…mit Flügeln an den Füßen!Von Turnschuhen und Film-Rentnern, die Sneakers tragenvon Hans J. Wulff19.5.2017

Ende einer Provokation

Objektbedeutungen und -funktionen

Kleidung ist Teil der kulturellen Arbeit an den Bedeutungshorizonten aller ihrer Elemente. Kleidungsstücke wie Schuhe tragen nicht von sich aus Bedeutungen, sondern erlangen diese erst in besonderen kulturellen Kontexten. Darum sind sie interpretationsbedürftig, durchaus ambivalent, weil Bedeutungen zugeschrieben sind, den Objekten nicht per se innewohnen. Es geht nicht um Objektgeschichte, sondern um Bedeutungsassoziationen – erst sie verankern Objekte im sozialen Leben. Diejenigen, die spezifische Kleidungsstücke tragen, etablieren ebenso die Deutungshorizonte wie diejenigen, von denen sie wahrgenommen werden.

Turn- bzw. Sportschuhe entstanden als Zweckschuhe im frühen 19. Jahrhundert. Erst in den 1950ern emanzipierten sie sich aus dem baren Zweckverband sportlichen Tuns, wurden vor allem in den Jugendkulturen als modisches Accessoire entdeckt, mit dem sich die Differenz zu den Kleidungs-Konventionen der Erwachsenenkulturen ausdrücken ließ. Manches dient der Provokation. Oft werden Medienfiguren wie James Dean und Marlon Brando (vor allem in seiner Rolle als Stanley Kowalski in A Streetcar Named Desire [Endstation Sehnsucht], USA 1951, Elia Kazan) als diejenigen benannt, die die Popularität der Turnschuhe in den Jugendkulturen ihrer Zeit förderten.

Für die Halbstarken gehörten Turnschuhe aus Leinen (chucks) zum subkulturellen Erscheinungsbild. Parallel dazu entstanden die Teddy Girls (manchmal auch: Judies) als weibliche Variante der rock‘n‘roll-affinen männlichen Form; ihr Kleidungsstil – mit aufgerollten Jeans und flachen Schuhen wie Espadrilles – galt seinerzeit als ausgesprochen androgyn. Die Welle kam auch in der BRD an: Horst Buchholz etwa hatte in Die Halbstarken (BRD 1956, Georg Tressler) ein Paar Turnschuhe provokant über seinem Bett hängen. Auch die junge Cornelia Froboess wurde in Hula-Hopp, Conny (BRD 1958, Heinz Paul) zusammen mit ihren Freunden in den Outfits der Halbstarken gezeichnet. Die so sehr mit der Rock-, später auch der Hippiebewegung (während der die Schuhe oft bemalt wurden) assoziierte Bedeutung der chucks war noch anfangs der 1970er spürbar, als 1971 etwa Mick und Bianca Jagger in Turnschuhen (es handelte sich um den Taylor All Star von Converse) vor dem Standesamt erschienen.

Das Moment des Protestes blieb lange erhalten, findet sich noch in den chucks der Grungekultur, des Punk und auch im Umfeld der Skaterszene. Ein Vorbild des heutigen populären Wissens über die solcherart vorinterpretierten Sneakers-Moden mag immer noch Joschka Fischer sein, der am 12.12.1985 zum hessischen Umweltminister vereidigt wurde – er war in Turnschuhen (und ohne Krawatte) im Landtag angetreten. Provokativität wohnte zu dieser Zeit aber kaum noch den chucks als Signalen jugendkulturellen Protests inne, sondern zielte auf eine viel breitere, linksliberale und ökologische eingefärbte politische Subkultur. Vor allem bedurfte es der so ganz unangemessenen Umgebung des Landtages, um das Skandal-Potential der Schuhe erneut zu entfachen (und dadurch die stillschweigend geltenden restriktiven Kleidungskonventionen greifbar zu machen).

Turnschuhe von Joschka Fischer, in welchen er den Amtseid als erster Grüner Minister in Deutschland leistete. Aufgenommen im Ledermuseum Offenbach.

Turnschuhe von Joschka Fischer, in welchen er den Amtseid als erster Grüner Minister in Deutschland leistete. Aufgenommen im Ledermuseum Offenbach.

