (Geschlecht als Strukturkategorie, interaktionistisches Paradigma, Intersektionalität) begründet Motakef die Notwendigkeit einer Perspektiverweiterung der arbeits- und industriesoziologischen Perspektive unter Bezug auf eine Reihe von Themenfeldern (geschlechterspezifische Arbeitsmarktsegregation, Zusammenhang von Erwerbsarbeit, Migration und Geschlecht, die sozialpolitische Aktivierung und Geschlecht mit besonderem Fokus auf aktivierende Familienpolitik und das neue Elterngeld, sowie prekäre Familien- und Haushaltsformen).

Ähnlich wie bereits Marchart widmet sich Motakef in einem weiteren Kapitel der (potenziellen) Bedeutung post-operaistischer Ansätze für die Erforschung von Prekarität und thematisiert in diesem Zusammenhang auch die Proteste im Rahmen der EuroMayDay. In der stärkeren Berücksichtigung solcher Ansätze im Bereich der Arbeits- und Industriesoziologie erkennt die Autorin weiteren Entwicklungsbedarf für die von ihr insgesamt stark kritisierte Disziplin.

Im letzten Kapitel folgt schließlich das Fazit aus dieser Kritik in Form eines vierfachen Vorschlags zur Erweiterung des alten Konzeptes von Prekarität, wie es in der Arbeits- und Industriesoziologie verbreitet sei. Zu überwinden sei, so schreibt Motakef bereits in der Einleitung (2015: 7), Androzentrismus, eine Verbindung mit Rassifizierungsprozessen und Migrationsregimen, eine mangelnde Berücksichtigung von Sexualität als Grenzmarker sowie eine historische Komponente, die in Betracht zieht, „dass für viele selbstständige Berufsgruppen unsichere Erwerbsverhältnisse immer die Regel waren“ (ebd.).

Diese Desiderate werden im letzten Kapitel noch erweitert. Zum einen regt Motakef eine gesellschaftstheoretische Ausarbeitung der Argumentation an. Zweitens gelte es, auch Gesellschaften jenseits der westlichen Industrienationen in den Blick zu rücken. Zusätzlich zur weiteren Etablierung umwelt- und körpersoziologischer Perspektiven fordert sie weiterhin zu einer stärkeren Subjektorientierung auf, die sich in der Rekonstruktion subjektiver Perspektiven manifestieren soll. Um eine stark konzeptionell geprägte Debatte vom Kopf auf die Füße stellen zu können, erscheint mir dieser Punkt besonders bedeutsam.

Dass die beiden Bücher eine eindeutige politische Tendenz verfolgen, zeigt sich nicht nur im Verlauf der Kapitel immer wieder sehr deutlich, sondern auch in den expliziten Forderungen nach einer Politik der Entprekarisierung, die Marchart und Motakef im Rahmen ihrer abschließenden Erwägungen stark machen.

Der Vorschlag einer diskursanalytischen Untersuchung politischer Mobilisierungsversuche bei Marchart erscheint im Rahmen der Debatte um Prekarität genauso innovativ wie die epistemologisch-politische Kritik Motakefs. Inwiefern die Operationalisierung Marcharts dem Umfang seiner theoretischen Erwägungen entspricht, erscheint mir fraglich. Aber als Anregung lassen sich seine Darstellungen in jedem Fall verstehen.

Die Kritik der Geschlechterforschung an der Arbeitssoziologie ist so alt wie berechtigt (Bock/Duden 1976). Dass Motakefs Text aus meiner Sicht eigentlich einen Untertitel wie „Eine feministische Kritik der Prekarisierungsforschung“ tragen könnte, ist damit also keinesfalls als Abwertung zu verstehen. Wie genau eine solche Perspektiverweiterung aussehen könnte, wäre auf dem Wege empirischer Forschung zu klären.

 

Literatur

Bock, Gisela/Duden, Barbara (1976): Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Berlin: Courage.

Streeck, Wolfgang (2009): Re-Forming Capitalism. Oxford: Oxford University Press.

 

Bibliografische Nachweise:
Oliver Marchart
Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung
Bielefeld 2013
transcript
ISBN 978-3-8376-2192-1
248 Seiten

Mona Motakef
Prekarisierung
Bielefeld 2015
transcript
ISBN 978-3-8376-2566-0
184 Seiten