Social Media Septembervon Alicja Schindler20.9.2017

Interieurfotografien im Social Web

Abbildung 1: Stephanie von Fahnenberg: Wohnzimmer von Alexander von Fahnenberg in der Wilhelmstraße 69 in Berlin, 1837/38, Bleistift, Feder in Violett, Aquarell und Deckfarben auf Karton, 28,6 x 24,1 cm Abbildungsnachweis: Holm, Christiane; Dilly, Heinrich (Hrsg.), Innenseiten des Gartenreichs. Die Wörlitzer Interieurs im englisch-deutschen Kulturvergleich. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2011, S. 28

Abbildung 1: Stephanie von Fahnenberg: Wohnzimmer von Alexander von Fahnenberg in der Wilhelmstraße 69 in Berlin, 1837/38 (In: Holm, Christiane; Dilly, Heinrich (Hg.), Innenseiten des Gartenreichs. Die Wörlitzer Interieurs im englisch-deutschen Kulturvergleich. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2011, S. 28)

Die Linien des Teppichbodens ziehen den Blick geradezu in das Aquarellbild hinein. Ein junger Mann in weiter Hose sitzt lesend in seinem orangefarben gestrichenen Wohnzimmer. Das Mobiliar verweist auf den Alltag des Bewohners Alexander von Fahnenberg im Jahr 1837 in Berlin: Ein Stuhl steht nah ans Fenster gerückt, der Sekretär ist geöffnet und das Sitzmöbel davor leicht verrückt. Man kann sich vorstellen, wie Fahnenberg hier vor wenigen Minuten noch saß und schrieb. Fast 200 Jahre später lässt sich der Architekt und Designer Axel van Exel, ebenfalls in seinem Wohnzimmer in Berlin sitzend, auf der Webseite „Freunde von Freunden“ porträtieren. Beide Männer geben uns Einblick in ihre privaten vier Wände. Sie stellen sich nicht nur, wie im klassischen Porträt, durch das Gesicht oder ihren Körper dar, sondern auch mithilfe ihres Interieurs.

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Interieurfotografien werden heute auf Blogs und über soziale Netzwerke wie Pinterest, Instagram und Facebook geteilt, gespeichert und verbreitet. Bei dem Aquarell von Alexander von Fahnenberg handelt es sich um ein Zimmerbild. Das Genre war vor allem in der Zeit von 1830 bis 1840 beliebt und wurde von Laien (oder speziell dafür beauftragten Architekturmalern) angefertigt, um Freunden und Familie zu zeigen, in welcher „Lebenslage“[1] sich die BewohnerInnen auf Reisen oder nach einem Umzug befanden.[2] Die Interieurfotografien, die aktuell beispielsweise unter Hasthags wie #interiorinspo, #homedecor, #instahome oder #homeinspiration im Netz kursieren, sind hingegen öffentlich und für jedermann zugänglich.

Wie die Kunsthistorikerin Beate Söntgen schreibt, wird das „[…] Interieur als Schauplatz, aber auch als Schauraum bürgerlicher Tugenden […]“[3] von Sittsamkeit, Innerlichkeit oder Bildung im Zimmerbild offenbar. Die Bewohner geben Einblick in ihr ordentliches Heim mit traditionellem Holzmobiliar. Schon allein die Geste, das Zeigen des Privaten, verdeutlicht den „Wunsch nach Repräsentation“[4] aber auch den Wert, welcher Zurückgezogenheit hier beigemessen wird. Innerlichkeit wird ausgestellt. Arbeitszimmer werden häufig mit großen Bücherstapeln abgebildet, um den Bewohner oder die Bewohnerin als gebildet und fleißig zu porträtieren. Die BewohnerInnen selbst werden in den Zimmerbildern meist nur beiläufig oder gar nicht dargestellt.[5] Man könnte folglich sogar darauf schließen, dass die streng dokumentierte Einrichtung in den Zimmerbildern mehr über Eigenschaften und Lebensumstände einer Person erzählen sollte als die nur undetailliert gezeigte Physiognomie des Gesichts.[6]