Heute sind Sportschuhe in der BRD längst nicht nur im Jugend-, sondern auch im etablierten bürgerlichen Milieu nicht weiter auffallender Standard geworden. Sie haben sogar die ihnen lange so eigene Urbanität des Tragens verloren, finden sich auch in Kleinstädten und auf dem Lande. Dabei entstammen viele der Bedeutungen, die auch im hiesigen Marketing für die Sneakers – die besonders hochpreisigen Varianten der Turnschuhe, die zudem eng mit Markenfetischismus verbunden sind – US-amerikanischen kulturellen Kontexten, die aber ihrerseits vielen Turnschuhträgern im einzelnen gar nicht bekannt sind, weil sie zu Objekten einer im Grunde geschichtslosen Lifestyle-Inszenierung geworden sind. Dass diese Schuhe z.B. von Connaisseuren nicht zugebunden werden, war in der HipHop-Szene „ursprünglich eine subtile Solidaritätsbekundung mit afroamerikanischen Strafgefangenen, da in amerikanischen Gefängnissen Schnürbänder (genauso wie Gürtel) verboten sind)“ (Niedenthal 2005) – diese an innergesellschaftliche Konflikte gemahnende Bedeutung ist heute vergessen.

Zeitgenössische Ausdrucksfunktionen nutzen sich ab; der Turnschuh ist heute Allerweltsware geworden. Kulturologische Analyse zeigt allerdings, dass die Kommunikation um Sportschuhe resp. Sneakers tief in die Bedeutungsgeschichte, in kulturelle Wertgeschichten und in Traditionen innergesellschaftlicher Differenzierung zurückweisen. Einen solch weiten kulturhistorischen Bogen spannt Dylan A.T. Miner (2009) auf. Für ihn ist die Turnschuhproduktion in der Sportbekleidung des Viktorianischen 19. Jahrhunderts entstanden und so eine Entwicklung aus einer klar männlich dominierten Freizeittätigkeit. Sie waren lange reserviert als Mittel, männliche Identität in der sich schnell entfaltenden Warenwelt auszuweisen.

Für Miner bedarf es für ein tieferes Verständnis der Sneakers als kultureller Einheiten einer Zusammenschau der Geschichte der Sportschuhe, der Beziehungen zwischen den Rassen, der allgemeinen Geschichte und der der Männlichkeit, vor allem, um den immer wieder abweichenden Bedeutungszuweisungen auf die Spur kommen zu können. Auffallend ist ihm der Widerspruch zwischen der tatsächlichen Nutzung von Sportschuhen in multi-ethnischen Subkulturen und ihrem Marketing als feste Ingredienzien der Schwarzen- und der Eingeborenen-Gemeinschaften; die zeitgenössischen kulturellen Vorstellungsbilder von Sneakers sind so gemeinsam gespeist aus der Tradition Viktorianischer Mode, der Kunstgeschichte sowie der neueren Schwarzenkulturen des HipHop und der Gefängnisse.

Eine ganze Reihe von Untersuchungen versuchen, sich an eine kulturologisch-historisierende Analyse der Sneaker-Kulturen heranzutasten – fast ausschließlich im Kontext der US-amerikanischen Kultur, weshalb manchmal der Turnschuh als American Icon bezeichnet wird. Eine schlichte Übertragung auf seine Bedeutungen in der BRD erscheint darum höchst problematisch.

Eine ähnliche Skepsis artikulieren auch BraceGovan/de BurghWoodman (2008), die in ihrer auf neokolonialistischen Annahmen basierenden Analyse Sneaker-Bedeutungen in den USA und Frankreich miteinander kontrastieren. Während Sneaker in der afroamerikanischen Straßenkultur Themen wie soziale Entfremdung, (rassische und individuelle) Identität und eine rigoros-konsumistische Grundhaltung artikulieren, sind die Bedeutungshorizonte in postkolonialen französischen Gemeinschaften ganz anders gelagert. In der Konsequenz fordern die Autorinnen eine nuancierte Interpretation der symbolischen Horizonte der Konsumption in verschiedenen Nationen, abhängig von der Geschichte der jeweiligen traditionellerweise marginalisierten Subkulturen. Methodisch sind diese Überlegungen folgenreich – nicht nur, dass sich historische Bedeutungen und pragmatische Funktionen u.U. rasend schnell verändern, sondern auch, dass man in verschiedenen Gesellschaften mit ganz anderen Bedeutungen konfrontiert wird.

Dass dem Sneakergebrauch selbst im Kontext einer einzigen Kultur eine wahre Gemengelage von Bedeutungsassoziationen zukommt, ist auch die Grundlage der Analyse von Ramsay (2002): Auch wenn das eigentliche Interesse seiner Analyse der HipHop-Musik gewidmet ist, attestiert er der HipHop-Kultur eine aggressiv ausgelebte gemeinschaftliche Konsumhaltung, die sich im Bemühen um das Neusein der Sneakers ebenso manifestiert wie in der Gesamtinszenierung des Breakdance-Tänzers, in der Sneakers, T-Shirt, Hosen und Kappen miteinander harmonieren sollen; hinzu kommt, dass im Idealfall das Outfit Teil des Auftritts vor der Mauer der Umstehenden ist, dass also der Tänzer zur zentralen Figur des szenischen Arrangements wird.

