Es beginnt mit PlatonDie anglo-amerikanischen Wissenschaftsverlage veröffentlichen mit Vorliebe Zusammenfassungs- und Einführungsbände. Gegenüber vergleichbaren deutschen, französischen etc. Büchern verfügen sie über einen immensen Marktvorteil. Dank der Weltsprache Englisch ist der Absatz garantiert. Universitätsbibliotheken in allen Ländern stellen die Bände in ihre Regale; Dozenten – nicht nur in England und den USA – beruhigen ihr didaktisches Gewissen damit, dass sie die Bücher ihren Studentinnen und Studenten als Übersichts- und Grundlagenwerke empfehlen, auch wenn sie meist nur zu gut wissen, dass solche Bücher für B.A.-Aspiranten oft gleichermaßen zu viel und zu wenig Informationen bieten. Zu viel – denn die Revue aller möglichen Ansätze und Bereiche verwirrt den Anfänger nur, wenn er sie rasch hintereinander aufnimmt. Zu wenig – denn die einzelnen Kapitel und Unterkapitel bleiben im Regelfall zu oberflächlich, wenn man sie zur speziellen Lektüre nutzt. Ein weiteres Problem liegt darin, dass solche Bücher fast immer das Hauptgewicht auf die Darstellung unterschiedlicher Großtheorien und -methoden legen: Psychoanalyse, Strukturalismus, Marxismus, Systemtheorie etc., die de facto die Arbeiten von Studenten (und häufig auch von Wissenschaftlern) gar nicht prägen, weil sie ihre Themen viel unreiner oder mit Theorien mittlerer Reichweite angehen.
Es bleibt also die Frage, ob man dieses Buchgenre (abgesehen von den ökonomischen Interessen der Verlage) überhaupt braucht – ob es nicht sinnvoller wäre, stattdessen eine kurze Liste mit Büchern und Aufsätzen aufzustellen, die überzeugende Untersuchungen auf eine gut erklärte, nachvollziehbare Weise bieten. Und selbst wenn man der Ansicht ist, dass großflächige Einführungen eine wichtige Funktion besitzen, stellt sich seit einigen Jahren die zusätzliche Frage, ob man sie noch braucht in einer Zeit, in der man im Internet zu allen möglichen Stichworten Einführendes und Zusammenfassendes findet.
Berücksichtigt man diese Probleme, legt Chris Rojek, Professor für Soziologie und Kultur an der englischen Brunel University (Uxbridge, West-London), ein gelungenes, ansprechendes Werk vor. Wie der Titel schon sagt, betrachtet Rojek die Popmusik im Zusammenhang kultureller Fragen (wobei Kultur bei ihm ungefähr das umfasst, was man vor vierzig Jahren noch mit ›Gesellschaft‹ angesprochen hätte). In typisch soziologischer Manier begründet Rojek seine Abneigung dagegen, das autonome musikalische Werk und seinen Schöpfer bei der Untersuchung ins Zentrum zu stellen, mit dem Hinweis auf die soziokulturellen Bedingungen solcher Schöpfung. Vernünftigerweise belässt er es nicht nur bei einer Vogelperspektive, sondern stellt z.B. die Bedeutung des Managements bei der Untersuchung der Popmusik greifbar heraus. Dennoch erklärt sich sein Vorgehen sicherlich ebenfalls schlicht daraus, dass er nun einmal Kultursoziologe und kein Musikologe ist. Auf musikwissenschaftliche Untersuchungen im engeren Sinne trifft man bei ihm folglich kaum, soziologische, kulturwissenschaftliche, aber auch philosophische, ökonomische Ansätze dominieren.
Fast unvermeidlich (s.o.) ist bei einem solch weiten Spektrum, dass die Auswahl der vorgestellten Richtungen und Theoretiker oftmals willkürlich erscheint. Manchmal gerät zudem der Kotau vor der Bildungstradition allzu stark, etwa wenn unter dem Stichwort »Structuralist Approaches« ausführlich Plato, Aristoteles, Attali, Lévi-Strauss und Adorno erörtert werden. Teilweise wettgemacht wird das jedoch, weil Rojek (leider dann meist in Kurzform) auch Theorien mittlerer Reichweite zur Popmusik vorstellt (etwa die in Deutschland bislang zu wenig bekannten Forschungen von Theodore Gracyk).