Die Kunstwissenschaftlerin Annette Tietenberg analysiert in einem Aufsatz die zeitgenössische Interieurfotografie auf dem Blog „The Selby“das englischsprachige Pendant zu „Freunde von Freunden“.[7] Gegenwärtig entfalten sich im Vergleich zum Zimmerbild durch soziale Medien und Blogs natürlich ganz neue Möglichkeiten der Selbstpräsentation. Der private Ort wird auch hier zum „ideale[n] Ort […], das ›Selbst‹ durch die Augen Anderer zu sehen und sich im Gesehenwerden als ›Persönlichkeit‹ wahrzunehmen.“[8] Während es im Zimmerbild um die Darstellung bürgerlicher Tugenden wie Sittsamkeit, Innerlichkeit und Bildung geht, kommt es heute laut Tietenberg bei der Interieurfotografie auf Blogs zunächst einmal zu einer Umkehrung dieses Bestrebens: Die Bewohner versuchen zu zeigen, dass sie künstlerisch und kreativ leben[9]: Sie demonstrieren, dass sie nicht der Tradition zufolge das komplette Mobiliar – und damit vielleicht auch die Normen und Werte – der Eltern übernehmen und diese Möbelstücke in der ihnen zugedachten Funktion nutzen. Nein, sie zeigen sich antibürgerlich, denn sie deuten Funktionen um, leben in bunter Vielfalt und integrieren scheinbar Unpassendes in ihr Interieur. Mithilfe der Interieurfotografie entstehen so „Bilder von Kreativität“[10], die Tietenberg als „antibürgerliche Phantasmen“[11] beschreibt.

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Während Alexander von Fahnenberg noch Möbel verrücken musste, um alles Vorzeigbare in einem einzigen Bild darstellen zu können, ergeben auf Blogs wie „Freunde von Freunden“, Detail-, Groß- und Nahaufnahmen zusammen mit Totalen und Halbtotalen ein Gesamtbild. Der gewählte Ausschnitt gewährt einen Einblick in die „Sammlung einer Persönlichkeit“[12]: Kunst, Möbel und Markenzeichen werden individuell zusammengestellt, scheinen ihren „Warencharakter abgestreift zu haben […] und nun wegen ihres Liebhaberwertes geschätzt [zu] werden.“[13] Der Bewohner Axel van Exel kombiniert Stile, integriert Ungewöhnliches in seinen Alltag und interpretiert Nutzungsweisen um. Er markiert einfarbig aus der Fabrik kommende Produkte mit seiner „Persönlichkeit“. Diese definiert er über Bandnamen, Fotografien, Postkarten oder Aufkleber. Er individualisiert seine Einrichtung. Die weiß getünchten eigenen vier Wände werden zur Aufforderung für Menschen des urbanen, kreativen Milieus, zum Kurator oder zur Kuratorin in der eigenen Wohnung zu werden und sich in einem Stil-Remix originell auszudrücken.[14]

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Ein Kronleuchter, ein rosafarbener Plastik-Vogelkäfig und kitschige Märchen- oder Chinafiguren werden wie selbstverständlich in die Einrichtung integriert.[15] „Kitsch erhält den Anstrich einer subversiven Strategie.“[16] Man fühlt sich als Künstler und eventuell gar als Teil einer Bewegung, die Tietenberg als „künstlerische[n] Underground“[17] bezeichnet. Durch die Integration von ungewöhnlichen Dekorationsartikeln in die Einrichtung hebt sich der kreative Bewohner von der Masse ab.[18] Stil-Kombinationen, Uminterpretationen und Kitsch lassen auf die Individualität und antibürgerliche Unangepasstheit des Bewohners schließen.

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Schließlich erkennt Tietenberg in den zeitgenössischen Interieurbildern aber doch eine Paradoxie, könnten sie doch „in ihrem Beharren auf Besitzstand und Innerlichkeit bürgerlicher wohl kaum sein []“[19]. Wo das Ausleben einer antibürgerlichen Haltung zunächst im Gegensatz zur Gattung des Interieurbildes steht, widerspricht am Ende jedoch das Zeigen-was-man-hat dieser Antibürgerlichkeit. Auf „Freunde von Freunden“ werden vorrangig Menschen porträtiert, die in ihrem Beruf kreativ tätig sind. Sie arbeiten als DesignerInnen, IllustratorInnen, KünstlerInnen, ArchitektInnen, KuratorInnen, FotografInnen oder MusikerInnen – und inszenieren sich in Bild und Text auch als solche. Trotzdem stellt Tietenberg Bürgerlichkeit fest, denn: Einerseits entsteht der Eindruck eines spontanen, ungeschönten Einblicks in das Zuhause der Bewohner. Andererseits entsteht die Atmosphäre von Kreativität und Individualität – und damit Antibürgerlichkeit – erst durch die bewusst gewählte Anordnung von nur scheinbar zufällig arrangierten Gegenständen. Diese ergeben zusammen einen geschmackvollen „Remix“[20]. Das Ausstellen der eigenen Wohnung zeigt, dass den vermeintlich kreativen BewohnerInnen ihr Besitz doch wichtiger ist, als sie zugeben wollen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie antibürgerlich ist Kreativität überhaupt noch?