Es mag wiederum als widersprüchlich gelten, dass die Krise der US-amerikanischen urbanen Zentren zugleich die Entstehung der musikalischen Idiome des HipHop, der Popularität der Bildwelten des Sports, der spezifischen Mode-Konventionen, damit verbunden rassistischer Themen, Imaginationen der Gefahr ebenso wie des Vergnügens gefördert hat. Große Mode-Unternehmen wie Nike, Reebok oder L.A. Gear haben in ihren diversen Werbemedien die brüchigen urbanen Lebensräume romantisiert, vor allem diejenigen, in denen sich schwarze Jugendliche zurechtfinden müssen. Auch der von David L. Andrews herausgegebene Sammelband (2001) über den schwarzen Basketballspieler und erfolgreichen Unternehmer Michael Jordan, der einen Exklusiv-Werbevertrag mit Nike hatte und dort als repräsentativer (sportiver und erfolgreicher) Sneakersträger vermarktet wurde, verankert die Sneaker-Kulturen in der schwarzen Subkultur des HipHop und des Breakdance, die sich seit den 1970ern von New York aus ausbreitete. Filme wie Do the Right Thing (Do the Right Thing, USA 1988, Spike Lee) trugen zur fetischartigen Popularisierung der Sneakers in der HipHop-Kultur der Zeit bei.

Ähnlich diesen anderen Autoren verankert Jacqueline Botterill (2007) die Images der Sneakers im Historischen. Für sie stehen der Cowboy, der genialische Künstler und der Gesetzlose als Inkarnationen authentischer Individualität im 19. und 20. Jahrhundert, die zwar vielfach parodiert und verunkt worden sind, in Verbindung mit der in Jugendkulturen verbreiteten „totemistischen“ Interpretation der Jeans und der Sneakers (vgl. Saltz 2005, Kawamura 2015, 32ff; Chalmers/Arthur 2008 sprechen sogar von einer „Sakralisierung“ der Beziehung von Subkulturen zu kommerzialisierten Objekten), deren Gebrauch suggeriert, dass die Individualismus-Werte von Freiheit, Autonomie und Individualität nach wie vor realisierbar seien.

In der Werbung für diese Jugend-Waren (youth commodities) werden Sportwerte wie das Athletische, die Disziplin und der Teamgeist weiterhin eingesetzt, suggerieren den Effekt einer Selbst-Authentifizierung im Sport. Paradoxerweise entsteht so ein Widerspruch zwischen der versprochenen Wert-Assimilierung und der Tatsache, dass sie Teil eines umfassenden Konsumssystems sind. Konsequenterweise spricht die Autorin dem Gebrauch der Modeobjekte einen imaginären therapeutischen Wert zu.

Die Differenz männlicher und weiblicher Werte und Identitätsentwürfe bildet einen eigenen Themenkreis, der in der schmalen Literatur zur kulturellen Bedeutung der Turnschuhe (resp. der Sneaker als ihrer neuen Ausprägung) behandelt wird. D. Travers Scott (2011) stellt einen Versuch vor, die Sneakers-Bedeutungen im Horizont von Gender-Kategorien und ihren Beziehungen zur dominanten Kultur zu verorten (am besonderen Beispiel der amerikanischen Schwulen-Kulturen). Danach lassen sich drei Positionen aus der Perspektive schwuler Männer skizzieren: (1) Sneakers gelten als feminin und werden in Opposition zur dominanten Kultur abgelehnt; (2) sie gelten als maskulin und werden der hegemonialen Rahmenkultur assimiliert; (3) sie gelten als maskulin und werden in Opposition eben dieser genutzt (behalten also ihr Protestpotential). Die Differenzierung der Objektbedeutungen betrifft aber eine nur vorübergehende Phase, an deren Ende sich Bedeutungen möglicherweise aufgelöst haben, sprich: sie keine Ausdrucksfunktionen mehr tragen können.

Bestimmungselemente des Männlichen in den Sneaker-Kulturen zu diagnostizieren, durchzieht alle mir bekannt gewordenen Untersuchungen. Insofern verdienen zwei Überlegungen Aufmerksamkeit, die sich der Adressierung von Frauen in Nike-Werbungen als Sneakers-Konsumenten widmen. Bis heute sind sneakers-tragende Frauen gegenüber den männlichen Konsumenten in einer dramatischen Unterzahl, auch wenn sich inzwischen auch für Mädchen und junge Frauen entworfene Sportschuhe im Angebot finden. Es sind drei TV-Werbespots, die Lucas‘ (2000) Untersuchung zu Grunde liegen. Nike (bzw. die Nike-Produkte) werden als Mittel positioniert, die es jungen Frauen ermöglichen, Sport zu treiben – und dadurch zu einem reicheren und gesünderen Leben zu gelangen, vor allem sie zu intensivem Vergnügen zu befähigen. Allerdings bleibt die männliche Dominanz erhalten, weil die Clips implizit unterstellen, dass junge Frauen keine eigene Handlungsmacht oder -initiative haben und auf die Hilfestellung von Nike angewiesen bleiben. Auch die Analyse von Helstein (2003) zeigt, wie sich Nike jungen Frauen gegenüber als seriöser Anwalt eines Ideals weiblichen Athletentums ausgibt – und dieses gleich mit Idealen der Emanzipation kurzschließt.