Rojeks Buch ist aber auch über das Einführungsgenre hinaus von Interesse. Rojek legt großen Wert auf die Feststellung, dass die Popmusik gegenwärtig eine entscheidende Wandlung durchlaufe. Die digitalen Neuerungen hätten »a radical technological and cultural transformation in the production, exchange and consumption of pop music« ermöglicht (S. 3). (Eine innerwissenschaftliche Pointe ist, dass Rojek seinen angloamerikanischen Kollegen vorschlägt, angesichts dieser Transformationen endlich den älteren Begriff »popular music« – mit seinem Volkskultur-Kern – bei Analysen aktueller Musik zugunsten von »pop music« und »pop« zu streichen; außerhalb der Wissenschaften ist dies ohnehin längst weitgehend geschehen). In zehn Bereichen stellt Rojek die Konsequenzen der Implementierung digitaler Technologien besonders heraus:
1. Popmusik löst sich stark von der Rezeption an einem dafür vorgesehenen Ort (Kinderzimmer mit Postern und Kassettenradio, Wohnzimmer mit Stereoanlage, Schallplattengeschäft, Club) und ist dank Handys, Laptops etc. allgegenwärtig.
2. Diese individuelle Mobilität bildet die Ursache für den Bedeutungsverlust jener Subkulturen, die sich traditionell an bestimmten Orten gebildet und versammelt haben.
3. Zu einem Rückgang der Verbindung von Musik und visuell wahrnehmbaren Stilelementen führt die digitale Revolution nicht. YouTube, Myspace etc. sorgen sogar zunehmend dafür, dass Töne zusammen mit Bildern rezipiert werden.
4. Die digitalen, billigen Produktions-, Distributions- und Marketingmöglichkeiten verringern die Macht der Schallplattenfirmen beträchtlich. An ihre Stelle könnten allerdings schnell durch andere Web-Firmen auferlegte Zwänge treten.
5. Die Musikpresse verliert in beachtlichem Ausmaß ihre Gatekeepermacht und ihre Deutungshoheit an Blogs und soziale Netzwerke.
6. Da grundlegende Fähigkeiten, mit dem Computer umzugehen, einen bereits in die Lage versetzen, Popstücke anzufertigen, ist es nun vielen möglich, zum Komponisten/Musiker/Produzenten aufzusteigen.
7. Zugleich bietet die digitale Technologie den Hörern die Chance, selbst kreativ tätig zu werden, indem sie die vorgegebenen Stücke modifizieren.
8. Die große Verfügbarkeit des digitalen Angebots hebt die Limitationen, die von den räumlichen Grenzen des LP- und CD-Ladens gesetzt waren, auf. Das führt dazu, dass Chartshits im Regelfall über geringere Popularität als früher verfügen und es eine größere Nischenvielfalt gibt.
9. Damit verbunden ist eine größere Geschmackspluralität und ein geringeres Gewicht der scharfen ästhetisch-sozialen Distinktionslogik.
10. Musikalisch findet das sein Gegenstück nicht nur in der Kultivierung von Retro-Sounds, sondern im wachsenden, neuartigen Synkretismus der Popsongs: Genremischungen, die die Grenzen von Blues, Country, Punk etc. übersteigen, sind an der Tagesordnung.
Mit diesen Punkten legt Rojek eine überzeugende, umfangreiche Liste an Thesen und Beobachtungshilfen vor. Ob sie alle einer empirischen Überprüfung standhalten, ist fraglich. Wie unter angloamerikanischen Popkulturwissenschaftlern üblich, dürfte die Bedeutung der Rezipientenkreativität von ihm ebenso zu hoch veranschlagt worden sein wie die des Synkretismus. Diese Vermutung ändert aber nichts daran, dass Rojek mit seinen Punkten künftige Untersuchungen in die richtige Richtung lenkt. Umso nötiger wäre es gewesen, die Ausführungen zu Plato etc. zu reduzieren und stärker aktuelle Untersuchungen vorzustellen.
PS: In dem vierbändigen Sammelband »Popular Music« (London: Sage 2011), den Rojek herausgegeben hat und in dessen Einleitung er seine oben skizzierten Thesen wiederholt, sind einige solcher aktuellen Aufsätze nachgedruckt. Wegen des absurd hohen Preises (600 Pfund) – und weil die vier Bände zumeist gut bekannte und greifbare Beiträge versammeln (von Adorno bis Frith), neben denen die von Rojek aus verschiedenen Wissenschaftsperiodika ausgesuchten Beiträge unbekannterer Autoren wegen oftmals sehr spezieller Fragestellungen im Rahmen solch eines Überblickswerks wenig überzeugen – kann dieses Werk nur denjenigen empfohlen werden, die sich in einer Bibliothek eine erste Orientierung verschaffen wollen.
Bibliografischer Nachweis:
Chris Rojek
Pop Music, Pop Culture
Cambridge: Polity Press 2012
ISBN-13: 978-0-7456-4263-5
237 Seiten
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