Die These des Kultursoziologen Andreas Reckwitz von der „Normalisierung der Kreativität“[21] kann hier Aufschluss geben. Derzufolge ist die Forderung, kreativ zu sein, in unserer Gesellschaft bereits allgegenwärtig. Die kulturelle Logik eines Kreativitätsdispositivs sei bis in das Privatleben vieler Menschen der Mittelschicht eingedrungen.[22] Man könnte die Interieurfotografie auf Blogs als ins Bild gesetzten Ausdruck davon – als Kulturtechnik innerhalb des Kreativitätsdispositivs – verstehen.

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Wie Reckwitz schreibt, bevorzugt eine kreative Persönlichkeit „das Neue gegenüber dem Alten, das Abweichende gegenüber dem Standard, das Andere gegenüber dem Gleichen“[23]. Wenn in den gezeigten Wohnungen kitschige Plastikfiguren, ein alter Motorradhelm oder Bücher im Küchenschrank stehen, wird deutlich, dass die BewohnerInnen „ […] sich nicht dem Nützlichen und Zweckrationalen verschrieben haben, sondern gern dazu bereit sind, das aus der ›harten‹ Erwerbsarbeit Ausgegrenzte, das Dilettantische, […], das nostalgische Sehnen, das Sentimentale in ihren Alltag zu integrieren“[24]. Abweichende Muster nehmen im Stilmix[25] und in der Umdeutung der Funktionen einzelner Möbelstücke[26] Gestalt an. „Das kulturell Andere“ bekommt im eigenen Zuhause in Gestalt von bunten Plastikfiguren[27] eine neue Bedeutung. Das „Andere“ wird als Form individueller „Originalität“ und „einer Unverwechselbarkeit des Ichs“[28] ins Bild gesetzt. Die BewohnerInnen präsentierten sich als Kreativsubjekte: Als Menschen mit innovativen Ideen, die selbst in ihrem privaten Alltag Überraschendes kreieren. Konsumobjekte werden zu „Träger[n] von Lebensstilen“[29].

Und was macht jetzt den Unterschied zwischen bürgerlichen Subjekten wie Fahnenberg und Kreativsubjekten wie van Exel? Der Philosoph Gilles Deleuze beschrieb 1990 den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft. Erstere wurde von Michel Foucault für das 18. und 19. Jahrhundert in Europa beschrieben. Christoph Menke nimmt knapp zwanzig Jahre später die Kategorie des „Geschmacks“ zur Beschreibung der Subjekte dieser beiden Gesellschaftsformen hinzu. Somit untersucht Menke die von Deleuze beschriebene Entwicklung im Bereich der Ästhetik. Er formuliert die Ausbildung eines „bürgerlich-autonomen“[30] Geschmacks für die Disziplinargesellschaft. Den „konsumistisch-postmodernen“[31] Geschmack beschreibt er für die Kontrollgesellschaft.

Wendet man nun, um der Frage wie antibürgerlich Kreativität heute überhaupt noch ist, weiter nachzugehen, Menkes Kategorien auf van Exel und Fahnenberg – als Mustersubjekte ihrer jeweiligen Zeit – an, so ergäbe sich Folgendes: Die in Zimmerbildern gezeigten Wohnungen würden von Subjekten des bürgerlich-autonomen Geschmacks bewohnt werden. Die in Interieurfotografien auf Blogs von Subjekten des konsumistischen Geschmacks.