In der Summa legen die Nike-Werbungen nahe, dass ‚Vergnügen‘ (eher im Sinne von desire als von fun) an politische und kulturelle Bedingungen gebunden ist, eine Zielvorstellung, über die sich die Werbungen allerdings ausschweigen. Offenbar greift Nike auf ein diffuses Hintergrundwissen zurück, in dem die körperliche Selbstbestätigung ein zentraler Wert ist – etwas, das traditionellerweise der männlichen Lebensweise zugeordnet wird.

Alle Untersuchungen, die dem kurzen Bericht zu Grunde lagen, handeln von jungen Adressaten der Werbung und von jungen Leuten, die Sneakers tragen. Ältere oder gar Alte tauchen nicht auf. Allerdings zeigt die Alltagserfahrung, dass eine Altersdifferenzierung der Gesellschaft angesichts des Sneakertragens höchstens noch partiell möglich ist – Sportschuhe der genannten Art sind inzwischen altersunspezifisch geworden. Allerdings steht zu vermuten, dass die mit den Schuhen assoziierten Werte auch im Konsum Älterer eine Rolle spielen, wenn auch befreit vom Wissen um die Bezüge zu allgemeineren gesellschaftlichen Praktiken, in die sie ursprünglich einmal eingebettet waren.

Waren die Schuhe in den 1960ern noch lesbar als gegen die Einkerkerung der Füße gerichtete Protestaktion, richteten sie gleichzeitig die Kleiderordnung als Ausdrucksform einer umfassenderen und im Kern repressiven Ordnungsvision vieler Handlungsräume zugrunde. An den Füßen der Yuppies der 1980er lösten sie sich aus dem semantischen Horizont der Auflehnung und wurden sie zu Indikatoren einer umfassenden Mobilität (als wären die Laufschuhträger ständig dabei, von einem Ort zum anderen zu laufen; vgl. Stern/Stern 1992, 431f).

Sneakers an den Füßen von Alten

Die Stufen der Lebensalter sind nicht nur symbolisch getrennt, sondern werden auch durch Kleidungsstile angezeigt: Kinder tragen Kinderkleidung (nicht nur wegen der Größe), Jugendliche ihre eigene Klamotten – und eben auch die Alten die ihnen typische Kleidung. Auch wenn sich die Konventionen verändern, wenn sich gar Abschnitte der Lebensalter neu herausbilden, so kann man doch mit den Formen spielen. Kinder im Anzug sind ebenso lächerliche Gestalten wie Sechzigjährige im HipHop-Outfit. Die Filme, um die es hier geht, verfahren aber anders: Sie modulieren die altersgemäße Kleidung mit Elementen, die herausstechen, die Widersprüche signalisieren. Soziale Identität wird dynamisiert, das erkennbare soziale Subjekt bricht aus der Ordnung der appearances aus. Die Turnschuh-Alten spielen ein semiotisches Spiel mit den Ausdruckselementen ihrer Kultur, signalisieren ihren Austritt aus den Kollektiverwartungen, wie und wer jemand zu sein hat, der zu seiner Altersgruppe gehört. Sie reklamieren Subjektivität, die das Prinzip der Verkleidung, das schon den Kodifizierungen alterstypischer Kleidung zu Grunde liegt, persiflieren.

Sneakers sind modisches Accessoire geworden, gehören zudem dem Mainstream an – in keinem Bereich der Schuhindustrie steigen die Umsatzzahlen wie in dem der Turnschuhe (zur Geschichte der Turnschuhe vgl. Kawamura 2015). Das gilt auch für die alten Konsumenten. Je näher sie den konsumistischen oder hedonistischen Milieus lokalisiert sind, desto selbstverständlicher sind Turnschuhe als Teil der Alltagskleidung. Man spricht in der Schuhindustrie sogar von silver sneakers als eigenem Marktsegment. Nicht nur, dass sich die Altenkleidung in den letzten dreißig Jahren hin zu einer gegenüber den älteren Stilen offeneren, bunteren, saisonabhängigeren Form entwickelt hat, es hat auch eine Übertragung der Anmutungsqualitäten der Jugendlichkeit, der Wellness-Orientierung, des Lebensgenusses (etwa als Urlaub) und einer allgemeinen Mobilisierung der Alten stattgefunden, die tatsächliches Lebensalter mit Erlebnisorientierungen (und den dazu gehörenden Freizeit- und Konsumangeboten) geführt hat. Die einstmals mit den Turnschuhen verbundene Auflehnung gegen die gesellschaftliche Kleiderordnung ist verschwunden.