Zu bürgerlichen Zeiten vom 18. bis ins 20. Jahrhundert sei Geschmack ein Privileg gewesen, schreibt Menke. Heute habe er sich „radikal veralltäglicht“[32]. Er betreffe nun das ganze Leben. Der Geschmack habe eine Wendung hin zum Kreativen und Adaptiven genommen. Erfindungen und technische Neuerungen auf dem Markt forderten die Kreativität des Subjekts: Es müsse sich zu dem machen, welches „der Gegenwart dieses Geräts gewachsen ist“[33]. Wie zum Beispiel beim Wechsel vom normalen Mobiltelefon zum Smartphone: Bevor man es nicht hat, kann man sich nicht vorstellen, dass man es auch wirklich braucht. Somit komme es in Zeiten des konsumistischen Geschmacks zu einer Kreativitätssteigerung. Die Kriterien für ein Geschmacksurteil versuche der konsumistische Geschmack nicht – wie der bürgerlich-autonome – in der spezifischen Sache selbst zu finden. Sondern er suche diese Kriterien im jeweiligen Lebensstil, in den die Sache hineinpassen solle.[34] Man denke an dieser Stelle zurück an die Bedeutung, welche die Funktion von Möbelstücken jeweils für Fahnenberg zu Zeiten des Zimmerbildes und welche sie für van Exel zu Zeiten von Blogs hat: Fahnenberg nutzt seine Möbelstücke in ihrer jeweiligen Funktion. Der Sekretär dient ihm zum Schreiben. Die Darstellung dessen verweist im Zimmerbild auf Fahnenbergs Bildung. Van Exel hingegen deutet, ausgehend von einem kreativen Lebensstil, Funktionen seiner Möbelstücke um: Er nutzt einen Pflasterstein von der Straße als Weinregal und stellt einen antiken Holzschrank mit Büchern in die Küche.

Und was lässt sich über die Gesellschaftsformen, in denen Kreativsubjekte (mit konsumistischem Geschmack) oder solche mit bürgerlich-autonomem Geschmack leben, sagen? Deleuzes Beschreibungen zur Kontrollgesellschaft können hier – in Abgrenzung zur Disziplinargesellschaft aus Zeiten des Zimmerbilds – Aufschluss geben. Unter den Einschließungsmilieus der Disziplinargesellschaft versteht Foucault Institutionen wie Familie, Schule, Kaserne, Fabrik, Klinik und Gefängnis. Diese befinden sich laut Deleuze zur Zeit der Kontrollgesellschaft in einer Krise. In Foucaults Modell der Disziplinargesellschaften tritt der Mensch stets von einem geschlossenen Milieu in das nächste ein: Auf die Zeit zuhause bei der Familie folgt die Schule, die Fabrik, möglicherweise die Armee, das Krankenhaus oder auch das Gefängnis. Die Milieus funktionieren jeweils als Lebensabschnitte unabhängig voneinander.[35] Wenn man eine Zeit in einem Milieu durchlaufen habe, müsse man in dem darauffolgenden wieder „bei Null anfangen“[36]. Deleuze stellt die Mechanismen der Disziplinargesellschaften denen der Kontrollgesellschaften gegenüber. Es ergibt sich das Bild von zwei völlig unterschiedlich funktionierenden Ordnungsstrukturen: Während die Disziplinar-Milieus unabhängig voneinander funktionieren, hängen die Kontrollmechanismen zusammen. So beschreibt Deleuze die Einschließungsmilieus der Disziplinargesellschaft als „unterschiedliche Formen, Gußformen“[37]. Diese sind in sich starr.[38] Die Kontrolle dagegen ist eine einzige „Modulation“[39]. Sie funktioniert als eine „sich selbst verformende[…] Gußform“[40], verändert sich ständig und unerwartet.

Dazu passt die Medienbeschaffenheit beider Typen von Wohnraumbildern: Das Bemalen des Aquarellpapiers nimmt einige Zeit in Anspruch. Es gilt nach der Fertigstellung als Abbild über einen längeren Zeitraum. Während das Zimmerbild zu Zeiten der Disziplinargesellschaft medial bedingt Kontinuität verspricht, zeugt die Interieurfotografie der Kontrollgesellschaft von Veränderung. Blogs erfordern regelmäßige Aktualisierung. Die Zimmerbilder zeugen demzufolge von einer Gesellschaftsform, in der man eher in getrennten und vorgegebenen Lebensabschnitten denkt. Die Interieurfotografien visualisieren dagegen die Gesellschaft der Kontrolle, innerhalb derer das einzelne Subjekt in seinem Lebensstil anpassungsfähig ist. Der Fokus liegt auf dem Subjekt, statt auf dem Einschließungsmilieu (sprich Lebensabschnitt). Da ein einzelner Lebensabschnitt aber niemals abgeschlossen ist, tritt das Kreativsubjekt als einzige Konstante hervor. In ihm treffen sich die niemals völlig abgeschlossenen Lebensabschnitte in Form von unterschiedlichen, parallel existierenden Lebens- und Wohnstilen.