Man mag diesen Prozess als eine Form ‚intergenerationellen Lernens‘ ansehen, die mit einer tiefen Veränderung der Altersbilder und der Selbstwahrnehmungen von Alten einhergeht. Zwischen die Phase der Erwachsenen im Erwerbsleben ist eine neue Phase eingerückt, die von der Konsum- und Erlebnisfreudigkeit ‚junger Alter‘ eingenommen wird, der die Phase des ‚eigentlichen Alters‘ vorausgeht (Pichler 2010). Wenn Clint Eastwood (damals 67) in Absolute Power (Absolute Power, USA 1997, Clint Eastwood) einen alternden Meisterdieb spielt, der einen Mord beobachtet, dann sind die Sneakers an seinen Füßen ein Hinweis auf seine Beweglichkeit, Wachsamkeit und Vorsicht und zudem ein klares Differenzsignal zu der Kleiderordnung seiner Feinde und Verfolger (bis hinauf zum amerikanischen Präsidenten). Manches bleibt irritierend, deutet auf eine Künstlichkeit der Alten-Outfits hin. Die hellblauen Schuhe, die Cathérine Deneuve (67) in Potiche (Das Schmuckstück, Frankreich 2010, François Ozon) zu einem roten Jogging-Anzug trägt, verwirren etwa ob der eigenartigen Farbkombination.

Auch die Converse-Sneakers, die die Endsechzigerin Annie (Geraldine Chaplin) in Et si on vivait tous ensemble? (Und wenn wir alle zusammenziehen?, Frankreich 2011, Stéphane Robelin) beim Abstecken eines Pools im Garten, den sie gegen den Willen ihres Mannes anlegen will, deuten auf die ungewöhnliche Aktivität und Beweglichkeit der Akteurin hin; dass sie die gleichen Schuhe auch in anderen Situationen trägt, in denen sie sich dagegen wehrt, wenn ihre Interessen verletzt werden – die Sneakers signalisieren ihr selbst und dem Zuschauer die Bereitschaft zur Gegenwehr, die Haltung der Renitenz und die Selbstbestimmung des Handelns.

Es überrascht nicht, dass alte Sportler Sportschuhe anhaben – sie nutzen deren ursprüngliche Qualität als Zweckschuhe. Wenn es also um alte Langstreckenläufer geht wie in dem Dokumentarfilm Herbstgold (BRD 2010, Jan Tenhaven) über fünf sportbegeisterte Senioren, die sich auf die Olympischen Spiele für Senioren 2009 im finnischen Lahti vorbereiten, oder in dem Spielfilm Sein letztes Rennen (BRD 2013, Kilian Riedhof) über einen über 70jährigen Marathonläufer (Dieter Hallervorden, damals 75), der das Training zum Berliner Marathonlauf beginnt – dann sind die Sportschuhe Teil der Sportlerausstattung. Und auch die vier Space Cowboys (Space Cowboys, USA 2000, Clint Eastwood) tragen während ihres Fitness-Trainings für die Weltraumreise situationsangemessen Turnschuhe, wie auch der Wrestler Randy Robinson (Mickey Rourke, 56) in The Wrestler (The Wrestler – Ruhm, Liebe, Schmerz, USA 2008, Darren Aronofsky) seine Kämpfe in blassgrünen chucks bestreitet.

https://www.youtube.com/watch?v=vV3i2SeXhSM

Das ist in anderen Filmen anders. Die von der 74jährigen Bernadotte Lafont gespielte Titelheldin des Films Paulette (Paulette, Frankreich 2012, Jérôme Enrico) ist angewiesen auf ihre Mindestrente; früher hatte sie mit ihrem Mann ein gutgehendes Restaurant gehabt, das sie kurz vor dem Tod ihres Mannes schließen musste. Sie ist verbittert, selbst ihren alten Freundinnen gegenüber abweisend und verschlossen. Als auch noch ihre Wohnungseinrichtung gepfändet wird, beginnt sie, in den Drogenhandel einzusteigen. Ihr Alter macht sie unverdächtig, wenn sie auf der Straße Marihuana verkauft – mit zunehmendem Erfolg. Als sie von konkurrierenden Dealern zusammengeschlagen wird und ihr Enkel zufällig ein Stück Marihuana der Kuchenmasse beimengt, die auf dem Küchentisch steht, entsteht eine neue Geschäftsidee: Haschverkauf in Form von Plätzchen. Ihre alten Freundinnen sind begeistert, als sie selbst von den Plätzchen gekostet haben – Paulette stellt die drei alten Damen ein, der Keksverkauf ab Wohnung beginnt zu florieren. Als sie jedoch mitbekommt, dass der russische Gangsterboss, der sie mit der Haschisch-Rohmasse beliefert, plant, die Kekse auch an Schulen zu verkaufen, steigt Paulette aus. Die Polizei hilft ihr aus den folgenden Verwicklungen heraus; die vier alten Damen kommen mit einer Bewährungsstrafe davon. Zusammen mit Paulettes Tochter führen die alten Frauen das Geschäft in legaler Form in Amsterdam weiter.

Eine Geschichte, die ebenso komische wie bittere Töne anschlägt. Das brennende Thema der Altersarmut vor allem von Frauen, die damit einhergehende Vereinsamung, das Abgeschnittenwerden von der Sphäre des Konsums, die Abschirmung der Alten von der Umwelt der Stadt in einem kartenspielenden Sozialheim; und dagegen die Vorstellung, dass der Rauschgifthandel von Bossen im Hintergrund und auf der Straße von kriminalisierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen kontrolliert wird und eben nicht von alten Frauen wie der Titelheldin – ein Widerspruch, aus dem das komische Potential des Films entspringt. Paulette ist unsicher, wie sie an Kunden gelangen, wen sie ansprechen und wie sie auftreten soll. Wenn sie sich eine Sonnenbrille aufsetzt und dazu Sneakers anzieht, dann ist es, als wolle sie vor allem sich selbst signalisieren, dass sie nun in die soziale Rolle einer Kriminellen eingetreten sei, dass man es nicht mit der verbitterten Rentnerin, sondern der Dealerin zu tun hat. Die Sonnenbrille ist ein altes Requisit des Krimis – Mörder, Privatdetektive, Spione und andere, die nicht erkannt werden wollen und meist zugleich Verbotenes vorhaben. Paulette nutzt dieses Signalement, transformiert sich zu einer Genrefigur des Films.

Eine ganz andere Strategie unterliegt der Entscheidung, Sneakers anzuziehen. Diese sind Jugendmode, zudem in Jugendszenen verbreitet, die auch im Ruf stehen, drogenaffin zu sein. Betreibt Paulette eine Art „Szenenmimikry“, indem sie sich mittels der Schuhe als Szenen-Oma ausweist? Oder zieht sie just jene Schuhe an, die als Schuhtracht der Alten so ganz und gar nicht en vogue ist, eher lächerlich und grotesk als elegant wirkt, um ihren Anschluss an ein Geschäftsfeld, ein Thema, vielleicht sogar eine Lebensform der Jungen zu indizieren? Oder vielleicht sogar beides? Sie trägt Sneakers, keine chucks. Das ist insofern signifikant, als sie auf einen anderen Bedeutungshof ausgreift als diejenigen Alten, die zu den viel billigeren Leinen-Sportschuhen greifen, was man wiederum als Hinweis auf die Armut gelesen werden können, in der die Protagonisten handeln.

Paulette wird eine andere, indem sie die Schuhe wechselt. Noch deutlicher ist die dramaturgische Funktion in dem isländischen Film Börn náttúrunnar (Children of Nature – Eine Reise; aka: Kinder der Natur – Eine Reise oder Kinder der Natur, BRD/Island/Norwegen 1991, Friðrik Þór Friðriksson): Der über achtzigjährige verwitwete Bauer Þorgeir (Gísli Halldórsson, 62) sieht sich nicht mehr in der Lage, allein seinen Hof zu bewirtschaften. Bei seiner Tochter in Reykjavik zu wohnen, führt zu Konflikten; er muss ins Altersheim umziehen. Dort trifft er Stella (Sigríður Hagalín, 62) wieder, eine Jugendliebe, die 50 Jahre zurückliegt. Sie lebt schon etwas länger im Heim und gilt als rebellische Außenseiterin, die sich immer wieder gegen die Bevormundungen und Kontrollen der Alten durch die diktatorische Heimleitung auflehnt. Die beiden nehmen die alte Beziehung wieder auf und beschließen, aus dem Heim zu fliehen und sich nach Hornstrandir in den Westfjorden der Insel durchzuschlagen, wo sie aufgewachsen sind. Sie stehlen einen Jeep, nachdem sie sich mit Turnschuhen ausgestattet haben, und fliehen. Sie fliehen, um in Freiheit zu sterben.