Wie Deleuze schreibt, kann das Unternehmen in der Kontrollgesellschaft als „Gas“[41] beschrieben werden. Es greift in alle Lebensbereiche ein und beeinflusst das Wesen des Menschen – bis in das private Heim hinein.[42] Das Zuhause zu Zeiten der Interieurfotografie ist das Vorzeigefeld des Geschmacks und der eigenen Fähigkeit, kreativ zu sein. Das Subjekt mit konsumistischem Geschmack integriert somit Innovationen in sein Leben und zeigt sich als produktive Arbeitskraft. Das Zuhause wird zum Ort der privaten Präsentation von Kompetenzen.

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Dadurch entstehen paradoxe Anforderungen an das Subjekt mit konsumistischem Geschmack: Es wird von ihm erwartet, kreativ zu sein und sich selbst zu verwirklichen. Doch Kreativität ist ein freiheitlicher Akt, bei dem „der Geist weht, wo er will.“[43] Der Druck der Erwartung hemmt hingegen jeden freien Gedanken. Auch Selbstverwirklichung wird in Zusammenhang mit einer Forderung (Sei du selbst! ) paradox. Axel Honneth fasst diesen Widerspruch als „organisierte Selbstverwirklichung“[44] zusammen. So sei der Anspruch auf Selbstverwirklichung zu einer „Produktivkraft“[45] innerhalb des Marktes geworden.[46]

Die medial propagierten Lebensentwürfe sind leicht selbst umzusetzen: Der Kauf der Produkte und Möbel genügt. Meist werden die Hersteller direkt unter den Fotos verlinkt. Die Wohnraumbilder entpuppen sich vor diesem Hintergrund als Teil eines Systems, in dem die Forderung nach Kreativität institutionalisiert ist. Der bunte Lebensstil ist nicht mehr rebellisch und antibürgerlich, sondern Mainstream. So verlockend sie auch klingt – die Suche nach der einzigartigen Persönlichkeit. Inwiefern diese Suche heute noch etwas mit Freiheit und Selbstbestimmung zu tun hat, ist fraglich.

 

Anmerkungen

[1] Beate Söntgen, „Interieur und Zimmerbild. Zur bürgerlichen Darstellungskultur“, S. 25.

[2] Vgl. ebd., S. 28.

[3] Vgl. ebd., S. 28.

[4] Ebd., S. 29.

[5] Vgl. Christiane Lukatis, „Zimmerbilder. Entwicklung und Charakter eines Genres“, S. 24.

[6] Vgl. ebd., S. 25.

[7] Der Aufsatz trägt den Titel „Kreativ Wohnen. Von der Vorbildfunktion der Interieurfotografie“ und ist erschienen in: Zeitschrift für Fotogeschichte, Sommer 2014, Architektur und Fotografie, S. 15-24.

[8] Annette Tietenberg, „Kreativ Wohnen. Von der Vorbildfunktion der Interieurfotografie“, S. 21.

[9] Vgl. ebd.

[10] Annette Tietenberg, „Kreativ Wohnen. Von der Vorbildfunktion der Interieurfotografie“, S. 23.

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Vgl. ebd.

[15] Vgl. ebd.

[16] Ebd., S. 22.

[17] Ebd.

[18] Vgl. ebd., S. 15.

[19] Ebd., S. 23.

[20] Vgl. ebd.

[21] Andreas Reckwitz, „Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse: Der Beitrag des Kunstfelds zur Genese des Kreativsubjekts“, S. 110.

[22] Vgl. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, S. 51.

[23] Ders., Unscharfe Grenzen, S. 237.

[24] Annette Tietenberg, „Kreativ Wohnen. Von der Vorbildfunktion der Interieurfotografie“, S. 23.

[25] Axel van Exel kombiniert Möbel aus den 50er Jahren mit antiken und modernen Einrichtungsgegenständen.

[26] Axel van Exel benutzt Pflastersteine von der Straße als Weinregal (vgl. Abb. 1).

[27] Vgl. Fünfte Abbildung von oben.

[28] Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, S. 12.

[29] Ebd. S. 37.

[30] Christoph Menke, „Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum.“, S. 236.

[31] Ebd.

[32] Ebd., S. 232.

[33] Ebd., S. 262.

[34] Vgl. ebd., S. 232.

[35] Vgl. Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, S. 256.

[36] Ebd.

[37] Ebd.

[38] Vgl. ebd.

[39] Ebd.

[40] Ebd.

[41] Ebd.

[42] Vgl. ebd., S. 257.

[43] Ulrich Bröckling, „Über Kreativität. Ein Brainstorming.“, S. 89.

[44] Axel Honneth, „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“, S. 63.

[45] Ebd., S. 73.

[46] Vgl. ebd.