Auch hier markieren die Turnschuhe einen signifikanten Übergang: das Heraustreten aus der zivilisatorisch vorgesehenen Beendung des Lebens im Heim, die schleichende Entmündigung der Alten, das Antreten einer „letzten Reise“ in Selbstverantwortung. Der Film radikalisiert und allegorisiert dieses moralische Argument, als die beiden – zu Dieben geworden – in die Kriminalität eintreten müssen, von der Polizei gejagt werden und gelegentlich nur durch einen Wunder-Stopptrick entkommen können. Die Reise findet statt im Außen der gesellschaftlichen Ordnung. Die Turnschuhe ermöglichen dies nicht, aber sie zeigen es höchst markant an.

Für manche im Rentenalter sind Sneakers also weiterhin signifikant und signalisieren Figuren in der Krise und im Übergang. Bill Murray war zwar erst 53, als er Lost in Translation (Lost in Translation – Zwischen den Welten, USA 2003, Sofia Coppola) drehte, doch tragen seine Schuhe zum Eindruck bei, dass er einen zutiefst verwirrten, seiner Identität unsicheren Charakter spielt. Das ist in der Charakterisierung des Degenhard Schagowetz (gespielt von Joachim Fuchsberger, 83) in Die Spätzünder (BRD 2010, Wolfgang Murnberger) ganz anders – er ist der renitenteste der Altenheimbewohner, besorgt Zigaretten und Alkoholika und trägt Sneakers. Seien Rolle als Aufständler gegen das Regime der Heimleitung ist seinen Handlungen ebenso ablesbar wie seinen Schuhen. Die Rolle des Volker Hartmann, die  Michael Gwisdek (72) in Jan Georg Schüttes improvisierter Dialogkomödie Altersglühen – Speeddating für Senioren (BRD 2014) spielt, hatte er selbst ausgestaltet – ein schlottrig-nervöser, des eigenen Lebensalters offenbar unsicherer Typus, großmäulich, Jugendlichkeit vortäuschend; dass Schirmkappe und Sneakers dazugehören, macht die Figur im Kontext des Speeddating lesbar.

Auch wenn all diese Bedeutungen des Sneakertragens nicht feststehen, nur funktional erfasst werden können: Die Beispiele zeigen, dass Turnschuhe einer symbolischen Strategie zugehören, mit der Brüche in der biographischen Kontinuität und Konsistenz sich selbst und anderen angezeigt werden können, die weit über das schlichte Schuhkleiden hinausgehen.

Dem konsumistischen Paradox, Individualismus mittels von Massenprodukten auszudrücken (Mackinney-Valentin 2014), können sie nicht ausweichen: Gerade deshalb ist es so wichtig, die Bedeutungshorizonte solcher Gebrauchsweisen von Objekten nicht mit Geschmacksurteilen abzufertigen, sondern in deren innere Motivationen einzutreten. Im Verhalten mancher Alter bleibt ein Protestimpuls erhalten, der im allgemeinen längst in der Überführung der chucks und Sneakers zu einer modischen Ware unter anderen versunken ist und der nur noch einen Impuls der Selbstbestätigung trägt. Die Flügel an den Füßen, die an Hermes erinnern, den Götterboten, und die die Geschwindigkeit des Denkens symbolisieren: Sie erinnern auch an den Aufbruch zu neuen Ufern, an die Eroberung des Neuen, an die Fortentwicklung des Selbst – an ein utopisches Moment eben. Und nicht an das Versinken in einer dem Kunden zubereiteten Konsumwelt.

Man könnte hier auch anders enden: Die Turnschuhe sind aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Geltung von Macht und Konvention, um das Recht auf Selbstbestimmung und Anderssein, um die Uniformität der Teilnahme an gesellschaftlichen Handlungssphären heute wieder herausgetreten. Natürlich signalisieren sie immer noch Bedeutungen – Anmutungen der Jugendlichkeit, des Mobilseins, der Modernität u.ä. –, doch sind sie kein Teil einer symbolischen Politik mehr. Sie sind in den kapitalistischen Warenkreislauf zurückgekehrt. Manchmal aber erzählt das Kino Geschichten, in denen sie symbolisch aufgeladen werden, individuellen Aufbrüchen und Befreiungen Gesicht verleihen. Provokativ sind sie aber auch dann nicht mehr.

 

Anmerkung

[*] Nicht berücksichtigt wurde die Spottbezeichnung der little old ladies in tennis shoes (selten auch: …in sport shoes; manchmal werden die little old ladies als little old women bezeichnet), die im Kalifornien der 1960er Jahre als Sozial- und Kleidungstypus verbreitet waren – ältere Frauen gehobener Mittelschicht, konservativ orientiert, kleinlich und bürokratisch, prüde. Der Typus steht in klarer Opposition zu den Bedeutungen, die den chucks in den Jugendkulturen der Zeit zukam. Es gibt allerdings keine Mischungen der beiden Typen; die Bezeichnung markiert wohl eine Mode-Übergriffigkeit, die aber gar nicht in den subkulturellen Bezeichnungen der Zeit verankert ist.

 

Literatur

Andrews, David L. (ed.) (2001) Michael Jordan, Inc. Corporate Sport, Media Culture, and Late Modern America. Albany: State University of New York Press (SUNY Series on Sport, Culture & Social Relations.).

Botterill, Jacqueline (2007) Cowboys, Outlaws and Artists. The Rhetoric of Authenticity and Contemporary Jeans and Sneaker Advertisements. In: Journal of Consumer Culture 7,1, March 2007, S. 105125.

BraceGovan, Janice / de BurghWoodman, Hélène (2008) Sneakers and Street Culture: A Postcolonial Analysis of Marginalized Cultural Consumption. In: Consumption Markets & Culture 11,2, S. 93112.

Chalmers, Tandy D. / Arthur, Damien (2008) ,Hard-Core Members’ of Consumption-Oriented Subcultures Enactment of Identity: the Sacred Consumption of Two Subcultures. In: NA – Advances in Consumer Research 35, S. 570-575.

Helstein, Michelle T. (2003) That’s Who I Want to Be. The Politics and Production of Desire within Nike Advertising to Women. In: Journal of Sport and Social Issues 27,3, Aug. 2003, S. 276292.

Kawamura, Yuniya (2015) Sneakers: Fashion, Gender and Subculture. New York/London: Bloomsbury Academic (Dress, Body, Culture.).

Lucas, Shelley (2000) Nike’s Commercial Solution. Girls, Sneakers, and Salvation. In: International Review for the Sociology of Sport 35,2, June 2000, S. 149164.

MackinneyValentin, Maria (2014) MassIndividualism: Converse All Stars and the Paradox of Sartorial Sameness. In: Clothing Cultures 1,2, S. 127142.

Miner, Dylan A.T. (2009) Provocations on Sneakers: The Multiple Significations of Athletic Shoes, Sport, Race, and Masculinity. In: CR: The New Centennial Review 9,2, Fall 2009,

Niedenthal, Clemens (2005) Auf den leisen Sohlen der Rebellion. In: Berliner Zeitung, 23.3.2005.

Pichler, Barbara (2010) Aktuelle Altersbilder: „junge Alte“ und „alte Alte“. In: Handbuch soziale Arbeit und Alter. Hrsg. v. Kirsten Aner u. Ute Karl. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaft, S. 415-425.

Ramsey, Guthrie P. (2002) Muzing New Hoods, Making New Identities: Film, HipHop Culture, and Jazz Music. In: Callaloo 25,1, Winter 2002, S. 309-320.

Saltz, Ina (2005) The Fetishization of Sneakers: If You Let Them Build. In: Step Inside Design Magazine 21,6, Nov./Dec. 2005, S. 1419.

Scott, D. Travers (2011) Contested Kicks: Sneakers and Gay Masculinity, 19642008. In: Communication and Critical/Cultural Studies 8,2, S. 146164.

Stern, Jane / Stern, Michael (1992) Encyclopedia of Pop Culture. […] New York: HarperPerennial.

 

Filmographie

Just for Kicks; Frankreich/USA 2005, Thibaut de Longeville, Lisa Leone. — Dokumentarfilm. 67min. Über die Geschichte der Sneakers als HipHop-Mode.

Sneaker; USA 2007 [2013]. — Dokumentarfilm. 49min. Teil der Lehrfiolm-Reihe Confidential: A Closer Look At, ed. by Content Media Corporation. / Films for the Humanities & Sciences (Firm) / Films Media Group. Über die Entwicklung der Laufschuhe zum allgemeinen Schuhwerk der Gegenwart und zu seinen Bedeutungen in der Populärkultur.

Sneaker confidential; Kanada 2008, Leora Eisen, David Wells, Caroly Larson. — Dokumentarfilm. 45min. Über die Erfolgsgeschichte der Sneakers.

Sneakers (Sneakers – Der Kult der Turnschuhe); Niederlande 2004, Femke Wolting. — Dokumentarfilm. 55min. Zur Geschichte und zu den Marketingsstrategien der Sneakers.

Sneakerheadz; USA 2015, David T. Friendly, Mick Partridge. — Dokumentarfilm. 73min. Zur Geschichte des Sneaker-Sammelns.

 

Hans Jürgen Wulff war Professor für Medienwissenschaft an der Universität Kiel.